Stückentwicklungen
Szenische Diskurspotentiale und dramaturgische Transformationen
von Stefan Tigges
Erschienen in: Recherchen 155: TogetherText – Prozessual erzeugte Texte im Gegenwartstheater (12/2020)
Assoziationen: Dramatik Open Access
Stückentwicklungen, so mein Ausgangspunkt, rücken sowohl in der künstlerischen Ausbildungspraxis, d. h. in Schauspiel-, Regie- und Dramaturgiestudiengängen, als auch in der Aufführungspraxis seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus der Aufmerksamkeit. So stellen Stückentwicklungen im Schauspiel gegenwärtig längst keine ästhetische Randerscheinung mehr dar, sondern gehören selbstverständlich zu dessen Repertoire. Noch selbstverständlicher als in Stadttheatern treten Stückentwicklungen in der Freien Szene auf, da diese ästhetisch noch experimentierfreudiger operiert, was sich ebenso in der Vielfalt der Formen von Stückentwicklungen abbildet, die wiederrum unmittelbar mit den spezifischen Produktionsweisen zusammenwirken beziehungsweise aus diesen resultieren.
Einen Sonderfall bilden das Kinder- und Jugendtheater sowie an Theatern angegliederte, zumeist pädagogisch ausgerichtete Jugendklubs oder Bürgerbühnen, in denen Stückentwicklungen aufgrund der stark partizipativ ausgerichteten Spielästhetiken und des emanzipatorischen Selbstverständnisses spätestens seit Ende der sechziger Jahre eher die Regel als eine Ausnahme darstellen.1 Gleiches gilt – wenn auch unter ganz anderen ästhetischen Rahmenbedingungen und Spielregeln – spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert für den Tanz, den Jazz sowie kurz danach für die sich begründende Performancepraxis, da kollektive Stückentwicklungen in diesen Kunstformen de facto die künstlerische DNA bilden.
Die zunehmende Bedeutung von Stückentwicklungen zeigte sich ebenso beim Mülheimer Dramatikerpreis, der 2007 an Rimini Protokoll für Karl Marx. Das Kapital. Erster...