Kolumne
Der entgrenzte Gedankenflug
Erschienen in: Theater der Zeit: Tarife & Theater – Warum wir das Theater brauchen (02/2023)
Neulich abends ist es mir wieder passiert.
Nichtsahnend war ich zu einer kleinen Revue über Randy Newman und Nina Simone gegangen. Musik und Erzählung. Herrlich.
Aber in meinem Kopf spielte sich bald noch etwas ganz anderes ab. Das eigene Dritte.
Gefesselt geradezu von der unglaublichen Sängerdarstellerin Marion Martienzen und überrumpelt vom Haudegen Bernd Grawert, seinem Witz und seiner Musikalität, geriet ich auf eigene Bahnen.
Vom Ahnungslosen zum Entdecker. Nebengeleise, ja vollkommen verblüffende Assoziationen überraschten mich.
Es bestätigte sich die Erkenntnis, so etwas gibt es nur im Theater.
Kino führt an strikter Leine, ja überwältigt, oft genug auch lustvoll, aber erlaubt doch keine Abschweifungen.
Es ist die Aura der Schauspielerin, des Schauspielers, die so offensichtliche Vergänglichkeit der Augenblicke, es ist der unaufhaltsame Prozess des Vergehens von Zeit, welcher Raum schafft für Gedankenflüge.
So ist im Zuschauen für Sekunden erreicht, was sich der Berufsanfänger als Ideal erdachte, dass man durch Verwandlung nämlich vollständig frei sein könnte.
Wenn Nina Simone davon berichtet, wie man ihre Widerständigkeit als bipolare Störung abtun wollte und die Martienzen (sancta subito!) mit immer neuen fabelhaften Turbanen nach ihr suchend in einen Garderobenspiegel blickt, steht bei mir plötzlich die Zeit still und öffnet sich zu einem Wurmloch im Universum,...