„Die Göttin Kunst! Und hier ist ihre Stätte!“
Zur Baugeschichte des Theaters Stralsund
von Juliane Voigt
Erschienen in: „Dem edlen Bürgersinn dies Haus geweiht“ – 100 Jahre Theater Stralsund (09/2015)
Assoziationen: Mecklenburg-Vorpommern Dossier: Neubau & Sanierung

Wie schreibt man die mehr als hundertjährige Geschichte eines Theaters? Diese lange Zeit hat sich, wie ich in den letzten Monaten festgestellt habe, in Bergen von Theaterzetteln, Plakaten, Spielplanheften, Zeitungsartikeln, Fotos, Büchern und schließlich CDs und Festplatten materialisiert. Als ich anfing, stocherte ich wahllos in dem Material herum wie in einem Heuhaufen, auf der Suche nach kleinen Schätzen: Eine unvergessene Inszenierung. Theaterstars der Stadt oder spätere Berühmtheiten. Ein kleiner Skandal? Kann auch spaltend sein, polarisierend, aber immer bewegend. Ja, was war wichtig? Und warum? Bemerkenswert? Gar legendär? War ich gerade noch der Meinung, mich mit dem Stralsunder Theater ganz gut auszukennen, musste ich spätestens jetzt feststellen, wenig, viel zu wenig zu wissen. Die hundert Jahre waren keine aus Zahlen und Fakten bestehende, akademisch zu erfassende Zeitspanne mehr. Jeder Tag steckte voller Geschichten von all den Menschen, die durch das Theater und die Stadt gelaufen waren. Und da ich von Natur aus neugierig bin, wollte ich so viel wie möglich darüber herausbekommen und stürzte mich in den Heuhaufen, also auf die Lektüre.
Das vorliegende Buch zeigt besondere Inszenierungen, Uraufführungen, kleine Schätze, die die Stralsunder in ihrem Theater glücklich gemacht haben. Ebenso aber geht es um städtische Kulturgeschichte, denn dieses Haus war immer auch getragen von den gesellschaftlichen und politischen Ereignissen in der Stadt und der Theaterbegeisterung der Bürgerschaft im Rathaus. Ebenso aber auch von kulturpolitischen Trends und Vorgaben aus dem nahen, ach so fernen Berlin.
Oft habe ich mich gefragt, wieso Intendanten nicht eigentlich ein Theatertagebuch führen. Dabei denke ich nicht an Winston Churchill, der gesagt hat: „Die Geschichte wird gut zu mir sein, denn ich werde sie selber schreiben …“ Aber es wäre schön, von ihnen als Zeitchronisten und als Personen, die in der Stadt etwas zu sagen haben – wenn auch mit den großen Worten anderer – mehr zu erfahren.
Es hat riesigen Spaß gemacht! Großen Dank dem Stadtarchiv. Antje Gawenda von der Stadtbibliothek war Stütze und Beistand in jeder Hinsicht. Das ABC-Antiquariat begleitend in Rat und Tat. Ein besonderer Dank gilt Kirsten Heitmann, Leiterin Beleuchtung des Theaters Vorpommern. Und Karina Schulz, viele Jahre im Theater und im geistigen Besitz unzähliger Geschichten. Wolfgang Böhmer für seine klugen Anmerkungen zu meinem Manuskript. Und Ralf Lehm für seine Bereitwilligkeit und spontane Hilfe.
Stralsund im Juli 2015
Bei aller Theaterliebe, aber ein Krankenhaus verkaufen und damit das Stadttheater sanieren – ist das nicht ein bisschen dekadent? Viele Mitglieder der Stralsunder Bürgerschaft waren am 10. März 2005 stolz auf die politische Mehrheit, die diese Entscheidung trug. Ein klares Statement. Eine kleine Stadt in Vorpommern rettet mit einem originellen Schritt sein Stadttheater. Und sich selbst vor dem kulturellen Abgesang. Die Altstadt Stralsunds ist UNESCO-Weltkulturerbe. Kann es da sein, dass vor der Stadtmauer ein Theater vor sich hin verfällt? Letztlich bekam das Theater nur 16 von 60 Krankenhaus-Millionen. Aber so viel Geld in Zeiten chronisch klammer Stadtkassen für die Kultur in die Hand zu nehmen, das ist mutig. Das Wurschteln in dem dringend sanierungsbedürftigen Haus hatte ein Ende. Ein Pinsel hier, ein Hammer da, ein Antrag, weil eine Heizung tropft – so werden Theater bis zum letzten Atemzug still vor sich hin repariert und zugrunde gespart. Stralsund aber krempelte die Hemdsärmel hoch und verteilte 90 Jahre gesammelten Theaterinhalts über die ganze Stadt. Intendant Rüdiger Bloch schob programmatisch einen Besen über die Bühne, „Auskehren“ hieß der letzte Akt in diesem Theater. Eine Reihe städtischer Immobilien wurde zweckentfremdet und zu interessanten Ersatzspielorten und Verwaltungsgebäuden erklärt. Und schon bekamen die Bagger ihren Auftritt …
Die Stadt und die SES Stadterneuerungsgesellschaft Stralsund mbH hatten das Architekturbüro Springer aus Berlin mit der Sanierung beauftragt. Jörg Springer sah man im schwarzen Rollkragen und dunklen Anzug, grau meliert und mit einem Ordner unter dem Arm in den nächsten zwei Jahren mit langen Schritten vorauseilen, wenn Delegationen und Gästen die größte Baustelle der Stadt gezeigt wurde. Peter Boie, Geschäftsführer der SES, hatte mit gewissenhaftem Blick die Bauphasen im Augenwinkel. Während Anton Nekovar, seinerzeit Intendant, gestikulierend und ganz Prinzipal voller Enthusiasmus auch im völlig entkernten Gebäude - zustand mitreißend Opern und Philharmoniekonzerte auf die nicht vorhandene Bühne fantasierte, so dass man bei genauem Hinhören die silbrigen Violinen der „Lohengrin“- Ouvertüre zu hören glaubte.
Großbaustelle – ganz ähnlich muss es 1913 am selben Ort ausgesehen haben. „Mit welcher herzlichen Freude führte uns der alte Direktor Treutler in dem neuen Hause herum, stolz bewegt ob des viel schöneren und leistungsfähigeren, das der Rahmen werden sollte für das neue Feld seiner Tätigkeit. Alles wies er uns und alles sahen wir gern mit gleicher Freude für die Stadt, die wir liebgewonnen hatten: vom Heizkeller zum Schnürboden, vom Orchesterraum, aus dem Treutler schon ‚Meistersinger- Musik‘ zu hören hoffte.“ (Pooth, S. 127) Seit 1900 war Ludwig Treutler Direktor im Schauspielhaus am Alten Markt, und er war das mit aller Leidenschaft und hatte eine offensichtlich glückliche Hand mit der Stralsunder Bürgerschaft, wusste sie zu motivieren und bei Laune zu halten.
Treutler sollte das neue Haus übernehmen. Er brachte beratend all seine Theatererfahrungen, Wünsche und Visionen in diesen Bau mit ein. Federführend in allem sonst war der Kölner Regierungsbaumeister Carl Moritz, Architekt von bisher sechs Theatern. Zeitgleich entstand das Theater in Bochum, das wie fast alle Theater dieses Architekten im Zweiten Weltkrieg zerstört werden sollte. Stralsund war das siebte und letzte der Reihe, hier flossen alle seine bisherigen Erfahrungen ein. Anfang Mai 1913, wenige Tage nach seinem 50. Geburtstag, bekam er den Auftrag und 500 000 Mark pauschal aus der Stadtkasse. Schon am 1. Juli wurde der erste von insgesamt 800 Eichenpfählen auf einer erhöhten Parkfläche vor dem Kniepertor in den Boden gerammt, da man erst in neun Metern Tiefe auf festen Baugrund stieß. Noch heute steht das Theater auf diesem alten Fundament. Wie auf den Grünen Hügel in Bayreuth sollte der Zuschauer sinnierend vor die Stadt spazieren, Alltag und Geschäft der Stadt hinter sich lassen und sich so wandelnd auf den Abend einstimmen.
Moritz errichtete nicht einfach nur ein Theatergebäude. Er versuchte, sein Ideal eines Theaters zu verwirklichen. In seiner programmatischen Abhandlung „Vom modernen Theaterbau“, die 1906 in den Flugblättern für künstlerische Kultur erschien, entwickelte er über das Ausschlussverfahren seine Theorie des Theaters: Er erregt sich über eine Reihe von Pfuschern des Illusionstheaters, die dem Theater der bürgerlichen Aufklärung und dessen innerer Wahrhaftigkeit den Niedergang beschert hätten. Zu denen gehört für ihn trotz aller Verehrung auch Richard Wagner, dessen illusionistische Bühnenästhetik eine Entwicklung auf die nächsten hundert Jahre ausgebremst habe. „Wer hat nicht schon, ergriffen von der dramatischen Gewalt der Wagnerschen Musik, den brennenden Wunsch empfunden, wenn doch nicht die Szenerie in ihrer krassen Aufdringlichkeit stören wollte.“ (Moritz, S.18) Theater finde eigentlich nicht auf der Bühne, sondern im Zuschauerraum statt, in den Herzen der Menschen. Theater ist Wahrnehmung. Und so öffnet er die Bühne für den Zuschauerraum, entwickelt eine ideale Einheit zwischen Bühne und Schauraum. Der Zuschauer produziert mit. Stralsund hat also nicht irgendein Gebrauchstheater, sondern eines, das die Quintessenz eines fortschrittlichen, aufgeklärten Theaterideals beinhaltet.
Mitte August 1913 – also bereits nach anderthalb Monaten! – waren die Außenmauern neun Meter hoch, die Bodenplatten von Parkett und Bühnenhaus fertig und man baute mit wilder Entschlossenheit, so dass nach der Winterpause im Februar 1914 das Gebäude außen fertiggestellt war, und der Eröffnungstermin im Herbst hätte eingehalten werden können.
Am 1. August 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. „Der König rief und alle, alle kamen. Deine Freude würde groß sein, wenn Du sehen könntest, wie auch in Stralsund alles freudig und voll Gottvertrauen zu den Waffen will. Es haben sich mehr junge wie alte Leute freiwillig gestellt als erwartet war, denn in Stralsund sind jetzt etwa 50 Mann überzählig. Hier sammelten sich aber auch 20 000 Soldaten. Viele meiner Bekannten haben schon des Königs Rock angezogen. Die ganze Prima des Gymnasiums, mit Ausnahme von zwei Schülern, die nicht tauglich sind, spaziert schon auf dem Kasernenhof. […] Wenn man sieht, wie freudig die Freiwilligen ihren Dienst versehen, wie freudig auch unsere 42er zur französischen Grenze fuhren, dann muss man sagen: es ist nicht auszudenken, dass ein Volk, das so begeistert in den Kampf zieht wie wir, zu Grund gehen kann.“ (Aus einem Brief vom 9. August 1914 aus Stralsund, in: Schiel, S. 21) Aber schon Mitte August druckten die Zeitungen vorsichtig die ersten Todesanzeigen gefallener Soldaten. Die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende starb mit jedem Gefallenen. Die Bauarbeiten wurden bis auf Weiteres eingestellt.
Am 19. April 1915 war das Stadttheater Stralsund offiziell fertig. Doch das eigentliche Theater war nun der Krieg, das Publikum befand sich zu großen Teilen an der Front. Vielleicht hat Carl Moritz nach der baupolizeilichen Abnahme dem Bürgermeister Arthur Felix Emanuel Lütke (Oberbürgermeister war zu der Zeit Ernst August Friedrich Gronow, aber der hatte andere Aufgaben) zum Abschied die Hand geschüttelt und dem unglücklichen Direktor Treutler auf die hängenden Schultern geklopft, bevor er nach Köln abreiste. Ludwig Treutler wollte die Bürgerschaft noch davon überzeugen, das Haus auf eigene Kosten zu eröffnen und zu betreiben. Vergeblich – er starb am 28. August 1915. Das Theater vor der Stadt fiel noch ein weiteres langes Jahr in einen Dornröschenschlaf. Hier blieb erst einmal der Vorhang zu! Im Alten Schauspielhaus war die Landwirtschaftsschule eingezogen. Seit 1913 bestand für alle Berufe Berufsschulpflicht. Ein willkommenes öffentliches Gebäude. Stralsund hatte nun also gar kein Theater.
Wir nutzen die Pause, um in einem der zerschlissenen Exemplare der „Flugblätter für künstlerische Kultur“ zu blättern. Was war die Intention des Baumeisters Moritz? Primär stellte er die antike Bühne gegen den Theaterbau der Renaissance und wertete den Übergang von dem einen zum anderen als einen „verhängnisvollen Schritt“. (Moritz, S. 6) Das antike Bühnenbild sei von großer Breite und geringer Tiefe gewesen. Die Schauspieler standen in Einzelszenen vor einer bemalten Wand. Dem entsprach das Halbrund des Zuschauerraums in den Amphitheatern mit seinen vorzüglichen optischen und akustischen Verhältnissen. Der Zuschauer sei so zu lebhafter Mitbetätigung aufgefordert gewesen. Die Renaissance, so Moritz, schwelgte plötzlich auf allen Kunstgebieten mit perspektivischen Wirkungen, mit zauberhafter Illusion von Wirklichkeit. „Es wurde üblich, zwischen die einzelnen Akte der antiken Komödie allegorische Festspiele einzufügen, die mit […] unglaublichen szenischen Effekten, Verwandlungen, Herabschweben und Verschwinden von Figuren usw. ausgestattet waren.“ (Ebd., S. 6) Dieser Aufwand bedurfte eines großen Bühnenraumes. Dementsprechend wuchs auch der Zuschauerraum in die Tiefe.
Denn von den Seitenplätzen eines Halbrunds ist das hintere Bühnenprospekt einer Guckkastenbühne nicht einsehbar. Um die nötige Platzzahl gegenüber der Bühne zu schaffen, griff man zu dem Mittel, Sitzreihen in mehreren Stockwerken übereinanderzutürmen. Das Rangtheater entstand. Oft in Straßenzüge eingeklemmt wurde diesen verhängnisvollen Fortentwicklungen theatraler und dekorativer Übertreibung – er machte sich lustig über Panthergespanne auf mächtigen Sockeln – von den meisten Architekten zu allem Übel noch eine Palast- oder Tempelfassade vorgeklebt.
Als Beispiele gelungener Theater nun schwärmte Moritz für die alte Pariser Oper und das geniale Wirken von Gottfried Semper, insbesondere als Baumeister des Alten Hoftheaters in Dresden. (Der Vorgängerbau der heutigen Semperoper war 1861 bei einem Brand vollständig zerstört worden.) Die klassische Form der Außen - architektur in Übereinstimmung mit dem inneren Kern, das klare Hervorheben und Absetzen der Haupträume, die Bogenform des Zuschauerraums für die richtige Führung des Menschenstromes – kurz: Die Haupträume sollten klar nach außen zur Geltung kommen und neben der Bühne und dem Zuschauerraum auch die hauptsächlichen Nebenräume, die Treppenhäuser und das Foyer. (Vgl. Ebd., S. 2) Das war sein Prinzip eines gelungenen Theaterbaus: Funktion und Optik zur Deckung zu bringen. Und nach allen verheerenden Theaterbränden, wobei der Ringtheaterbrand 1881 in Wien (384 Tote bei einer Auf - führung von „Hoffmanns Erzählungen“) eine Zäsur einleitete, stand ihm der Schutz des Menschen, also die Verwendung von Stahlträgern, Massivbau und Elektrizität, über allem.
Und so beschrieb die Tagespresse das Stralsunder Theater am Tag der Eröffnung am 16. September 1916:
„Das in den ruhigen Linien seines Aeußeren der Umgebung außerordentlich glücklich angepaßte neue Schauspielhaus ist im architektonischen Aufbau aus seinem Zweck heraus und dem Grundriß entsprechend entwickelt. Von dem großen Bühnenhause mit seinem geräumigen Magazin tritt das in der Höhe bescheidenere Zuschauerhaus etwas zurück. Die zu beiden Seiten der Vorderfront vorspringenden Gebäudeteile verstärken den Eindruck der Vorderfront und lassen dem Besucher die Tatsache nicht zum Bewußtsein kommen, daß die Masse des Gebäudes zugunsten des links von der Bühne angeordneten großen Magazines nicht symmetrisch zu beiden Seiten der Längsachse verteilt ist. Ein segmentförmig der Vorderfront vorgelagerter Balkon, der vom 1. Rang aus erreichbar ist, überdacht die Anfahrt und macht es bei schlechtem Wetter dem Besucher möglich, aus dem Wagen gleich in geschützten Raum zu treten. Auch gestattet diese Anordnung, daß man beim Verlassen des Hauses bei schlechtem Wetter unter dem Schutz des Balkons im Freien den Schirm öffnet, eine Möglichkeit, die der zu schätzen weiß, dem an anderen Orten beim Verlassen des Theaters schon in der Tür sich die aufgespannten Schirmgestelle der rücksichtslosen Nachbarn drohend entgegenstreckten.“ (Pooth, S. 40)
Das Zuschauerraum-Bühnen-Problem mit den übereinandergetürmten Menschen löste Moritz mittels eines Kompromisses zwischen Rangtheater und Parketttheater. Konsequent hatte ausgerechnet Wagner in Bayreuth es gewagt, die Zuschauer wieder ins Parkett zu setzen, obwohl Moritz dessen Zuschauerraum als eine ästhetische Unmöglichkeit bezeichnete, da die Zuschauer gezwungen seien, durch schreckliche Scherwände voneinander abgetrennt, geradeaus zu starren. Der Anblick eines Rangtheaters sei dann doch weitaus erfreulicher. „Wenn nicht alle Anzeichen trügen, strebt die Entwicklung beider Typen zu einem Ausgleich auf mittlerer Linie.“ (Ebd., S. 12) Weniger Ränge übereinander und der Verzicht auf Seitenränge. Herausgekommen sind die verspielten Schwalbennester, die an beiden Seiten über den außen sitzenden Zuschauern kleben.
Dass Carl Moritz heute bei einem Rundgang durch das Theater so präsent ist und so deutlich zitiert werden kann, ist der Sanierung von 2006 bis 2008 zu verdanken. Architekt Jörg Springer hatte den Auftrag, den historischen Originalzustand von 1916 wieder herzustellen. Mitte der 1960er Jahre wurde der Zuschauerraum mit der Leipziger Oper als Vorbild durchgängig mit Holz vertäfelt. Die Schwalbennester verschwanden und die Holzplatten waren, wie sich zeigte, nur angeschraubt worden, so dass Teile der alten Stoffbespannung, Vergoldungen und die Reliefreihe über der Bühne wieder zum Vorschein kamen. Die Sitze waren mit dunkelrotem Stoff bespannt. An der Decke hingen ein Dutzend rautenförmiger Kronleuchter mit unzähligen Glühbirnen. Das Theater hatte sich im Handumdrehen in einen sozialistischen Kulturpalast verwandelt. Der Leipziger-Oper-Stil zeigte sich konsequent auch in den Foyers und Seitengängen. Diese Neugestaltung hatte ihren eigenen Reiz, blieb aber nur provisorisch und angeschraubt – vielleicht ein sinnfälliges Bild für die gesamte geschichtliche Epoche, die sie hervorbrachte. 2005 aber war es so weit, dass im Zuschauerraum das Licht nur noch gedimmt war, damit der heruntergekommene Zustand des Saales und der Sitzgelegenheiten möglichst unauffällig blieb.
Priorität bei der Sanierung hatte die Kubatur des Theatergebäudes nach Moritz. Der Kohleplatz auf dem linken Innenhof, einige Anbauten, Fahrstuhl und Lüftungsschacht mussten verschwinden. Das aus dem städtischen Zusammenhang herausgehobene, frei für sich stehende Haus erhielt nach 50 Jahren rußigen Graubrauns eine hell verputzte Fassade mit sichtbaren Glimmerbestandteilen im Oberputz. Wie 1914 sind mit Zahneisen feine senkrechte Linien gezogen worden. Im großen Bühnenturm wurden über das abgehobene Dach Stahlträger mittels eines riesigen Baukrans ausgewechselt. An 44 Bühnenzügen können je 750 Kilogramm Dekoration nach oben gezogen werden. Die neue Drehbühne mit 11,5 Metern Durchmesser ergänzt ein äußerer Drehring. Die Einrichtung modernster Haus- und Sicherheitstechnik, Rollstuhlzugänge und Bequemlichkeit bekamen mindestens die gleiche Bedeutung wie die technische Einrichtung und Wegeplanung hinter der Bühne. Das Haus ist mit der neuesten computergesteuerten Bühnen-, Beleuchtungs- und Tontechnik ausgestattet. 1916 freute man sich über einen Dreifarbenregulator, eine Wind-Regen-Donner-Maschine, die heute noch bei jeder Theaterführung präsentiert wird, Vorrichtungen für die verschiedenen Bühnenprospekte, eine Bühnenversenkung für 38 Mann, Dampfkessel, die Kaltluft am Theatereingang aufsaugen und Heißluft unter den Sitzreihen in den Zuschauerraum blasen, Brandschutzwasserhähne vor und hinter der Bühne, einen eisernen Vorhang und eine Reihe von Notausgängen im Falle von Feuer und Panik.
Herzstück der Sanierung 2008 aber war für den Architekten Springer und den Bauherren (die Stadterneuerungsgesellschaft Stralsund) die Rekonstruktion des innen - architektonischen Zustandes von 1916. In epischer Ausführlichkeit begeisterte sich der eben schon zitierte unbekannte Autor in der damaligen Tagespresse. Ein ausführlicher Rundgang, den man detailgenau heute ablaufen kann. „Das Foyer, das tagsüber sein Licht durch die drei hohen Fenster über dem Balkon empfängt, abends durch zwei Kronen beleuchtet wird, hat eine Wandbespannung in erdbeerfarbenem leicht goldgemusterten Stoff erhalten. […] Der ganze Zuschauerraum ist in kraftvollen Farben gehalten: Gold und grau.“ Wege, Treppenhäuser, Beleuchtung und Farbgestaltung sind seitenlang wie in einem historischen Reisebericht ausformuliert. Durch die Sanierung kam auch wieder, selten in Theatern, Tageslicht in den Zuschauerraum. 1968 waren die Fenster oberhalb des zweiten Ranges mit Holzplatten nach innen geschlossen worden.
Zurück in den Ersten Weltkrieg. Am 16. September 1916 eröffnete Stralsund endlich sein Theater. Mit einem neuen Intendanten, Otto Henning aus Hannover. „Das gewaltige Völkerringen, Sorgen und Kummer des Alltags, waren für einige Stunden vergessen.“ Der unermüdliche Reporter berichtete weiter, dass viele Stralsunder stundenlang bei schlechtem Wetter angestanden hätten, um die Einweihung mitzuerleben. Man spielte „Prinz Friedrich von Homburg“ von Kleist, Beethovens „Die Weihe des Hauses“. Ludwig Fulda, meistgespielter Autor des Jahrzehnts, steuerte auch für diesen Anlass patriotisch gesinnte Verse bei. Direktor Otto Henning verlas die Dichtung:
„Die Weihe des Hauses“
Was ruft in weltgeschichtlich ernster Stunde
Euch alle hier zu friedsam heitrer Schau?
Weshalb durchflutete mit froher Kunde
Ein Strom von Wohllaut diesen Tempelbau?
Die stolze Hansestadt am Strelasunde
Mit Toren, Türmen, Giebeln, altersgrau,
was weckt in ihr ein frisch beflügelt Regen,
als eile sie verjüngtem Ruhm entgegen?
Ist dies die Zeit der Feste? Darf er dauern,
Der Freude feiertäglich holder Schall?
Zwar tobt nicht mehr um die erprobten Mauern,
Wie vormals Schweden- und Franzosenzoll.
Und vor des Weltkriegs schwerem Wetterschauern
Schirmt stählern sie der vorgerückte Wall.
Von Heldenleibern und von Heldengeistern
Die Zoll für Zoll der Feinde Trutz bemeistern.
Und doch, die Seele der Daheimgebliebnen,
Umhegt sie nicht mit ihrer ganzen Glut
Die von der deutschen Not ins Feld Getriebnen,
Die Tapferen, mit ihrem Herzensblut
Auf immerdar in unser Herz Geschriebnen?
Kann unsrer Sorgen, unsrer Wünsche Flut
Sich einen Augenblick vergessend glätten,
im sichern Port zu sanfter Rast sich betten?
O nein, es ist kein müßiges Behagen,
dem edlen Bürgersinn dies Haus geweiht,
Und selbst in so beladnen Schicksalstagen
Darfs heut zu hohem Priesterdienst bereit,
im freien Lichte frei die Stirne tragen,
als neues Zeugnis einer großen Zeit,
Die während rings der Sturm das Land umwütet,
Das heilige Feuer am Altar behütet.
Denn eine hehre Göttin soll sich hier thronen,
herabgestiegen aus des Aethers Höhn,
um tröstend, labend unter uns zu wohnen,
nach Werktagsmühsal und nach Kampfgedröhn
Die Schaffer und die Streiter zu belohnen
Und was unsterblich und echt und schön,
Ob gegenwärtig oder längst vergangen,
In ihrem lautren Spiegel aufzufangen.
Mag auch die Welt von Taten widerhallen,
vor denen sie beschämt zur Seite trat,
Wort und Gebärde, ihres Throns Vasallen,
Sind selbst ja nur ein Sinnbild für die Tat.
Wer lässt vollbrachter Taten Preis erschallen?
Wer streut zu neuen, künftigen die Saat?
Wer fügt und reiht wie Perlen sie zur Kette?
Die Göttin Kunst! Und hier ist ihre Stätte.
Wohlan denn, mag der Grimm der Feindesscharen,
vor Ohnmacht geifernd und vor Schwäche dreist,
uns vor der Welt verlästern als Barbaren,
dies Haus, das heute sich vollendet weiß,
Gekrönt und aufgetan in Kriegesjahren,
beredet verherrlicht es den deutschen Geist.
Der auch beim notgedrungnen Waffenschmieden
Den Väterhort vermehrt gleichwie im Frieden.
Und jetzt aus einem deutschen Meisterwerke
Sprech er mit Flammenwort zu Eurem Ohr,
Flöß in die Brust euch Zuversicht und Stärke
Und stell im Liede deutschen Sieg euch vor.
Ehrt ihn, damit der Troß der Mörder merke,
Solch eines Geistes Fackel steigt empor.
Und mag das Schwert auch in der Scheide liegen,
Die deutsche Kunst hört nimmer auf zu siegen.
Am 29. Februar 2008 eröffnet Stralsund wiederum sein Stadttheater. Mit Ludwig van Beethovens „Weihe des Hauses“, wie schon 1916. Oberbürgermeister Harald Lastovka begrüßte die Gäste und übergab mit dem Architekten sowie der Stadterneuerungsgesellschaft den Schlüssel offiziell an den Intendanten Prof. Anton Nekovar. Anschließend führten Kinder der Jona-Schule eine eigene Komposition als Gruß und Glückwunsch zur Wiedereröffnung des Theaters auf. Der Minister für Verkehr, Bau und Landesentwicklung des Landes Mecklenburg-Vorpommern gratulierte mit einer Rede. Das Orchester spielte auf der Bühne unter Generalmusikdirektor Prof. Mathias Husmann die Einleitung zur Oper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss. Die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel gratulierte der Hansestadt und dem Theater als Bundestagsabgeordnete in ihrem Wahlkreis. Und zum Schluss gabs noch eine Kostprobe aus dem Musiktheater: Albert Lortzings „Den hohen Herrscher würdig zu empfangen“, die Singschulprobe aus „Zar und Zimmermann“, gesungen von Bernhard Leube, Bass im Ensemble, dem Opernchor und der Singakademie Stralsund. Und als die langen und aufregenden Feierstunden im Fluge vorbeigerauscht waren, feierten Stralsunder Bürger und Gäste ein Fest, das sie bestimmt in ihrem Leben nicht vergessen werden. Draußen vor der Stadt auf dem grünen Hügel, nun wieder umgeben von einer Parkanlage.