Theater der Zeit

Produktive Irritationen

Das Figurentheater-Festival und die Erlanger Theaterwissenschaft

von Matthias Warstat

Erschienen in: Offen! Das internationale figuren.theater.festival – Erlangen Nürnberg Fürth Schwabach (05/2025)

Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Wissenschaft

Protestaktion im Erlanger Rathaus gegen die geplante Streichung des Festivals. 2010
Protestaktion im Erlanger Rathaus gegen die geplante Streichung des Festivals. 2010Foto: Volker Holzmann

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Im Jahr 2010 geriet die Philosophische Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg in die Verlegenheit, höchst offiziell erklären zu müssen, warum das Internationale Figurentheater-Festival (auch) für das universitäre Leben in Erlangen von größter Bedeutung ist. Das eigentlich Selbstverständliche musste in Worte gefasst werden: Ein Festival der Künste ist fruchtbarer Boden für die wissenschaftliche Beschäftigung mit den Künsten – auch und gerade an der Universität. Hintergrund war eine Entscheidung des Kulturausschusses der Stadt Erlangen, dem Stadtrat die Einstellung der Förderung des Figurentheater-Festivals zu empfehlen. Die von der Ausschussmehrheit von CDU und FDP befürwortete Empfehlung sah in der Streichung der Fördermittel eine sinnvolle Sparmaßnahme in einer – für Erlanger Verhältnisse – einigermaßen angespannten Haushaltslage. Die damalige Dekanin der Philosophischen Fakultät, die Kunsthistorikerin Heidrun Stein-Kecks, begründete den Protest der Universität in einem Schreiben vom 3. Februar 2020 an Oberbürgermeister und Stadtrat wie folgt: „Die Wissenschaftler und Studierenden der Philosophischen Fakultät sind auf einen engen Kontakt zu innovativer Kunst dringend angewiesen, wenn ihre Studien- und Forschungsanstrengungen mit der ästhetischen, künstlerischen und technischen Entwicklung Schritt halten sollen.“ Der Brief wurde von den damaligen Lehrstuhlinhabern der Fächer Pädagogik und Theaterwissenschaft mitunterzeichnet. Freilich hätten diese aus ihrer jeweiligen Fachperspektive die Bedeutung des Festivals noch spezifischer begründen können: Wie hätte eine solche spezifisch theaterwissenschaftliche Begründung für das Festival gestaltet werden können?

Eine Möglichkeit hätte darin bestanden, den Begriff „Figurentheater“ genauer zu beleuchten. Für die Theaterwissenschaft ist dieser unscheinbare Begriff von einiger Bedeutung. Denn in der Einführungsphase eines theaterwissenschaftlichen Studiums, in den Grundkursen des ersten und zweiten Semesters, müssen sich die Studierenden mit der Frage beschäftigen, was man sich unter „Figuration“ eigentlich vorzustellen hat. Abstrakt lässt sich das scheinbar leicht und eingängig erklären: Figuren sind das, was Schauspieler:innen auf der Bühne hervorbringen und was von Zuschauer:innen in dessen Rezeption wahrgenommen wird. Für die auf der Probe erarbeitete Figur muss allerdings vieles hinzuerfunden werden, was im Stück beziehungsweise im Rollentext nirgends steht. Diesen komplexen Vorgang der Erschaffung einer Figur (auf den Proben, in der Aufführung) nennen wir in der Theaterwissenschaft „Figuration“.

Um den Studierenden die Probleme und Herausforderung von Figuration nahezubringen, bieten sich zunächst die vielfältigen Inszenierungen eines Stadttheaters an. Dementsprechend war 2010 das Theater Erlangen1 ein zentraler Kooperationspartner der Erlanger Theaterwissenschaft – und ist es noch heute. Mit relativ geringen Ressourcen und einem der zahlenmäßig kleinsten Ensembles in der deutschen Stadttheaterlandschaft wurde und wird hier von Spielzeit zu Spielzeit ein vielfältiges Programm gestaltet, das auf die verschiedenen Bedürfnisse der Erlanger Stadtgesellschaft einzugehen versucht. Auf engem Raum gibt es am Theater Erlangen sämtliche Gewerke, die an der Erschaffung dramatischer Figuren beteiligt sind: Denn den Prozess der Figuration haben nicht allein die Schauspieler:innen in der Hand, sondern auch Kostümbild, Schneiderei, Requisite, Beleuchtung und natürlich die Maskenbildnerei wirken daran entscheidend mit.

Wird unter einer Figur dasjenige verstanden, was Schauspieler:innen auf der Bühne aus einem Rollentext entwickeln, dann kann man sich irritiert fragen, warum das ­Figurentheater-Festival die „Figur“ in seinem Namen trägt: Denn auf dem Figurentheater-Festival werden Inszenierungen gezeigt, in deren Mittelpunkt in der Regel gerade keine Schauspieler:innen stehen, die eine Figur hervorbringen. Gerade diese Irritation ist für die Theaterwissenschaft das besonders Wertvolle des Figurentheater-Festivals. Dies soll im Folgenden erläutert werden: 1.) Welche besondere Art von Figuration ist auf dem Figurentheater-Festival zu erleben? 2.) Welches Verständnis von „Figur“ kommt darin zum Ausdruck?

Vielfalt der Figurationen

Vielleicht wären die Kurator:innen des Figurentheater-Festivals einverstanden mit der Feststellung, dass dieses Festival programmatisch eine große Bandbreite von Prozessen der Figuration zeigt, die ihren gemeinsamen Nenner darin haben, dass sie nicht von Schauspieler:innen ausgehen. Die Vorstellung, dass in erster Linie oder gar ausschließlich Schauspieler:innen diejenigen sind, die im Theater Figuren entstehen lassen, zeugt von einem kulturell wie historisch zu eng gefassten Verständnis von Theater. Denn die Produktionsformel „Schauspieler spielt eine Rolle und erzeugt dabei eine Figur“ ist uneingeschränkt gültig nur für eine bestimmte Phase der europäischen Theatergeschichte. Für viele andere Theaterkulturen gilt sie nicht, denn dort entstehen entweder keine Figuren – oder die Figurenbildung hängt wesentlich an Puppen, Objekten, Dingen etc., die nicht als Schauspieler:innen bezeichnet werden können. Dies ist das Besondere am Figurentheater-Festival: Speziell ist keineswegs, dass in den Inszenierungen Figuren entstehen, sondern das Spezifische liegt in der Art der Entstehung dieser Figuren mithilfe von Puppen, Objekten, Dingen, Medien und Maschinen. Das „Figu“ ist mitnichten ein Puppentheaterfestival, vielmehr ließe sich an der Geschichte dieses Festivals zeigen, wie sich die Figuration über die Jahre mehr und mehr von Puppen zu weniger anthropomorphen Objekten verschoben hat. Heute sind es gerade audiovisuelle Medien und maschinelle Objekte, deren vielfältige Aktivitäten in den Inszenierungen des Figurentheater-Festivals zu bewundern sind.

Dies erklärt auch das Interesse der Erlanger Theaterwissenschaft an diesem Festival. Die Erlanger Theaterwissenschaft ist eine Theater- und Medienwissenschaft. Als im Jahr 2010 das Protestschreiben gegen die drohende Einsparung des Erlanger Beitrags zum Figurentheater-Festival formuliert wurde, basierte das Lehr- und Forschungskonzept der Erlanger Theaterwissenschaft maßgeblich auf einer Konzeption des früheren Lehrstuhlinhabers Henri Schoenmakers, der eine enge Verflechtung von Theater- und Medienwissenschaft angestrebt hatte. An den Inszenierungen des Figurentheater-Festivals konnte man exemplarisch erkennen, wie im beginnenden 21. Jahrhundert audiovisuelle Medien nicht nur längst Einzug ins Theater gehalten hatten, sondern die Darstellungsweisen und Figurationsprinzipien in bestimmten Theaterformen sogar dominierten. Ebensolche multimedialen Formen standen im Zentrum des Festivals: Man sah Produktionen, in denen audiovisuelle Medien oder maschinelle Objekte über weite Strecken die Figuration übernommen hatten. Diese Inszenierungen waren für die Theater- und die Medienwissenschaftler des ITM ein wunderbarer Anlass, über konkrete Gegenstände produktiv miteinander ins Gespräch zu kommen. Nach den Aufführungen saß man oft noch lange zusammen im Foyer des Theaters, in der Garage oder im institutseigenen Experimentiertheater, um in kleinen Zirkeln wie auch in größeren Publikumsgesprächen mit Erlanger Bürger:innen Eindrücke auszutauschen. Bodo Birk, Festivalleiter und selbst Absolvent der Erlanger Theater- und Medienwissenschaft, schaffte es mit seiner ansteckenden, für alle Richtungen des Performativen aufgeschlossenen Liebe zum Theater immer wieder, alle Mitglieder dieses Instituts für das Programm zu begeistern und für Moderationsaufgaben etc. einzuspannen.

Form und Beschreibung

Und die Studierenden? Für sie war und ist das Figurentheater-Festival immer wieder eine Quelle produktiver Irritationen. Schon deshalb hatte die Dekanin Heidrun Stein-Kecks in ihrem Brief an Oberbürgermeister und Stadtrat vom 3. Februar 2010 vollkommen recht: Für Erlangen hätte ein Ausstieg aus dem Figurentheater-Festival einen „enormen Verlust“ bedeutet. Denn in einer Stadt, in der das Theaterleben wesentlich von einem Stadttheater geprägt wird, ist ein Festival dann von unschätzbarem Wert, wenn es Ausblicke auf ganz andere, weniger anthropomorphe, weniger schauspielzentrierte Formen der Figuration bietet. Ebendiese Vielfalt von anderen, medialen, maschinellen, objekthaften Formen bot und bietet das Figurentheater-Festival. Einerseits sind solche an Puppen, Marionetten, Masken und andere Objekte gebundenen Theaterformen uralt – in Europa ­können sie mindestens bis in die Antike zurückverfolgt werden. Andererseits ist es gerade ein Postulat jüngerer Theaterdiskurse der letzten Jahre, dass das Theater weniger anthropozentrische, das heißt objekthafte, dingliche Darstellungsweisen integrieren müsse. In dieser Hinsicht hat das Figurentheater-Festival, als es im Jahr 1979 gegründet wurde, zweifellos eine Vorreiterrolle gespielt. Wie erklärt man die Erfahrung, dass eine Puppe plötzlich lebendiger wirkt als der Darsteller, der sie führt? Wie lässt sich der Moment genauer fassen, in dem ein Klumpen Ton einfach aufgrund einer sich verändernden Beleuchtung zum Hauptakteur einer Szene wird? Wie beschreibt man die intensiven Gefühle, die man als Zuschauer:in zu einem Kleiderständer oder einem Marmeladenglas entwickeln kann, wenn sie sich zeigen und uns auf der Bühne begegnen? Ist die Konfrontation mit einem Schauspieler, dessen Gesicht auf einem Monitor erscheint, der auf der Bühne steht, wirklich etwas völlig anderes als die Begegnung mit einem Schauspieler, der selbst auf der Bühne steht? Mit solchen Fragen mussten sich die Studierenden herumschlagen, die Erinnerungsprotokolle zu Aufführungen des Figurentheater-Festivals schrieben – und das sind nicht selten Fragen, die an einer noch so guten Stadttheaterinszenierung nicht gleichermaßen herausfordernd erörtert werden können.

Es entstanden also vielfältige Aufführungsanalysen und Inszenierungsbeschreibungen, in denen Figuration in ihrer ganzen Breite greifbar wurde. Hält man solche Beschreibungen nebeneinander, dann verändert sich auch die Lesart des nur scheinbar auf menschenähnliche Objekte beschränkten Begriffs „Figur“. Ein Blick auf die Etymologie liefert ebenfalls Hinweise, die einen weit gefassten Figurenbegriff stützen. Denn das lateinische figura eröffnet ein breites Bedeutungsspektrum: Gestalt, Aussehen, Gebilde, Bild, Schatten, Erscheinung, Redefigur, Wendung, Idee – um nur die wichtigsten Varianten zu nennen. Der Gestaltbegriff ist wohl geeignet, annähernd die gesamte Bandbreite der Bedeutungen zu umfassen. Figuration ist, so multimedial wie der Begriff auf dem Festival verstanden wird, vielleicht am treffendsten mit „Gestaltung“ zu übersetzen. Die Gestaltungsmöglichkeiten des Theaters werden in vielfältigen Variationen vorgeführt, ohne dabei einseitig auf Traditionen des Schauspieltheaters zu setzen: Etwas nimmt Form an, erhält Kontur. In der Aufführungsanalyse geht es darum, diese Formwerdung, die sich im Hier und Jetzt zwischen Akteur:innen und Zuschauer:innen ereignet, zu beschreiben. Für ­Studierende, die ein Studium der Theaterwissenschaft aufgenommen haben, ist das anfangs eine enorme Herausforderung (die leider auch später nicht wesentlich einfacher wird).

Dass der zu Beginn erwähnte Protest – unter maßgeblicher Beteiligung von Studierenden – gegen die Abschaffung des Erlanger Festivals positive Wirkung gezeigt hat, ist ein Glück. Denn eine inspirierende Umgebung wie das Figurentheater-Festival schafft erst die Voraussetzung dafür, den Wert solcher Beschreibungsübungen zu erkennen. In einer solchen Umgebung kann man das Zusammenwirken von Praxis und Theorie, wie es für eine Kunstwissenschaft charakteristisch ist, buchstäblich im eigenen Beschreiben erfassen: Indem man beschreibt, wie Figuren aus Objekten, ­Dingen oder Bildern entstehen, wie sie auf neue Weise generiert werden, kann man dem Begriff „Figuration“ neue Bedeutungsdimensionen zuschreiben. Dies ist eine wissenschaftliche Form der Begriffsarbeit, die so nur in den Kunstwissenschaften möglich ist: Der Bedeutungshorizont erweitert sich, weil die künstlerische Praxis, die beschrieben wird, experimentell ausgerichtet ist – wenn es gelingt, das Neue dieses Experiments im Schreiben genauer zu erkunden.


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Der Artikel wurde 2023 verfasst, noch vor der Umbennennung des Theaters, das seit der Spielzeit 2024/25 schauspiel erlangen heißt.

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