Theater der Zeit

Ernst May in der Sowjetunion: Verdrängung und Wiederentdeckung

von Thomas Flierl

Erschienen in: Edition Gegenstand und Raum 4: Linkes Ufer, rechtes Ufer – Ernst May und die Planungsgeschichte von Magnitogorsk (1930 – 1933) (01/2014)

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Die Negierung des Anteils ausländischer Spezialisten an der umfassenden Industrialisierung der Sowjetunion Anfang der 1930er Jahre durch den Stalinismus selbst und die eigentümliche Verdrängung des Themas nach 1945 – in Ost und West – führten dazu, dass die Position und das Wirken Ernst Mays im sowjetischen Städtebau jahrzehntelang schwer fassbar waren. Interessanterweise existieren nur drei Gesamtdarstellungen des Lebenswerks von Ernst May und darin eingebettet seiner sowjetischen Arbeitsperiode in den Jahren 1930 bis 1933: Das sind erstens das unter maßgeblicher Mitwirkung von May selbst entstandene Buch von Justus Buekschmitt Ernst May aus dem Jahre 1963,(1) zweitens der kleine Katalog von Klaus-Jürgen Winkler, Christine Kutschke und Elke Pistorius zur Ausstellung 1986 aus Anlass seines 100. Geburtstages an der Hochschule für Architektur und Bauwesen in Weimar(2) und drittens – 25 Jahre später – der Katalog Ernst May (1886–1970). Neue Städte auf drei Kontinenten zur großen Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main.(3)

Mit diesen Stationen 1963, 1986 und 2011 sind wichtige Etappen der May- Rezeption und der Bewertung seines Engagements in der Sowjetunion markiert. Entlang dieser Wegmarken lassen sich gut die Veränderungen von Quellenlage, Erkenntnisinteressen und Deutungshorizonten studieren.

Zunächst zum Zeitzeugen Ernst May selbst. Indem er mit seiner Familie Weihnachten 1933 Moskau verlassen hatte und zwanzig Jahre in Ostafrika(4) lebte, verlor er, wie er später berichtete, jeden Kontakt mit der Sowjetunion.(5)

Florian Seidel hat 2007 die verschiedenen Bemühungen Mays zur Rückkehr nach Deutschland geschildert(6) und zugleich die geistig-kulturelle Atmosphäre in Westdeutschland angedeutet, in der May sich nicht geringen politischen Bedenken gegenübersah, die aus seiner Rolle in der Weimarer Republik und seiner Tätigkeit in der Sowjetunion herrührten. In der frühen Bundesrepublik Deutschland (ebenso in der DDR) fanden weder eine offensive Auseinandersetzung mit der Tätigkeit deutscher Architekten während der NS-Zeit noch eine sachgerechte Aufarbeitung der Tätigkeit deutscher Spezialisten in der Sowjetunion statt.

 

Erst als May – inzwischen in der Bundesrepublik längst wieder beruflich etabliert, und zwar als Planungschef der Neuen Heimat (1954–1956) und später als freischaff ender Architekt in Hamburg tätig – im Frühjahr 1959 „die Einladung der Hamburger ‚Bewobau‘“ erhielt, sich „einer Gruppe deutscher Wohnungsbaufachleute und Bankiers zu einer vierzehntägigen Besichtigungsreise nach der UdSSR anzuschließen“,(7) und schließlich im September 1959 erstmals wieder nach Russland reiste, begann er sich an seine dreijährige Tätigkeit in der Sowjetunion zu erinnern.

Im Nachlass im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befinden sich handschriliche Aufzeichnungen unter dem Titel „Russland nach 26 Jahren“, off ensichtlich Vorarbeiten für Mays späteren Artikel „Städtebau und Wohnungswesen in der UdSSR nach 30 Jahren“, den die Bauwelt am 18. Januar 1960 veröff entlichte. Der Artikel besteht aus zwei Teilen: der knappen und dichten Schilderung einiger Stationen seines Wirkens in der Sowjetunion und der Beschreibung der Reise 1959 selbst. Verbindende Motive beider Textteile – und damit beider Lebensabschnitte – waren Mays Überzeugung, dass sich seit der Rede von Nikita Chruščev auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 „bezüglich der städtebaulichen Gesamtkonzeption in der UdSSR“ „eine deutlich wahrnehmbare Annäherung an westliche Grundsätze“ zeigte, und seine Hoff nung, dass „wir und unsere sowjetischen Kollegen bald wieder eine gemeinsame architektonische Sprache sprechen werden“. Kein Zweifel, dass es sich dabei um die Grundsätze und die Sprache der modernen Architektur und des modernen Städtebaus im Geiste der Charta von Athen handelte. Nicht nur die Veröffentlichung im Jahre 1960 mag erklären, warum sich der Titel seines Aufsatzes veränderte. An die Stelle der ursprünglichen Bezugnahme auf das enttäuschte Verlassen der Sowjetunion vor 26 Jahren (1933) rückte der Zeitpunkt dreißig Jahre nach seinem erwartungsvollen Eintreff en in Moskau (1930).

Es scheint mir evident, dass erst die Wiederbegegnung mit der Sowjetunion Ernst May ermöglichte, eigene biografi sche Studien anzustellen und sein Leben mit der sowjetischen Periode und dem anschließenden doppelten Bruch 1933 – einerseits mit Nazideutschland und andererseits mit Stalins Sowjetunion – im Zusammenhang zu deuten. Mit seiner Wahrnehmung einer einsetzenden Überwindung des Stalinismus in der Sowjetunion und einer Rückkehr zum modernen Städtebau – verbunden mit der Abkehr vom dekorativen Historismus in der Architektur, der erneuten Hinwendung zur Industrialisierung des Bauwesens sowie der Wiederaufnahme städtebaulicher Konzepte jenseits der radial-konzentrischen kompakten Stadt, zum Beispiel durch die Anlage von Trabantenstädten – und der Annahme einer Annäherung der Industriegesellschaften in Ost und West war auch seine Zeit in der Sowjetunion wieder in eine sinnstiftende Erzählung einzubinden.

Zugleich ist Mays Erinnern selbst zeithistorisch konstruiert und signifikant selektiv.(8) So finden wir im Nachlass in Nürnberg weitere Aufzeichnungen zu seiner Biografie. Dazu gehören insbesondere von May redigierte Vorarbeiten für eine Biografie, mit der May – so die Information von Wolfgang Voigt – den Autor Rolf Italiaander beauftragt hatte. Schließlich findet sich auch ein Vortragsmanuskript mit dem Titel „Aus dem Leben eines Architekten“, das weitgehend dem Duktus des Buches von Buekschmitt entspricht. Es ist erstaunlich, dass diese seit dem Tode Mays 1970 viele Jahrzehnte in Nürnberg zugänglichen Materialien nie vergleichend untersucht wurden. Die Monografie von Justus Buekschmitt ging zwar auf die sowjetische Zeit ein, offenbarte aber weder die tatsächliche Stellung Mays in der Sowjetunion als Leiter der Projektierung und des Baus neuer Städte beim Obersten Volkswirtschaftsrat der UdSSR noch reflektierte sie die von May selbst erlebten politischen Brüche, wie seine Degradierung Anfang 1932 oder seine Grundsatzkritik am Stalinismus 1933.(9)

May war sich gewiss im Klaren darüber – er hatte die Anfänge ja selbst miterlebt –, dass in der Sowjetunion das Erbe des Neuen Bauens jahrzehntelang durch den Stalinismus systematisch verdrängt und verfälscht worden war: durch die 1931/32 einsetzende und ab 1934 verbindliche Ächtung von Konstruktivismus, Neuem Bauen und Funktionalismus selbst, durch die Verfolgung und Ermordung von Kadern der Modernisierung während des Großen Terrors von 1937 bis 1939 und schließlich durch die spätere sowjetische Architekturgeschichtsschreibung. May wusste natürlich, dass die Abkehr vom Neuen Bauen in der Sowjetunion nach 1933 auch mit der Verdammung seiner Person einhergegangen war.(10)

Interessanterweise erwähnte May Italiaander gegenüber die Ermordung seiner wichtigsten und engsten sowjetischen Mitarbeiter und Vorgesetzten, des Chefs der Cekombank Ėmmanuel Luganovskij und des Leiters von Sojuzstandartžilstroj Jakov Šmidt. Hatte er davon auf seiner Reise 1959 erfahren? Noch im Bauwelt- Artikel 1960 begründete er sein Interesse an der Reise in die Sowjetunion mit der Hoffnung, „mit großer Wahrscheinlichkeit wieder mit einigen meiner früheren russischen Mitarbeiter in Berührung“ zu kommen. Allerdings schrieb er dann nicht, wen er traf und wen er nicht mehr treffen konnte.

Im Buch von Buekschmitt fehlt die Passage mit dem Bezug auf das Schicksal von Luganovskij und Šmidt. Aus heutiger Sicht schockiert diese Teilnahmslosigkeit. Konnte May dem Westen seine tatsächliche Funktion in der Sowjetunion nicht off enbaren? Hätte er sich desavouiert, wenn er seine damaligen engsten Vertrauten genannt hätte? Oder wollte er dem Osten die Konfrontation mit den Verbrechen des Stalinismus ersparen?

Ein Indiz für politische Korrektheit gegenüber dem Osten ist auch die Tatsache, dass bei Buekschmitt 1963 gegenüber dem Aufsatz von 1960 an die Stelle der Grundsatzrede von Chruščev zur Abrechnung mit Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU dessen Rede vom 12. April 1958 auf der Allunions-Baukonferenz trat. Dies war baufachlich zweifellos sachgerechter und musste May insbesondere in der praktischen Wiederaufnahme seiner 1932 so brüsk abgelehnten Idee der Satellitenstädte für Moskau befriedigen, nahm aber dem noch im Aufsatz von 1960 attestierten Richtungswechsel die gesellschaftspolitische Brisanz. Schließlich sei erwähnt, dass May – im Unterschied etwa zu seinem früheren Mitarbeiter Walter Schwagenscheidt – auch nach dem Krieg nie die Spur eines selbstkritischen Zweifels an seinen eigenen städtebaulichen Konzepten in der Sowjetunion aufkommen ließ. Der Nachkriegsstädtebau schien ihm seine Position voll zu bestätigen. Es bleibt weiteren Forschungen überlassen, welche Rolle Mays damalige Kontakte in die DDR(11) bei der Vorbereitung der Sowjetunion-Reise 1959 spielten und wen er tatsächlich in der Sowjetunion traf bzw. wiedertreff en konnte.

Mays (selektive) Darstellung der sowjetischen Entwicklungen Anfang der 1960er Jahre nahm zwei Aspekte späterer Jahre vorweg: 1. die Rezeption der sowjetischen Avantgarde, die nach 1968 die kulturelle Wahrnehmung der Sowjetunion durch den Westen stark prägte, und 2. jene politische Haltung gegenüber den Nachkriegsrealitäten, die später zur Entspannungspolitik führte – um den Preis manch blinden Fleckes. Festzuhalten ist, dass May nicht nur mehr wusste, als er preiszugeben bereit war, sondern dass May/Buekschmitt wichtige Passagen aus Mays eigenen biografischen Notizen für die Veröffentlichung tilgten. So hatte May keinen geringen Anteil daran, dass seine Rolle im sowjetischen Städtebau für lange Zeit undeutlich blieb.

Die Mehrzahl der kommunistischen Mitarbeiter Mays in der Sowjetunion, wie Hans Schmidt, Mart Stam, Kurt Liebknecht, sowie viele Angehörige der nächsten Generation der Sowjetunion-Emigranten, wie Ule Lammert, Werner Schneidratus, Gerhard Kosel, Benny Heumann, gingen nach 1945 (einige erst Jahre später) in die DDR. Sie waren dort teilweise an maßgeblicher Stelle des DDR-Bauwesens tätig und insofern in die offizielle Geschichtspolitik eingebunden, zu der die weitgehende Tabuisierung der problematischen Erfahrungen im sowjetischen Exil gehörte.

Es muss wohl davon ausgegangen werden, dass es in den Hochzeiten des Kalten Krieges nur noch wenige persönliche Kontakte zwischen den früheren Mitarbeitern Ernst Mays, die nun in der Bundesrepublik bzw. in der DDR arbeiteten, gab. Eine gewisse Vermittlungsrolle kann hier Margarete Schütte-Lihotzky und Hans Schmidt zugeschrieben werden, beide Ausländer mit ungehinderten Reisemöglichkeiten. Sie Österreicherin, die kurze Zeit in der DDR arbeitete, aber bald wieder nach Wien zurückging; er Schweizer, der von 1956 bis zu seiner Berentung 1969 in der DDR lebte und an der Deutschen Bauakademie in Ost-Berlin arbeitete. Jenseits dieser informellen Strukturen dominierte in den 1950er und 60er Jahren das öff entliche Beschweigen der gemeinsamen sowjetischen Vergangenheit in Ost und West.

Eine erste Welle der Aufarbeitung(12) – verbunden mit einer vorsichtigen Annäherung zwischen Ost und West – kann in der Rehabilitierung des Bauhaus-Erbes in der DDR – symbolisch vollzogen mit der denkmalgerechten Rekonstruktion des Bauhauses 1976 –, in den Internationalen Bauhaus-Kolloquien in Weimar und den Veröffentlichungen von Kurt Junghanns, Klaus-Jürgen Winkler (beide Ost) sowie von Christian Borngräber und dem Engagement von Jonas Geist (beide West) sowie in der in den 1970er und 80er Jahren einsetzenden Exilforschung gesehen werden. Diese Aufarbeitung wurde von einer jüngeren Generation getragen. Eine initiative Funktion kam hierbei den seinerzeit eurokommunistischen Vertretern der Venezianer Schule um Aldo Rossi und Marco de Michelis zu, die 1970 die Konferenz „Der Beitrag der europäischen Architekten zur Gestaltung der sozialistischen Stadt 1918–1937“ an der Universität Venedig veranstalteten.(13)

Die damals Ost und West verbindende Formel war die der „Mitarbeit antifaschistischer Architekten am sozialistischen Aufbau während der ersten beiden Fünfjahrpläne“ in der Sowjetunion. So die Überschrift des von Christian Borngräber verfassten Kapitels in dem 1979 gleichzeitig in der DDR und der Bundes republik erschienenen Band Exil in der UdSSR (Reclam Leipzig bzw. Röderberg Frankfurt am Main). Diese Formel stellte May in eine Reihe mit anderen in der Sowjetunion tätigen ausländischen Architekten, insbesondere mit Hannes Meyer. Dieser Kontext gebar auch den Mythos der „Brigade May“, wie in Christian Borngräbers Text mit dem Titel „Ausländische Architekten in der UdSSR: Bruno Taut, die Brigaden Ernst May, Hannes Meyer und Hans Schmidt“ im Katalog zur Ausstellung der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) in West-Berlin Wem gehört die Welt – Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik (1977) suggerierte.(14) Als „Brigade May“ trat diese aber lediglich bei ihrer Teilnahme am Wettbewerb „Groß-Moskau“ 1932 auf. Ernst May war 1931/32 nicht Leiter seiner Brigade, sondern – wenn auch nur kurze Zeit (1931/32) – Chefingenieur bei Standartgorprojekt, der Vereinigung für den Bau von Standardstädten beim Volkskommissariat für Schwerindustrie der UdSSR; ihm unterstanden ca. 800 Mitarbeiter. Wie Fred Forbat in seinen Erinnerungen berichtete, war Hannes Meyer eine Zeit lang Mitarbeiter in Mays Planungsbüro Standartgorproekt, das zu Sojuzstandartžilstroj gehörte. Meyer nahm zu keinem Zeitpunkt eine mit May vergleichbare Position ein. Erst die Aufwertung des kommunistischen Bauhausdirektors Hannes Meyer und seiner „Bauhausbrigade Rot Front“ machte in der DDR und ihrem politischen Umfeld die Wiederentdeckung der Rolle des (früher parteilosen, nach dem Krieg der SPD beigetretenen) Ernst May möglich. Da sowjetische Quellen noch nicht zugänglich waren, blieben Zeitzeugen wie Kurt Liebknecht und Gerhard Kosel die wichtigsten Quellen für die Forscher aus Ost und West.(15)

Vor diesem Hintergrund müssen die Leistung der Ausstellung und des kleinen Kataloges 1986 in Weimar(16) gewürdigt werden, in dem das sozialpolitische Engagement und die Entwicklung des städtebaulichen Denkens von Ernst May erstmals in der DDR umfassend gewürdigt wurden. Die Quellenlage war schwierig, keiner der Autoren war damals in den von May geplanten und gebauten Städten gewesen; Pläne wurden zum Teil nach sowjetischen Veröffentlichungen seitenverkehrt abgebildet; die Archivmaterialien aus Nürnberg besorgte Jonas Geist.(17)

Die Motive dieser Jahre waren kulturell auf die Wiederaneignung des Erbes der Avantgarde-Bewegungen und des Neuen Bauens und politisch auf eine demokratische Erneuerung des Sozialismus gerichtet, zielten auf das Neuknüpfen einer Beziehung von politischer und ästhetischer Moderne. Die Würdigung Ernst Mays in der DDR kann als Teil des (letztlich gescheiterten) Reformprozesses angesehen werden, in dessen Kontext 1987 auch das SPD-SED-Papier(18) veröffentlicht wurde. Parallel begann in den 1970er und 80er Jahren in der Sowjetunion eine erste Auseinandersetzung mit dem Erbe der „Gruppe Ernst Mays“. Erwähnt seien die Arbeiten von Irina V. Kokkinaki ab Mitte der 1970er Jahre, die zumeist als „graue“ Literatur wissenschaftlicher Institutionen veröff entlicht wurden.(19)

Die in Ost und West verteilten früheren Kollegen Mays (Kurt Liebknecht, Gerhard Kosel, Hans Schmidt, Werner Hebebrand, Walter Schwagenscheidt und andere) hinterließen Erinnerungen und Nachlässe, die heute als Quellen für die Forschung erschlossen werden können. Zu ihren Lebzeiten erlebte eigentlich nur die kurz vor ihrem 103. Geburtstag im Jahre 2000 verstorbene Margarete Schütte-Lihotzky gleichermaßen Anerkennung in Ost und West.

Historisch gesehen fi elen das Ende der Sowjetunion und der historische Umbruch in Osteuropa zusammen mit dem im Westen bereits zuvor deklarierten „Ende der Moderne“. Aus dieser modernismuskritischen Perspektive sei nun Ernst May in der Sowjetunion gescheitert, weil er am Projekt der Moderne festgehalten habe, und nicht, weil in der Anfang der 1930er Jahre endgültig einsetzenden „Epoche Stalins“ die forcierte Industrialisierung mit der mörderischen Liquidation aller realen und virtuellen Konkurrenten innerhalb und außerhalb der Partei sowie mit einer rigorosen traditionalen Ästhetisierung der Politik – insbesondere in Städtebau und Architektur – verbunden und so gerade die konstruktive Verbindung von Moderne und Sozialismus verhindert, der Sozialismus selbst ad absurdum geführt wurde.

Während in den 1970er und 80er Jahren Avantgarde-Bewegungen und Neues Bauen Anknüpfungspunkte für eine „progressive“ Rezeption der sowjetischen Architekturgeschichte und des Anteils der internationalen Spezialisten boten, erfuhr nach 1990 – aus der „revisionistischen“ Perspektive einer angerufenen Kontinuität der europäischen Stadt – die stalinistische Wende im Städtebau eine gewisse – aus meiner Sicht durchaus problematische – historische Rehabilitierung als vermeintlich notwendige Korrekturbewegung gegenüber dem Neuen Bauen. Stand die internationale Wiederentdeckung des Neuen Bauens in der Sowjetunion in der 1970er und 80er Jahren unter antistalinistischem Vorzeichen, verdrängte sie zugleich die zeitgenössische Kritik an den Resultaten und Folgen einer „unrefl ektierten Moderne“ für den Nachkriegsstädtebau. In den 1990er Jahren dominierte dagegen der antimodernistische Impuls, wurde zugleich der Blick auf Stalin milder. Anstelle der „Stalinisierung der Architektur“(20) wurde nun der „Städtebau im Schatten Stalins“(21) untersucht. So bezeichnete auch Karl Schlögel in seinem 2008 erschienenen grandiosen Buch Terror und Traum den Generalplan für Moskau von 1935 als „ein Dokument der Mitte zwischen Erhaltung und Weiterbauen, [als] eine Art ‚kritische Rekonstruktion‘ im großen Stil“(22) und nahm so direkt Bezug auf aktuelle stadtentwicklungspolitische Debatten über den Weiterbau der Städte nach dem deklarierten „Ende der Moderne“.

Wie immer in solchen „turns“ der Wissenschaft liegen Gewinn und Verlust dicht beieinander. Der Gewinn besteht zweifellos in der Überwindung eines eindimensionalen, ausschließlich architekturästhetisch fundierten Totalitarismuskonzepts, wie es jahrzehntelang dominierte, und in der gemeinsamen Entwicklung der Fragestellung nach dem konkreten Verhältnis von Städtebau und Diktatur, wie sie derzeit insbesondere von Harald Bodenschatz und Max Welch Guerra unter anderem mit meiner Beteiligung entwickelt werden.

Der Nachvollzug der Selbstdeutung des „Stalin’schen“ Generalplans für Moskau als einzig richtiger Lösung angesichts der vermeintlichen Alternative zwischen „Konservierung der existierenden Stadt“ und „Schaffung einer neuen Stadt außerhalb der jetzt existierenden Stadt“(23) lässt andererseits die Frage nach dem Schicksal der Akteure des Neuen Bauens wie Ernst May und anderer in der Sowjetunion und nach der Substanz ihrer Konzepte für Architektur und Städtebau des 20. Jahrhunderts kaum zu.(24)

Demgegenüber haben die Ausstellung Ernst May 1886–1970. Neue Städte auf drei Kontinenten im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main 2011 und das gleichnamige Begleitbuch(25) neue Erkenntnisse zutage gefördert. Durch umfangreiche Archivstudien, Studienreisen in viele der von Ernst May und Kollegen geplanten und zum Teil umfangreich realisierten Neubaustädte der Industrialisierung sowie die Suche nach seinen in jenen Jahren auf Deutsch und Russisch veröffentlichten Artikeln und Aufsätzen gelang es mir, in meinem Buch Standardstädte. Ernst May in der Sowjetunion 1930–1933 wesentliche Aspekte der Arbeitsbiografie von Ernst May, zentrale von ihm verantwortete Projekte, die institutionellen Strukturen und politischen Kontexte im Prozess der Herausbildung der Stalin’schen Diktatur zu rekonstruieren. Meine Studien in Russland brachten drei interessante Befunde:

1. Die Archivsituation ist weit besser als ihr Ruf. Allein in Moskau lassen sich umfangreiche Bestände zur Tätigkeit von Ernst May in der Sowjetunion ausmachen, die von deutschen Forschern bislang kaum genutzt wurden.

2. In verschiedenen Regionen Russlands wächst das Interesse an der Städtebaugeschichte des ersten Fünfjahrplans und damit am gemeinsamen Wirken sowjetischer und ausländischer Architekten als Teil einer gemeinsamen Geschichte.

3. Im Zusammenhang mit der Erforschung dieser Siedlungen der Moderne entstehen zivilgesellscha liche Initiativen zur kulturellen Aufwertung und denkmalrechtlichen Unterschutzstellung wichtiger Ensembles. Hervorzuheben sind insbesondere die Bemühungen zur Anerkennung des 1. Quartals von Magnitogorsk als „Baudenkmal von föderaler Bedeutung“.(26) Angesichts des geplanten Abrisses der das 1. Quartal städtebaulich zentrierenden Schule von Wilhelm Schütte kommt dieser Initiative allergrößte Bedeutung zu.(27)

Im heutigen Russland sind derzeit zwei verschiedene Forschergemeinden auszumachen:

Einerseits gibt es die eher traditionell kunsthistorisch angelegte Architekturund Städtebaugeschichtsschreibung, die sich insbesondere in den Regionen der Geschichte der sozialistischen Neubaustädte zur Zeit des ersten und zweiten Fünfjahrplans, den „Socgorods“, zuwendet und dabei verstärkt auf das Wirken von Ernst May und Kollegen stößt. Zu nennen sind Jevgenij Blinov(28) in Novo sibirsk, Irina Zacharova in Kemerovo, Olga Orelskaja in Nishnij Novgorod und Galina Ptichnikova in Volgograd. Am Moskauer Architekturmuseum erforscht Igor Kazus’ das institutionelle Gefüge der sowjetischen Planungsorganisationen dieser Zeit.(29)

Andererseits kann man eine Forschergruppe ausmachen, die sich der Aufarbeitung des Stalinismus als politischem System zuwendet und mit Unterstützung der Jelzin-Sti ung sehr verdienstvoll historische Quellen in den russischen Archiven aufspürte und veröffentlichte. Als jüngste Veröffentlichung ist hier das Buch von Mark Meerovič (Irkutsk), Evgenija Konyševa (Cheljabinsk) und Dmitrij Chmel’nickij (Berlin) zu nennen: Der Friedhof der Socgorods. Städtebaupolitik in der UdSSR 1928–1932, Moskau 2011 (russ.).(30)

In ihren Veröffentlichungen identifizierten Chmel’nickij und Meerovič Ernst May als den strategischen Konterpart zu dem US-Amerikaner Albert Kahn, der im Auftrag der Sowjetunion ca. 200 Industrieanlagen projektierte. Der Dualismus und die Konkurrenz von amerikanischer Industriearchitektur und deutschem Wohnungsbau, von amerikanischem und deutschem Städtebau und ihren jeweiligen Planungskulturen, die Konkurrenz der beiden sowjetischen Planungstrusts (Giprogor vom Volkskommissariat für Inneres der RSFSR und Sojuzstandartgorproekt/Sojuzstandartžilstroj vom Volkskommissariat für Schwerindustrie der UdSSR) als Teil der innersowjetischen Machtkämpfe – das sind weiterführende Themen, die nur in internationaler Kooperation bearbeitet werden können.

Es gibt aber aus meiner Sicht auch Differenzen mit den russischen Kollegen. So teile ich nicht die Einschätzung von Dmitrij Chmel’nickij, dass „das praktische Ergebnis“ der Tätigkeit von Ernst May, Hannes Meyer, Bruno Taut und Hans Schmidt „in der UdSSR fast null war. Nur sehr wenige Projekte wurden in die Tat umgesetzt, und das, was umgesetzt wurde, ist eher von historischem als von künstlerischem oder baulichem Interesse.“(31) Bevor ein solches Urteil getroffen werden kann, bedarf es meines Erachtens weiterer empirisch-historischer Forschungen und Archivstudien. Die in kurzer Zeit bereits gelungene Erweiterung des Horizontes lässt auf weitere Entdeckungen hoff en.

Die zweite Differenz betrifft die These, dass die Städtebau- und Wohnungspolitik in der UdSSR von der politischen Führung lediglich als Funktion der Industrialisierung behandelt wurde und die Industrialisierung ausschließlich mit dem Ziel der Schaffung eines eigenen militärisch-industriellen Komplexes betrieben wurde. Die Idee der „Socgorod“ erscheint dann als reine Idee von Ideologen und Funktionären wie Nikolaj Miljutin und Leonid Sabsovič und die westlichen Spezialisten, auch May, lediglich als willige Helfer Stalins. Das scheint mir ein unzulässiger Reduktionismus zu sein, der die zeitgenössischen (internationalen und sowjetischen) Debatten über Lebensweise und Kultur und die tatsächliche innere Dynamik der sowjetischen Gesellscha beim Übergang zur Industrialisierung ignoriert.(32) Es ist Karl Schlögel nur zuzustimmen, der schrieb: „Der ‚Stalinismus‘ nur als Problem totaler Herrschaft aufgefasst, erfasst ihn so wenig wie ein ‚Stalinismus‘ als bloße Sozialgeschichte.“(33) Schlögel hat sich auf eine „situationistische“ Analyse konzentriert: „Es bedarf keines Systems, keiner Logik oder Idee als eines archimedischen Punktes, von dem aus sich alles erklären lässt – die Verwirklichung eines Plans, einer Utopie, die Umsetzung eines Experiments –, sondern lediglich einer Vergegenwärtigung des Spiels der Kräfte vor Ort, das in Wahrheit ein Kräftemessen, ein Kampf auf Leben und Tod ist.“(34) Dabei entwickelt er in enzyklopädisch-geistesgeschichtlicher Perspektive einen Panoramablick auf das Moskau des Jahres 1937.

Dies entspricht dem Trend internationaler Forschung zu diesem Themenkreis mit zunehmend integralem gesellschaftsanalytischen Zugang, mit den Verschränkungen von ökonomischen, politwissenschaftlichen, kultur- und zivilisationsgeschichtlichen Perspektiven. Denken wir nur an Stephen Kotkins epochales Magnetic Mountain. Stalinism as a Zivilisation von 1997.(35) Einen interessanten Zugang fand auch Stefan Plaggenborg mit seinem 2006 erschienenen Buch Experiment Moderne. Der sowjetische Weg. Er unternahm den Versuch, „das bolschewistische Experiment“ selbst „als einen Strang der Moderne“ zu verstehen. Danach war die Sowjetunion „weder amodern noch antimodern, sondern ein Teil der Moderne“. Die „spezifischen Bedingungen der relativen Rückständigkeit Russlands haben womöglich dazu geführt, dass die westliche Moderne in ihrer krassesten Form – ‚theoretisch perfektionistisch, moralisch rigoros und menschlich unerbittlich‘, wie Toulmin schrieb – in Russland sich vollendete“.(36) Wie schon Wolfgang Schivelbusch an den Beispielen des nationalsozialistischen Deutschlands, des faschistischen Italiens und der USA des New Deal zeigte, sind diese Gesellschaften – in gewisser Hinsicht – „entfernte Verwandte“.(37) Die Sowjetunion gehörte auf ihre Weise dazu, sie sollte nicht länger als das völlig Andere, sondern als Variante einer inzwischen selbst historisch gewordenen Moderne begriffen werden, deren Produktions- und Regulationsweise heute allgemein als Fordismus(38) bezeichnet wird.

In Bezug auf May und die anderen Aktivisten des Neuen Bauens bleibt die interessante Frage zu beantworten, ob es überhaupt und wenn ja, welche Chancen es für einen – gegenüber dem sich dann durchsetzenden Stalinismus alternativen – sowjetischen Fordismus gab und welche Rolle May darin als „Wohn-Ford“(39) spielen sollte und ansatzweise spielte.

In der internationalen Baugeschichtsschreibung muss jedenfalls die von den intendierten städtebaulichen Dimensionen her gigantische und in den realisierten Ansätzen bemerkenswerte Phase des Neuen Bauens in der Sowjetunion als solche erst noch aufgearbeitet werden und ihren Platz zwischen der avantgardistischen Phase utopischer Projekte und ikonischer Leitbauten der 1920er Jahre und den hochstalinistischen Projekten der Mittdreißiger und der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg finden. Hierbei hilft uns das nun in deutscher Übersetzung vorliegende Buch von Mark Meerovič (Irkutsk) und Evgenija Konyševa (Cheljabinsk) Linkes Ufer, rechtes Ufer. Ernst May und die Planungsgeschichte von Magnitogorsk (1930–1933) auf vorzügliche Weise. In ihrem Buch zeichnen die beiden Autoren detailliert die Planungsgeschichte von Magnitogorsk unter der Leitung von Ernst May nach und untersuchen den Stellenwert des Wohnungsbaus und das Konzept der sozialistischen Stadt (Socgorod) im Zuge der Industrialisierung. Im Wirken der verschiedenen Akteure des Planungs- und Bauprozesses wird das institutionelle Gefüge des sowjetischen Bauwesens deutlich. Mit der stalinistischen Abkehr der Baupolitik vom Neuen Bauen 1932 scheiterten nicht nur Ernst Mays Pläne für Magnitogorsk – nur ein erster Bauabschnitt und mit Veränderungen ein zweiter wurden realisiert. May verließ die Sowjetunion und galt dort für Jahrzehnte als Unperson.

Vor allem aber zerbrach das strategische Bündnis zwischen der Sowjetunion und der modernen Architektur- und Städtebaubewegung. Das war nicht nur fatal für die Sowjetunion, sondern vor allem auch für das Neue Bauen. Denn nur in der Sowjetunion hätte die Anwendung des Neuen Bauens im großen (städtebaulichen) Maßstab stattfi nden können (wie anfänglich begonnen) und zugleich deren notwendige kritische Weiterentwicklung, hätte der Dualismus von Neubaustädten im Zuge der Neuerrichtung von Industrieanlagen versus der Rekonstruktion bestehender Städte konstruktiv überwunden werden können.

„Das hässliche Erbe der Vergangenheit“, das es laut einer Verabredung von Stalin und Kaganovič im Sommer 1932 zum 15. Jahrestag der Oktoberrevolution im November 1932 zu überwinden galt(40), das war das eigene sowjetische Erbe des ersten Fünfjahrplans, das war das Erbe von Konstruktivismus und Funktionalismus, das war die Praxis der internationalen Zusammenarbeit. Statt aber den wieder aufkommenden Traditionalismus und den Modernismus als zwei der Moderne immanente Strömungen aufzufassen und beide Richtungen (mit ihren vielen Übergangsformen) in eine koevolutionäre Situation, in einen konstruktiven Wettstreit, zu führen, wurde die eine Richtung verteufelt und die andere zum „neuen Stil“ erklärt. Fred Forbat fand für diesen Umbruch die Formel, dass das Neue Bauen die Architektur dem Städtebau untergeordnet habe, während nun der Städtebau der Architektur untergeordnet wurde.(41) Indem die Sowjetunion sich selbst eine Ressource eigener Entwicklung abschnitt, nahm sie auch der internationalen Moderne eine entscheidende Entwicklungsoption. Die internationalen Folgen dieses Vorgangs reichen weit in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und letztlich bis heute. Insofern ist „Magnitogorsk“ nicht nur ein Ort der sowje tischen Industrialisierung, sondern ein Erinnerungsort(42) der internationalen kulturellen Moderne, ein mythischer Ort eines euphorischen Anfangs und eines dramatischen Abbruchs.

Die Übersetzung und die Drucklegung dieses Buches wurden großzügig von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert. Mein besonderer Dank gilt den beiden Übersetzerinnen Elena Vogman und Anastasia Rother sowie Jana Fröbel, mit der ich gemeinsam die Übersetzung lektorierte. In Abstimmung mit den Autoren füge ich als Herausgeber drei bislang unveröffentlichte Texte aus dem Nachlass Ernst Mays an, für deren Abdruckgenehmigung ich dem Vorsitzenden der Ernst- May-Gesellschaft Frankfurt am Main, Eckhard Herrel, herzlich danke.

Der in der ersten Person verfasste Bericht über Ernst Mays erste Reise nach Magnitogorsk vom 26. Oktober bis zum 8. November 1930 stammt off enkundig unmittelbar aus dessen Feder. Der Erläuterungsbericht zum Projekt der Technischen Abteilung der Cekombank wird bereits im Reisebericht bis spätestens zum 25. November angekündigt und entstand unter maßgeblicher Mitwirkung von Mart Stam und Walter Schwagenscheidt. Der in konsequenter Kleinschreibung verfasste Erläuterungsbericht zum Generalplanentwurf für Magnitogorsk vom 6. Dezember 1932 stammt offensichtlich von Fred Forbat, der die Bearbeitung des Generalplans im Frühjahr 1932 von Mart Stam übernommen hatte und im Deutschen stets nur Minuskel benutzte.

Die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe des 2012 im Moskauer Verlag Lenand unter dem Titel Ernst May und die Projektierung sozialistischer Städte in den Jahren des ersten Fünfjahrplans am Beispiel von Magnitogorsk erschienenen Bandes erfolgt im Rahmen einer Vereinbarung zwischen der Hermann-Henselmann-Stiftung in Berlin und dem Wissenschatlichen Forschungsinstitut für Theorie von Architektur und Städtebau der Russischen Akademie für Architektur und Bauwissenschaften (www.niitag.ru) in Moskau. Als Vorsitzender der Hermann-Henselmann-Stiftung danke ich der am NIITAG tätigen Julija Kosenkova für die vertrauensvolle Zusammenarbeit.

In unermüdlicher Zusammenarbeit mit den Autoren, vor allem mit Evgenija Konyševa, wurde die deutsche Fassung ihres Buches abgestimmt und ergänzt. Weitere Kooperationsprojekte sind in Vorbereitung.

Darüber hinaus danke ich dem Kulturwissenschaftlichen Institut der Universität Konstanz für die Möglichkeit der Gastaufenthalte im Herbst 2012 und Herbst 2013; in dieser Zeit wurden unter anderem die Übersetzung dieses Buches redaktionell betreut und die Einleitung verfasst.

 

Thomas Flierl
Berlin/Konstanz, im September 2013

 

 

1 Justus Buekschmitt, Ernst May. Bauten und Planungen, Stuttgart 1963.

2 Klaus-Jürgen Winkler, Christine Kutschke, Elke Pistorius (Hg.), Ernst May 1886–1970. Eine Dokumentation. Begleitheft zur gleichnamigen Ausstellung an der Hochschule für Architektur und Bauwesen Weimar 1986.

3 Claudia Quiring, Wolfgang Voigt, Peter Cachola Schmal, Eckhard Herrel (Hg.), Ernst May (1886–1970). Neue Städte auf drei Kontinenten, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 28. Juli bis 6. November 2011 im Deutschen Architekturmuseum, München/London/New York 2011. Florian Seidel erwähnt noch das 1983 erschienene Buch Ernst May von Gábor Preisich. Da es nur auf Ungarisch erschien, hat das Buch im deutschen Sprachraum kaum Aufmerksamkeit gefunden.

4 Vgl. Eckhard Herrel, Ernst May. Architekt und Stadtplaner in Afrika 1934–1953 (Schriftenreihe des DAM), hg. von Evelyn Hils-Brockhoff und Wolfgang Voigt, Tübingen/Berlin 2001.

5 „So verstrichen 30 Jahre, eine Generation, während deren meine einzige Information bezüglich der UdSSR aus gelegentlichen Zeitungsberichten stammte“ (Ernst May, Vortragsmanuskript 1959, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg).

6 Vgl. Florian Seidel, Ernst May: Städtebau und Architektur in den Jahren 1954–1970, Diss., München 2008.

7 Ernst May, „Städtebau und Wohnungswesen in der UdSSR nach 30 Jahren“, in: Bauwelt, Heft 3/1960 (18. Januar 1960), S. 63–72.

8 Die Bauwelt vermisste 1960 beim „Rußlandkenner“ May „manches kritische Wort“ und konterte in der Randspalte sogleich mit einer Attacke auf Ost-Berlin, das mit Gerhard Kosels Entwurf eines Regierungshochhauses für das Stadtzentrum den Russen meilenweit hinterherhinke.

9 Vgl. Thomas Flierl, „Vielleicht die größte Aufgabe, die je einem Architekten gestellt wurde“, in: Ernst May (1886–1970). Neue Städte auf drei Kontinenten (vgl. Anm. 3), S. 157–194, sowie umfassender Thomas Flierl (Hg.), Standardstädte. Ernst May in der Sowjetunion 1930–1933, Texte und Dokumente, Berlin 2012 (553 S.).

10 Den klassischen Text hierzu veröffentlichte der sowjetische Architekt und frühere Mitarbeiter Ernst Mays A. Mostakov 1937 im Umfeld des 1. Sowjetischen Architektenkongresses, vgl. Мостаков А. «Безобразное ‹наследство› архитектора Э. Мая» [„Das hässliche Erbe des Architekten E. May“], in: Architektura SSSR, Heft 9/1937, S. 60–63.

11 May nahm 1956 auf Einladung des Chefarchitekten der DDR-Hauptstadt Hermann Henselmann am ersten und einzigen deutsch-deutschen Architekturwettbewerb, dem Wettbewerb für das Ost-Berliner Neubaugebiet Fennpfuhl, teil und gewann diesen. Eine Realisierung war aber dann nach dem Hauptstadtwettbewerb der Bundesregierung für ganz Berlin 1958 und nach dem Mauerbau 1961 nicht mehr möglich.

12 Als Pionierleistung sei die Veröffentlichung von Hans Schmidts Beiträgen zur Architektur 1924–1964 durch Bruno Flierl bereits 1965 in Berlin (DDR) erwähnt. Bruno Flierl war Mitarbeiter von Hans Schmidt an der Bauakademie in Ost-Berlin.

13 Hans Schmidt sprach dort zum Thema: „Les rapports entre l’architecture soviètique et des pays occidentaux dans la période de 1918–1932“, vgl. Ursula Suter (Hg.), Hans Schmidt 1893–1972. Architekt in Basel, Moskau, Berlin-Ost. Werkkatalog, Zürich 1993, S. 400. Bruno Flierl berichtet ebenda (S. 80) auch über den Vortrag von Hans Schmidt. 1976 veröffentlichten Marco de Michelis und Ernesto Pasini ihr Buch La città sovietica 1925–1937, Venedig 1976.

14 Christian Borngräber, „Ausländische Architekten in der UdSSR: Bruno Taut, die Brigaden Ernst May, Hannes Meyer und Hans Schmidt“, in: NGBK (Hg.), Wem gehört die Welt – Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik, Berlin (West) 1977, S. 109–137.

15 So zieht sich durch alle Veröffentlichungen dieser Jahre die Mitteilung Liebknechts, May habe die Sowjetunion 1934 verlassen – auch schon fehlerhaft in der Bauwelt, He 3/1960. Auch die starke Fixierung auf den Valutavertrag Mays, nicht ohne neidischen Unterton, geht auf Liebknecht zurück.

16 Vgl. Anm. 2.

17 Auskunft von Elke Pistorius.

18 Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit, Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin (DDR)/Bonn 1987.

19 Коккинаки И.В., «Проектная деятельность группы Эрнста Мая в 1930-е годы в СССР» // Проблемы истории советской архитектуры, Сборник научных трудов № 2, Москва 1976 [I. V. Kokkinaki, „Die Projektierungstätigkeit der Gruppe Ernst May in den 1930er Jahren in der UdSSR“, in: Probleme der Geschichte der sowjetischen Architektur, Sammelband Nr. 2, Moskau 1976, S. 19–24]; «Советско-германские архитектурные связи во второй половине 20-х годов» // Взаимосвязи русского и советского искусства и немецкой художественной культуры [„Sowjetisch-deutsche Architekturbeziehungen in der zweiten Hälfte der 20er Jahre“, in: Wechselwirkungen der russisch-sowjetischen Kunst mit der deutschen künstlerischen Kultur, Moskau 1980, S. 115–133].

20 Vgl. Hugh D. Hudson, Jr., Blueprints and Blood. The Stalinization of Soviet Architecture 1917–1937, New York 1994.

21 Vgl. Harald Bodenschatz, Christiane Post (Hg.), Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929–1935, Berlin 2003.

22 Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937, München 2008, S. 66.

23 Vgl. Генеральный План, Постановление СНК СССР и ЦИК ВКП (Б) [Der Generalplan, Beschluss des Rates der Volkskommissare der UdSSR und des ZK der VKP (B) vom 10. Juli 1935], zit. nach: Schlögel (vgl. Anm. 22), S. 66. Keines der am Moskauer Wettbewerb beteiligten Konzepte wird einer der Charakterisierungen gerecht, die Alternative ist eine konstruierte, um das schließlich beschlossene Konzept als Vermittlung zu legitimieren.

24 Erstaunlicherweise werden auch alle planungsgeschichtlichen Erörterungen des Generalplans von Moskau 1935 völlig losgelöst von den aktuellen Problemen der Stadtentwicklung der Megacity Moskau diskutiert. Natürlich hat die Entscheidung 1935 für eine radial-konzentrische Entwicklung für höchstens 5 Mio. Einwohner keinen unwesentlichen Anteil am heutigen Stadtinfarkt Moskaus mit ca. 12 Mio. Einwohnern. Darauf antwortet man nun mit der gewagten Idee einer linearen (mehr tortenstückähnlichen) Stadterweiterung im Südwesten (vgl. Stadterweiterung: Moskaus Megawachstum, in: Der Spiegel vom 27. Dezember 2011, URL: http://www.spiegel.de/politik/ausland/ stadterweiterung-moskaus-megawachstum-a-805961.html [letzter Zugriff 1. Oktober 2013]).

25 Vgl. Anm. 3.

26 Vgl. Elke Pistorius, Astrid Volpert, „Vor dem Verschwinden: das Erste Quartal von Magnitogorsk. Bemühungen des deutsch-russischen Netzwerks Bauhaus im Ural um Unterschutzstellung als deutsch-russisches Erbe des sowjetischen Städtebaus der 1930er Jahre“, in: kunsttexte.de Nr. 3/2013, URL: http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2013-2/pistorius-elke-2a/PDF/pistorius.pdf (letzter Zugriff 15. September 2013).

27 „Der Verlust des Schulgebäudes würde besonders schwer wiegen: es ist nicht nur Teil des Ganzen und städtebaulicher Auftakt der Quartiersbebauung, sondern ist gleichzeitig ein bedeutendes Einzelstück (Einzeldenkmal). Es verrät bei näherer Betrachtung und anhand einiger als besonders fortschrittlich beleumdeter Merkmale seine nahezu stilreine Herkun vom deutschen Neuen Bauen der späten 1920er Jahre. So beispielsweise die Treppenhauserschließung (sogenanntes Schusterprinzip) anstelle von Gängen zu den Klassenzimmern, welche Querlüftung der Gruppenräume und kleine Schulgemeinschaften von hier 4 Klassen innerhalb des Gesamtschulorganismus ermöglichen. Selbst der rasche Ortswechsel vom Klassenraum in ‚Freiluftklassen‘, auf den vorgelagerten Wiesenflächen, schwebte den deutschen Architekten vor, wie die Austritte an der Ostfassade und der Freiflächenplan des Gartenplan Ulrich Wolf belegen.“ (Mark Escherich, http://www.uniweimar. de/cms/architektur/dmbg/professur/aktuelles.html, [letzter Zugriff 5. Oktober 2013]).

28 Vgl. E. Blinov, V. Filippov, „Die Rolle der Ernst-May-Gruppe bei der Bebauung sibirischer Städte“, in: Die alte Stadt, Heft 3/1996, S. 262–275.

29 Казусь И.А., Советская Архитектура 1920-х годов. Организация проектирования [Igor A. Kazus’, Sowjetische Architektur der 1920er Jahre. Die Organisation der Projektierung], Moskau 2009.

30 Zuvor schon: Меерович М.Г., Наказание жилищем. Жилищная политика в СССР как средство управления людьми. 1917–1937 [Mark Meerovič, Bestrafung durch Wohnen. Wohnungspolitik der UdSSR als Mittel der Lenkung von Menschen. 1917–1937], Moskau 2008.

31 Dmitrij Chmel’nickij, „Der Kampf um die sowjetische Architektur. Ausländische Architekten in der UdSSR der Stalin-Ära“, in: Osteuropa, Heft 9/2005, S. 101. 32 So immer wieder bei Mark Meerovič und Dmitrij Chmel’nickij.

33 Terror und Traum (vgl. Anm. 22), S. 29.

34 Ebd., S. 29 f.

35 Stephen Kotkin, Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization, Berkeley/Los Angeles/London 1997.

36 Stefan Plaggenborg, Experiment Moderne. Der sowjetische Weg, Frankfurt a. M. 2006, S. 18 und 20.

37 Wolfgang Schivelbusch, Entfernte Verwandtschaft. Faschismus, Nationalsozialismus und New Deal 1933–1939, München 2005. Zu Recht schrieb Schlögel: „In der inspirierenden Studie von Wolfgang Schivelbusch fehlt der Vierte im Bunde“ (Terror und Traum, vgl. Anm. 22, S. 764).

38 Vgl. die Aufsätze von Rainer Land: „Evolution und Entfremdung – Wirtschaftliche Subsysteme und individuelle Lebenswelten in der gesellschaftlichen Entwicklung“, in: Initial. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Heft 6/1990, S. 636–646; „Fordismus plus Planwirtschaft“, in: Michael Brie, Ewald Böhlke, Rußland wieder im Dunkeln, Berlin 1992, S. 49–59; „Evolution der Moderne und Emanzipation. Vom ‚Modernen Sozialismus‘ zum ‚Libertären Ökosozialismus‘, in: Berliner Debatte Initial, Heft 6/1993, S. 61–72; „Vom Fordismus zum Öko-Kapitalismus? Überlegungen zu Regulationsprinzipien eines neuen Entwicklungspfades“, in: Berliner Debatte Initial, Heft 6/1996, S. 18–23; „Schumpeter und der New Deal“, in: Berliner Debatte Initial, Heft 4/2009, S. 49–61.

39 Ein von Walter Gropius für sich selbst gewählter Ausdruck, der aber angesichts der Lebensleistung Ernst Mays im Wohnungsbau viel mehr auf diesen zutrifft.

40 Vgl. Сталин и Каганович. Пeреписка. 1931–1936 гг., Москва 2001 [Stalin und Kaganovicˇ, Briefwechsel 1931–1936, Moskau 2001, S. 265]. Kaganovič an Stalin am 5. August 1932: «Мы, безусловно, должны кончить с этим безорбазным наследием прошлого, их (этих казарм) у нас довольно много, но мы поставили перед собой боевую задачу во что бы то ни стало к 15 годовщине окончить эту работу.» [„Wir müssen zweifellos mit diesem hässlichen Erbe der Vergangenheit abschließen, von (diesen Kasernen) gibt es bei uns allzu viele, wir stellten uns die Kampfaufgabe, diese Arbeit zum 15. Jahrestag zu beenden.“]

41 „Wir sind aus der stark sozial eingestellten grosszügigen Wohnungsbautätigkeit in Deutschland gewohnt gewesen, das Wohnhaus als möglichst neutrales Element des Städtebaus zu betrachten und architektonische Akzente auf Bauten der Gemeinschaft aufzusparen. Einige massgebliche russische Kollegen des Trusts sind leider anderer Meinung gewesen; sie wollten jedes Gebäude als ‚Architektur‘ behandeln und überhaupt den Städtebau der Architektur unterordnen, statt die Architektur dem Städtebau, nicht bedenkend, dass lauter Akzente gar kein Akzent sind und dass der Aufbau draussen jeden Ansatz zu ‚Architektur‘ einstweilen durch schlechte Qualität der Ausführung lächerlich macht.“ (Fred Forbat, „Ein Architekt in vier Ländern“, Manuskript, Kopie im Hamburgischen Architekturarchiv, S. 159 f.)

42 Im Sinne des lieu de mémoire nach dem französischen Historiker Pierre Nora (vgl. Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1998).

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