Theater der Zeit

Auftritt

Burgtheater Wien: Ein Geschenk an die Welt, das niemand haben wollte

„Toto oder Vielen Dank für das Leben“ von Sibylle Berg nach dem Roman „Vielen Dank für das Leben“ – Regie und Bühne Ersan Montag, Kostüme Teresa Vergho, Komposition und Musikalische Leitung Beni Brachtel

von Michael Hametner

Assoziationen: Österreich Theaterkritiken Sibylle Berg Ersan Mondtag Burgtheater Wien

In der Mitte: Maria Happel umgeben vom Ensemble von „Toto oder Vielen Dank für das Leben“ in der Regie von Ersan Mondtag am Burgtheater Wien. Foto Tommy Hetzel
In der Mitte: Maria Happel umgeben vom Ensemble von „Toto oder Vielen Dank für das Leben“ in der Regie von Ersan Mondtag am Burgtheater WienFoto: Tommy Hetzel

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Offensichtlich, weil die Romanautorin auch die Autorin der Bühnenfassung ist, verlässt Regisseur Ersan Mondtag den Roman kaum. Dieses sehr redliche Verfahren wird der literarischen und gedanklichen Qualität des Buches gerecht, die ihm die Literaturkritik bei Erscheinen 2012 bestätigt hatte. Die fast dreistündige Theateraufführung vollzieht den Leidensweg Totos nach, der wegen Intersexualität zum Außenseiter gemacht und schließlich sogar – durch das Einpflanzen eines radioaktiven Präparats – getötet wird. Diese Grundlinie des Romans bringt Ersan Mondtag in einer sinnlich-poetischen Übersetzung auf die Bühne.

Sie beginnt damit, dass sich eine Figur – einem Teletubby nicht unähnlich, die Ende der 90er Jahre den Bildschirm bevölkerten – vorsichtig durch den Bühnenvorhang schiebt, das Saallicht ist noch nicht erloschen, arglos ins Parkett schaut und mit zarter Stimme zu singen anfängt: „Niemand, der wohl um mich weinte“. In der ersten Loge ganz rechts beginnt ein Mann zu lachen, erst nur ein wenig, aber das Lachen steigert sich, als wär’s nicht mehr zu halten. Danach erst öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf eine Bühne, die in ganzer Breite ein Gebäude einnimmt, zweigeschossig, stark abgenutzt, mit Leuchtschrift: Klinik. Hier wird Toto geboren, als Baby mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen.

Für die Uraufführung der Theaterfassung hat sich ein Paar gefunden, das ideal zueinander passt: Sibylle Berg, die 1962 in Weimar in die damals schon in manchem morbide DDR hineingeboren wurde, zur Meisterin des literarischen Sarkasmus aufstieg, und Ersan Mondtag, der als Regisseur und Bühnenbildner selten zu klassischer Theaterliteratur greift, sondern Texte performt und dazu auf einen Mix an Mitteln verwendet. Gerade zu erleben auf der Biennale in Venedig, wo er zweimal am Tag den deutschen Pavillon bespielt.

Frau Berg – so spricht sie sich selbst in Texten an – arbeitet als Schriftstellerin gegen die Verkrustungen der – ausdrücklich intendiert – kapitalistischen Gesellschaft. Obschon für die Übersetzung ihres Romans ins Theatralische zuständig, ist Ersan Mondtags Weltverständnis kaum ein anderes. Die bei öffentlichen Auftritten exaltiert scheinende Gestik von Frau Berg scheint nur ihren messianischen Geist zu verdecken, mit dem sie seit diesem Jahr mit Martin Sonneborn für DIE PARTEI im Europaparlament Sitz und Stimme hat.

Der Kern ihres Romans ist auch der Kern der Inszenierung: Toto ist ein Geschenk an die Welt, das keiner haben wollte. Dies nicht nur gehört, gedacht, verstanden zu haben, sondern gesehen und erlebt, macht den Wert des Abends aus. Er ist Resultat vieler bemerkenswerter Leistungen, aber vor allem von Maria Happel in der Titelrolle. So schwer Totos Weg ans Kreuz im Roman auszuhalten ist, als Figur auf der Bühne bestechen ihre Arglosigkeit, ihr offener Blick, ihre zarte Stimme. Ein Mensch zum Liebhaben (deshalb die Assoziation zu den Teletubbies). Teresa Vergho, die die Kostüme geschaffen hat, steckt ihn (wie auch die anderen Figuren) in einen wattierten Stoff, mit dem sie wie eine Puppe erscheint: alles glatt, alles rund, alles rosa.

Maria Happel spielt nicht das Opfer, obwohl wir fast drei Stunden dem Vorgang beiwohnen, wie ein unschuldiger Mensch wegen seiner fluiden Sexualität zum Außenseiter gemacht wird. Maria Happel verteidigt Totos grenzenlose Menschenliebe mit allen Fasern ihrer Darstellungskunst. In der Bühnenfassung spricht Toto nicht, sondern drückt ihre Emotionen durch Singen aus. Das ist bereits im Roman angelegt, wenn Toto mit einer vier Oktaven umfassenden Stimme als Barsängerin ihren Unterhalt verdient. Die Inszenierung transportiert sich über Musik des jungen Komponisten Beni Brachtel, mit dem Mondtag schon beim Venedig-Projekt zusammengearbeitet hat. Brachtel hat 200 Seiten Partitur für 24 Lieder geschrieben. Sie untermalen nicht lediglich die Szenen, sondern erzählen Totos Leidensgeschichte. Die Lieder changieren zwischen Chanson und Kunstlied und folgen Totos Weg der emotionalen Emanzipation. Der Anspruch des Komponisten auf das Eigene seiner Musik schafft es, das Gefühl der Kälte poetisch aufzufangen. Die Musik gibt der Inszenierung ihre Emotionalität. Dennoch ist sie nicht unproblematisch. Die Lieder wollen eine Verlangsamung des Geschehens auf der Bühne, was das Spieltempo ausbremst. Bei chorischen Interpretationen lässt zuweilen die Artikulation des Textes zu wünschen übrig. Und: Die Kompositionen eines auch im sinfonischen Bereich Hochbegabten schaffen mit ihrem Anspruch gelegentlich den Eindruck der „Verkunstung“. Da ist es gut, dass Maria Happel die höchst anspruchsvollen musikalischen Figuren bravourös schafft.

Dass an der Wirkung der Inszenierung außer den Musiker:innen alle zehn Darsteller:innen großen Anteil haben, sei hervorgehoben. Im Roman besitzt Toto eine Gegenfigur: Kasimir. Er ist der Junge aus dem Waisenhaus in der DDR, der sich zu Toto ins Bett legt, er entdeckt sie später im Westen als Sängerin. Bruno Cathomas zeigt in seinem intensiven Schlussmonolog die Zerrissenheit der Figur. Er war es, der zu Beginn des Spiels Toto mit Hohn und Spott überzogen hat und am Ende ihren Tod verlangt, weil die Güte und Schönheit ihres Handelns ihn verletzen, und er will gleichzeitig diesen Tod nicht, weil er Toto bis zum letzten Tag liebt.

Totos Tod hebt die Sprachlosigkeit der Figur auf. Sie wechselt in die epische Sprache des Romans und verteidigt sich als einen glücklichen Menschen, der nicht wissen konnte, wie es gewesen wäre, hätte sie von einem geliebt werden können. Aber Kasimir erschießt sich gerade. Ein großes Debüt von Ersan Mondtag am Burgtheater. Kein Debüt, aber ein ebenso großer Erfolg von Frau Berg an diesem Ort, an dem sie, der Regisseur und das ganze Team gefeiert wurden. 

Erschienen am 28.10.2024

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