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Postkoloniale Minenfelder am Beispiel von Shit Island
von Ursula Maier
Erschienen in: Recherchen 147: Res publica Europa – Networking the performing arts in a future Europe (05/2019)
Assoziationen: Ozeanien Freie Szene Europa
„Die Geschichte Naurus könnte frei erfunden sein, wie ein Gleichnis oder eine Fabel. Leider ist dem nicht so.“1
Postkolonialismus ist auf internationalen Theatertreffen und Symposien ein omnipräsentes Thema. Insbesondere in der freien Szene sind die damit verbundenen Themenkomplexe in zahlreichen Produktionen vertreten, sei es auf der Bühne oder in Berichten über die institutionellen Rahmenbedingungen für die Produktionen. Für Letzteres ist die neokoloniale Infrastruktur ein repräsentatives Beispiel: Zu Treffen innerhalb des Kontinents in Afrika bzw. Süd- und Mittelamerika ist die Anreise mit Flugverbindungen über Europa bzw. USA/Kanada in der Regel sehr viel günstiger und schneller. Ramiro Noriega beschrieb im Panel Postcolonial minefield als Beispiel eine Reise von Quito nach Buenos Aires mit infrastrukturell erzwungener Zwischenstation Miami. Aber auch Sophie Becker, eine der beiden künstlerischen Leiter des internationalen Theaterfestivals SPIELART, das 2017 Postkolonialismus in den Fokus rückte, berichtete darüber bei den Vorbereitungen zur letzten Ausgabe. Dabei wurde ein Treffen extra in Durban angesetzt, also auf dem afrikanischen Kontinent, um auf Augenhöhe zu sein und nicht bei europäischen Geldgebern vorstellig werden zu müssen. Tatsächlich zwang dieses Vorgehen aber viele afrikanische Teilnehmer zur Anreise über Europa, also über die Länder der ehemaligen Kolonialherren.
Beim IETM-Meeting zog sich die Thematik „postkolonialer Minenfelder“ durch verschiedene Panels, allen voran im gleichlautenden Postcolonial Minefields, aber zum Beispiel auch in Next Steps – learning from Exchanges und in den Talks of the day wie z. B. They called me an artist oder Eurocentrism is the new colonial. Auch Inszenierungen wie beispielsweise Shit Island griffen die Problematik auf und strahlten wiederum in die Panels aus.
Geradezu ein Lehrbuchbeispiel für die Vielfältigkeit der mit Postkolonialismus verbundenen Problematik ist die Produktion Shit Island der Kölner freien Gruppe Futur3, die 2018 für den Kölner Theaterpreis nominiert wurde. Die Produktion thematisiert die koloniale und postkoloniale Geschichte der südpazifischen Insel Nauru und streift dabei nahezu jedes „postcolonial minefield“, das im gleichlautenden Panel eröffnet wurde. Nauru stellt in der Kolonialgeschichte sicher einen Sonderfall dar – und ist trotzdem in vielerlei Hinsicht exemplarisch für die Problematik. Ein Sonderfall, da es durch dort vor vier Millionen Jahren angelagerten Vogelkot (ein wahres shit island), der inzwischen zu Phosphat wurde, zu unglaublichem Wohlstand kam. Nauru war in den siebziger Jahren zeitweise das reichste Land der Welt. Exemplarisch, weil es aufgrund der Ressource Phosphat auch zum Spielball der Kolonialmächte Deutschland, Frankreich und Australien wurde, ein Schicksal, das Nauru mit vielen anderen südpazifischen Inseln teilte. Und wie viele ehemalige Kolonien wurde auch Nauru ökologisch ausgebeutet. Es existiert heute in einer Art Mondlandschaft und wirft viele Fragen zu verfehlter nachhaltiger Entwicklung auf. Nauru erstritt sich in jahrzehntelangem Rechtsstreit zum 31. Januar 1968 die Unabhängigkeit. Mit damals 4000 Einwohnern und ca. 21 km2Fläche ist es der drittkleinste Staat der Welt.
Ästhetik und Repräsentation
Im ersten Teil der Aufführung sitzt der Zuschauer im Dunklen im Halbkreis auf Tuchfühlung mit den Forschern und erlebt klischeehaft Klänge und Gerüche, die seit den Tagen der Völkerschauen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit der Südsee assoziiert wurden. Ausgehend von Georg Forsters Entdeckungsreise nach Tahiti und in die Südsee 1772–1775 wird gezeigt, wie bereits im 18. Jahrhundert die Wurzeln kolonialer Perspektiven auf die Südsee gelegt werden. Dabei verzichten die allesamt deutschen Performer bewusst auf Darstellungen der indigenen Bevölkerung und bleiben bei der eurozentristischen Perspektive auf die Insel, die von den Reiseberichten angefangen auch Attribute und Bilder projiziert, die aus Völkerschauen generiert wurden. Im Dämmerlicht mit starker musikalischer Untermalung vorgetragen, erinnert der erste Teil an ein Hörspielformat.
Mit einem Ortswechsel und einer veränderten Zuschaueranordnung, bei der der Zuschauer nun viel distanzierter auf das Geschehen blickt, beginnt der „wissenschaftliche“ Blick auf die Nauruer. Im hell erleuchteten Raum werden die europäischen Messlatten angelegt, bildlich umgesetzt in der Vermessung der Menschen mittels eines Geodreiecks. Parameter der europäischen Denkweise bestimmen die Wahrnehmung der Insel.
Als Klammer dient dem zweiten Teil der Radiosender 166.9, der unterschiedliche Gesprächspartner zu Gast hat. Diese führen in die verschiedenen Stationen der Nauruer Geschichte ein, die dann szenisch dargestellt werden. Dabei gibt es einen Online-Chat genauso wie ein Skype-Interview, aber auch Zerrspiegel, um die Diabetesproblematik als Folge der Überflussjahre zu zeigen. In der Mitte der Bühne wird an einem kleinen Sandhaufen der ökologische Zustand Naurus repräsentiert, inklusive einer breiten Ringautobahn und eines ferngesteuerten Spielzeugbaggers als Symbol für die destruktive koloniale Infrastruktur und Technik. „Nauru liegt auf der anderen Seite des Erdballs und ist dennoch der Schnittpunkt für Entwicklungen unserer Welt, an dem Reichtümer und Katastrophen zusammenlaufen. […] Ein Labor unter freiem Himmel.“2
Der Frage, wie man mit Kritik an der Politik der reichen Jahrzehnte Naurus umgehen soll, begegnet Futur3 mit Spiegelung und Verfremdung durch ein Touristinnen-Paar, das sich über ihren Aufenthalt auf der Insel Nauru unterhält. Sie sprechen über das heute unattraktive ehemalige Südseeparadies Nauru, weil es ausgebeutet und nicht etwa nachhaltig genutzt wurde. Es gab kein ökologisches Konzept für die Zeit, wenn der Phosphatabbau nicht mehr möglich ist. 1993 wurde Australien zur Wiederherstellung des Lebensraums gerichtlich verurteilt.3 Die Nauruer verwendeten das Geld aber sehr bald für neue Technik, anstatt die ausgebeutete Insel durch Humusaufschüttungen zu renaturieren.4 Das war ein Jahr nach der Konferenz der UNCED von Rio de Janeiro 1992 zur nachhaltigen Entwicklung mit der Agenda 21 umso fragwürdiger. Aber wer ist hier berechtigt, die Nauruer zu kritisieren? Es sind nicht beliebige Touristen, sondern am Dialekt erkennbare Schweizerinnen. Eine Art Brecht’scher V-Effekt. Sie sollen hier durch die sprachliche Distanz zur Problematik diese thematisieren: Die Schweiz gilt als der Inbegriff des neutralen unabhängigen Staates, aber auch des mit sich selbst beschäftigten und sich abgrenzenden Landes. Sie war im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten niemals Kolonialmacht und nicht in koloniale Strukturen eingebunden. Die Schweiz ist als Nicht-EU-Land auch nicht über potenzielle Gemeinschaftsideen dazu verpflichtet, sich mit diesem europäischen Erbe zu identifizieren und auseinanderzusetzen. Wo Touristen aus ehemaligen europäischen Kolonialmächten hier entweder zur Identifikation oder zur Schuldzuweisung an die andere Nation führen würden, gesteht man den Schweizerinnen eine gewisse Botenrolle zu. Schweizer Touristinnen – Frauen sowieso, sie waren erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts auf Kolonialreisen dabei – dürfen abwertend über die Unfähigkeit der Nauruer sprechen, ihre wirtschaftliche Prosperität zu erhalten, die sie zeitweise zur wohlhabendsten Republik gemacht hat, und die sie wieder verspielt haben. Sie waren ja niemals „Täter“, über diesen Verdacht sind sie erhaben.5
Shit Island vereint in sich unterschiedliche Ästhetiken. Diese sollen den Zuschauer darauf stoßen, dass er zwar in unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Intentionen an Kolonien und ehemalige koloniale Gebiete herantritt, dass aber die Sicht immer die europäische und eurozentristische Perspektive bleibt. Die Absicht der Intervention dient immer dem eigenen Vorteil.
Kunst = Kultur?
Eines der größten postkolonialen „Minenfelder“, das in Shit Island nicht thematisiert wurde, aber Gegenstand des gleichnamigen Panels war, stellt die postkoloniale Aufarbeitung des Kolonialismus durch die Europäer dar. Ramiro Noriega, der ecuadorianische Künstler von der Universidad de las Artes in Quito, beschreibt die systemimmanente Problematik mit der Gefahr des Verschwindens. Wie bereits Ramzi Maqdisi aus Palästina, um hier meinerseits gleich den Fehler zu begehen, den er im Talk of the day They call me an Artist beklagt, dass er eben nicht zuvorderst „an artist“ genannt wird, sondern a „Palestinian artist,“ er aber diese Reihenfolge, wie die meisten Künstler, umgedreht wissen will. Er ist ein Künstler, unabhängig von seiner nationalen Herkunft. Kunst ist nicht national. Ein Labeling dieser Art relativiert die Kunst und reduziert den Künstler auf einen Bewahrer des „National Heritage“. In der Vergabe von Fördermitteln kann dieses Labeling jedoch von Vorteil sein.
Im Bemühen, vergangenes, oft von Kolonialherren zerstörtes Kulturgut zu konservieren oder auch wieder zu beleben, was im immateriellen Kulturerbe der UNESCO geschieht, wird erneut in alten Kolonialstrukturen gedacht. Ramiro Noriega beschreibt das als Verblassen und Verschwinden. Eine aktuelle Kunstszene hat keine Chance, da sie dem Erbe und der Perspektive des Erbes unterworfen wird. Diese Perspektive manifestiert sich im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union und wird selten reflektiert. Der europäische Blick auf Kunst ist in der Regel auf die Bildung von Traditionslinien gepolt, der persönliche Kanon, aus dem man sich als Künstler entwickelt (hat) und der nationales oder zumindest regionales Erbe darstellt. Die Gleichsetzung der Begriffe „Kunst“ und „Kultur“ ist in Europa in Gesetzen und Leitlinien manifestiert und zeigt an dieser Stelle ihre große Problematik. Im Artikel 167 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union heißt es: „(1) Die Union leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.“ Diese Definition setzt nationales Erbe und Kunst zwar nicht in eins, aber unterstützt diese Perspektive und hat als Gesetz auch eine stark normative Wirkung.
Der Artikel 27 Absatz 1 der Erklärung der Menschenrechte vom 10.12.1948 lautet: „Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzunehmen.“ Sie trennt zwischen Kunst und kulturellem Leben, formuliert das Menschenrecht hinsichtlich der Kunst aber nur passiv. Dass Ramiro Noriega hier nicht allein steht, sondern das Gefühl vieler Künstler aus aller Welt beschreibt, zeigen die Reaktionen der Teilnehmer an diesem gut besuchten Panel. Viele bedanken sich bei ihm für die Thematisierung.
Postkoloniale Minenfelder sind vielfältig und können immer wieder nur punktuell thematisiert werden. Der Produktion Shit Island ist es gelungen, eine nachdenkliche und trotzdem unterhaltsame Bandbreite anzureißen und damit auch in viele Panels auszustrahlen und, anders als die Insel Nauru, nachhaltig zu wirken. Es ist zu hoffen, dass sich das auch strukturell für die freie Theaterszene ehemaliger Kolonien genauso wie im Denken ehemaliger Kolonialmächte niederschlägt.
Quellen
Anghie, Anthony: „Certain Phosphate Lands in Nauru“, in: The American Journal of International Law, Cambridge University Press Vol. 87, No. 2 (Apr. 1993), S. 282–288.
Folliet, Luc: Nauru. Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte, Berlin 2011.
Forster, Georg: Entdeckungsreise nach Tahiti und in die Südsee 1772 – 1775, Tübingen 2015.
Futur3: Shit Island – Ein postkolonialer Südsee-Traum. [Programmheft], 2018.
Harley I. Manner, Randolph R. Thaman and David C. Hassall: „Phosphate Mining Induced Vegetation Changes on Nauru Island“, in: Ecology, Wiley on behalf of the Ecological Society of America, Vol. 65, No. 5 (Oct. 1984), S. 1454–1465.
International Legal Materials: „Australia – Republic of Nauru: Settlement of the case in the international court of justice concerning certain phosphate Lands in Nauru“, in: International Legal Materials, Cambridge University Press, Vol. 32, No. 6 (November 1993), S. 1471–1479.
1Luc Folliet: Nauru. Die verwüstete Insel. Wie der Kapitalismus das reichste Land der Erde zerstörte, Berlin 2011, S. 9.
2Ebd.
3International Legal Materials (1993): Australia – Republic of Nauru: Settlement of the case in the international court of justice concerning certain phosphate Lands in Nauru. International Legal Materials, Cambridge University Press, Vol. 32, No. 6 (November 1993), S. 1471–1479.
4Anthony Anghie (1993): „Certain Phosphate Lands in Nauru“, in: The American Journal of International Law, Cambridge University Press Vol. 87, No. 2 (Apr., 1993), S. 282–288.
5Die Frage, wer über wen in Form von Kunst, und auch innerhalb einer Kunstform wie hier, sprechen darf, wurde auch im Talk of the Day They call me an artist von Ramzi Maqdisi thematisiert.