Theater der Zeit

Auftritt

Staatstheater Meiningen: Ladies first, Frauen zuletzt

„Ende einer Verhandlung“ von Anna Gmeyner (UA), übersetzt von Amanda Lasker-Berlin – Regie Frank Behnke, Bühne und Kostüme Christian Rinke, Musik Christopher Brandt

von Michael Helbing

Assoziationen: Theaterkritiken Thüringen Anna Gmeyner Meininger Staatstheater

Gruppendynamik unter zwölf Geschworenen: Szene aus „Ende einer Verhandung“ am Staatstheater Meiningen. Foto Christina Iber
Gruppendynamik unter zwölf Geschworenen: Szene aus „Ende einer Verhandung“ am Staatstheater MeiningenFoto: Christina Eberl

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„Es mag eine herausfordernde Aufgabe sein“, notiert die Dramaturgin Deborah Ziegler im Programmheft, „diesen Text auf die Bühne zu bringen, aber genau dort gehört er hin: Auf die Bühne.“ Na klar, mag man denken, dafür wurde er schließlich geschrieben: vor rund neunzig Jahren vielleicht; so ganz genau weiß das wohl niemand mehr. Es handelt sich, so der Verlag der Autoren, bei dem das soeben auf fast 200 Seiten erschien, um einen erst jüngst geglückten Fund aus dem Nachlass einer Dramatikerin, die auf Nachlässe zu pfeifen schien: Anna Gmeyner (1902–1991) aus Wien, die nach Edinburgh ging, dann zu Erwin Piscator nach Berlin, und in Paris von der Machtergreifung der Nazis erfuhr, welche ihre Texte verboten. Die Jüdin emigrierte 1935 vollends nach England, wo sie Drehbücher und Romane verfasste. Ihr bekanntestes Stück, „Automatenbüffet“ von 1932, läuft seit vier Jahren als Wiederentdeckung mit vierzehn Schauspielern am Burgtheater Wien, inszeniert von Barbara Frey. „Welt überfüllt“ brachte Thomas Ladwig vor zwei Jahren mit elf Schauspielern am Theater Oberhausen zur Uraufführung.

Gmeyner schrieb für große Besetzungen. Lauter Ensemblestücke. Zumindest insofern mag das heutzutage unzeitgemäß wirken. Nicht anders das „Ende einer Verhandlung“, aus England stammend, in England spielend, auf Englisch geschrieben (Dramatikerin Amanda Lasker-Berlin übertrug das jetzt ins Deutsche). Diesmal war das Momentum bei Meiningen, um eine nachgereichte Gmeyner-Uraufführung zu besorgen. Schauspieldirektor Frank Behnke, der das ursprünglich gar nicht selbst inszenieren wollte, lässt uns die „herausfordernde Aufgabe“ noch spüren in seiner trotz radikaler Striche insgesamt über zweieinhalbstündigen Aufführung. Inszenieren, das heißt hier zunächst mal: Personal organisieren. Das gelingt Behnke glänzend mit seinen zwölf Darstellern (plus einem), die den zusammengelosten Querschnitt einer Gesellschaft abbilden. Ein Ensemble als Star des Abends.

Sie sind: Geschworene bei Gericht, die einen Mann, woran zunächst kaum ein Zweifel besteht, schuldig sprechen und damit zum Tode verurteilen sollen. „Ladies first“ hatte der Angeklagte gerufen und dabei irre gelacht, nachdem seine Frau beim Spaziergang über die Klinge sprang beziehungsweise von der Klippe stürzte, als sie ein Blümchen pflücken wollte oder sollte. Nach Zeugenaussagen scheint klar zu sein: Er hat sie gestoßen, er hat sie umgebracht. Ein Geschworener aber plädiert dann doch weder auf Mord noch auf Todschlag. Er plädiert vielmehr auf unschuldig.

Das kommt uns bekannt vor. Im rund zwanzig Jahre jüngeren Filmklassiker „Die zwölf Geschworenen“, woraus später ein Theaterstück wurde, säte Henry Fonda einleuchtend und erfolgreich erhebliche Zweifel an Indizien, Zeugen, Vorurteilen. Ein junger Puerto-Ricaner, der in New York seinen Vater ermordet haben sollte, entging so dem elektrischen Stuhl. Mit dem Fall in „Ende einer Verhandlung“ verhält es sich allerdings sehr anders. Dieser verzwickte Dreiakter führt uns im Bemühen, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ans Licht zu bringen, wiederholt auf gefährlich falsche Fährten.

Gmeyner spielte hier, wie in anderen ihrer Stücke auch, mit Täter-Opfer-Perspektiven innerhalb ihrer Figuren. Und zumindest aus heutiger Sicht wagte sie einen zwar subtilen, aber doch deutlich femininen, wenn nicht gar feministischen Blick auf eine patriarchalische Welt, in der Männer „Ladies first“ sagen, Frauen aber das Letzte sind: Besitz und Schmuck, Verfügungsmasse und Freiwild. Wenn eine sich fügt, gilt sie als unattraktives Mäuschen, wenn sie ausbricht, als undankbares Flittchen. Und bringt einer eine um, aus Wut und Eifersucht, dann ist sie schuld und er sehr zu bedauern.

„Sie hatte von allem, was sein war, Besitz ergriffen“, resümiert Mr. Smith, der hier eine exponierte Außenseiterstellung einnimmt, der erst aus den Latschen kippt, lange gar nichts sagt und dann umso mehr fabuliert. Er meint in diesem Moment die Frau des Angeklagten, zugleich aber seine eigene, die 30 Jahre zuvor aus dem heimischen Fenster stürzte. Nun holt ihn die Vergangenheit ein.

Jürgen Hartmann spielt das zunächst mitleid- und dann, in Selbstmitleid badend, zunehmend ekelerregend. Er spielt das aber auch, und ist damit mehr die Regel als die Ausnahme, zu theatral. Behnke will jedem in Ensemble – neben Hartmann zwei weitere Gäste, aber auch fünf Neuzugänge - seinen Auftritt, seine Nummer gönnen. Das fällt häufig zu virtuos, zu kulinarisch aus. Die Regie versucht mehrere Formen: Der erste Akt beginnt chorisch, der dritte parodiert, in einer Theater-im-Theater-Erzählung aus der Vergangenheit des Mr. Smith, das melodramatische Kino (übrigens zu Klängen aus Hitchcocks „Vertigo“, worin ja auch eines Mannes Obsession eine Frau in den Tod stürzt).

In Dreißigerjahre-Kostümen sortieren und arrangieren sich neun Männer und drei Frauen immer wieder neu im heißen und stickigen Geschworenen-Zimmer, das schräg und abgeschrägt, mit Lichtbändern gerahmt, auf der große Bühne steht: gegen das vermeintlich geradlinige Denken und Handeln der Figuren, die im System gefangen sind, in dem sie leben. Da haut der ungehobelte, in seinem Zynismus aber auch unbestechliche Mr. Foster (Gunnar Blume) der hübschen Miss Cadell (Mia Antonia Dressler) auf den Hintern, erntet eine Ohrfeige und fragt allen Ernstes: „Was ist denn falsch an mir?“ Und der Jury-Vorsitzende Sanders (Erik Studte) vertraut unerschütterlich darauf, dass alles gut so ist, wie es ist.

„Die kleinen Intrigen und das bedeutungslose Gerede“ eröffnen die Zusammenkunft auch in Paralleldialogen, die Gmeyner schrieb und die sich hier eher ungeschickt überlappen. Bald etabliert die Regie völlig zu Recht das Komödiantische dieser Gruppendynamik, provoziert aber auch falsche Lacher. Und nie eine kollektive Stille, ein Schweigen, ein Zwischenraum, worin einem Worte die mal fehlen könnten. Einer plappert, auf Anschlüsse bedacht, nach dem anderen. Da gerät kein Körnchen Sand ins Getriebe. Wortgefechten bleibt jeder Stimmungsumschwung, jeder Temperatursturz erspart.

Dennoch: Die Inszenierung blickt genau auf das, was zwischen dem knappen Jahrhundert liegt, das seit der Entstehung des Stückes verging. Sie modernisiert nicht, sie behauptet das Zeitgemäße in der Distanz. Es kommt verspätet auf die Bühne, nicht zu spät. Es ist alt, nicht veraltet. Es gehört: hierher.

Erschienen am 30.9.2024

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