Wissenschaft
Die Zauberflöte ist keine Oper für Kinder!?
Erschienen in: IXYPSILONZETT Jahrbuch 2023: laut & denken (01/2023)
Assoziationen: Musiktheater Wissenschaft Komische Oper Berlin Hessisches Staatstheater Wiesbaden
„Aber da ist doch dieser tolle Vogelmann mit den Federn! Eine Königin, ein Prinz, der eine Prinzessin rettet, der Kampf mit der Schlange! Das darf man doch den Kindern nicht nehmen!“1
So klangen Kommentare einiger Eltern, die ich für die Vorüberlegungen zu diesem Text ganz polemisch fragte: Warum eigentlich immer Die Zauberflöte als Oper für Kinder? Bevor wir die gewagte These aufstellen, dass Die Zauberflöte im Grunde genommen keine Oper für Kinder ist und wir ihnen unbedacht eine der beliebtesten Opern ‚nehmen‘, schauen wir uns erstmal eine dieser zahlreichen Inszenierungen an, die große Bühnen bespielen und Grundschulkinder in Massen durch das Theater schleusen.
Die Zauberflöte für Kinder in einer Bearbeitung von Patrick Lange und Carsten Kochan im großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden beginnt mit einer partizipativen Schauspieleinlage. Eine Putzfrau fegt die Bühne und unterhält sich mit der Dirigentin. Beide wundern sich, wo eigentlich die Sänger*innen sind. Schnell wird klar: Unterstützung muss aus dem Publikum kommen. Gesucht werden zunächst drei Knaben. Es schießen die Finger in die Höhe, es kommt zu Missverständnissen, vier Kinder landen auf der Bühne, eines wird enttäuscht zurückgeschickt. Eine Königin wird gesucht, eine Prinzessin wird gefunden, die Besetzung hat sich unter das Publikum gemischt. Die Putzfrau entpuppt sich als Vermittlerin, die durch die verkürzte Handlung führt, die Distanz zum Zuschauerraum durch direkte Ansprache überbrückt und die Ernsthaftigkeit der Handlung auflockert. Alles in allem eine schöne Idee, schauspielerisch sehr gut umgesetzt, von Eltern und Kindern mit Applaus beschenkt. Was gibt es daran zu kritisieren? Das Problem zieht sich durch das gesamte Stück und ist immer wieder bei Operninszenierungen für Kinder zu bemängeln: Gut gemeinte Theaterpädagogik ersetzt keine Musikvermittlung. Wenn es im Anfangsdialog heißt: „Gesucht wird ein Koloratursopran“, und die Putzfrau nachfragt: „Klobürsten Sopran?“, dann gibt es zwar Gelächter über die vertauschten Begriffe. Was nun aber einen Koloratursopran ausmacht, wird nicht erklärt. Musikvermittlung bedeutet zum Beispiel Sensibilisierung für Klänge, Instrumente und Dynamiken. Warum findet sie so selten Eingang in Operninszenierungen? Woher wissen Kinder, dass Pamina traurig ist? Kinder können schon früh zwischen Dur und Moll unterscheiden, ohne dass sie die Begriffe kennen. Warum fallen sie nie in Inszenierungen, die den Ansatz haben eine verkürzte Handlung zu vermitteln?
Bei den Burgfestspielen in Bad Vilbel werden Schulklassen u.a. mit Material für den Unterricht versorgt, wodurch sich eine tiefgreifende Vermittlungsmöglichkeit bietet. In Bezug auf den Lautstärkepegel im Zuschauerraum ergibt sich jedoch die Frage: Was nehmen die Kinder hier überhaupt mit? Die attraktive Open Air Bühne stellt die Sänger*innen vor schwierige akustische Herausforderungen, der Einsatz von Mikrophonen ist unerlässlich. Damit kleinere Spielstätten Kosten sparen, wird auf ein Orchester verzichtet. Musikstudierende werden für die Oper für Kinder eingesetzt, nach dem Motto, die Kinder hören oder kennen es ja nicht besser. Gesangstechnisch gehört Die Zauberflöte jedoch zu einer der schwersten Opern Mozarts. Wenn Kindern langweilig ist, werden sie laut. Sind sie gefordert, inspiriert, können sie gebannt zuhören. Natürlich klingt es vornehmer zu sagen, die Kinder gehen zu den Burgfestspielen oder ins große Haus im Staatstheater, als ins Foyer eines Theaters, wo beispielsweise die Aramsamsam-Mitmachkonzerte stattfinden. Aber die beeindruckende Konzentrationsfähigkeit und Mitmachbereitschaft der Kinder, die dort im Foyer der Oper Frankfurt auf dem Boden sitzen, im Vergleich zu dem Herumrutschen auf den Sitzreihen des großen Hauses, spricht Bände! Eine kleine Bühne bietet den akustischen und visuellen Raum, Kinder für die Feinheiten der Musik zu sensibilisieren. Instrumente können aus der Nähe erlebt werden, Musiker*innen können direkt mit dem erzeugten Klang in Verbindung gebracht werden, alle Kinder können bei kleinen Aktionen mitwirken. Wenn sich eine Zauberflöten-Inszenierung für Kinder vornimmt, partizipative Elemente umzusetzen, warum dann keine musikalischen?
Spätestens jetzt muss kritisch gefragt werden, warum ausgerechnet Die Zauberflöte als Oper für Kinder herhalten muss. Wir alle kennen die berühmten Melodien, sie sind geniale Ohrwürmer, die schnell auch Kindern vertraut sind. Für Profis sind es komplexe Partien, für Laien in angenehmer Lage nachsingbar. Der deutsche Text und die gesprochenen Dialoge ermöglichen ein einfaches Verständnis der Handlung und die Märchenmotive können kindgerecht in Szene gesetzt werden. Es spricht also alles dafür, Die Zauberflöte als Oper für Kinder zu inszenieren. Oder? Die Freimaurer-Symbolik ist ein Beispiel für die Komplexität der Handlung, ein Aspekt, der in den Inszenierungen für Kinder meist übergangen wird. Ebenso die Vielschichtigkeit der Rollen. So mag Papageno sicherlich als buffo-Rolle angelegt sein, doch sein tief empfundener Liebeskummer führt sogar dazu, Selbstmordgedanken zu äußern: „‘s ist umsonst, es ist vergebens, müde bin ich meines Lebens! Sterben macht der Lieb‘ ein End‘, wenn’s im Herzen noch so brennt.“2 Natürlich ist es einfach, dies humorvoll in Szene zu setzen, sodass das Publikum über Papagenos Hoffnungslosigkeit lacht. Aber fällt es wirklich so schwer, die Leiden des jungen Papageno ernst zu nehmen? Jan Assmann stellt ebenfalls in Bezug auf die Komplexität der Handlung fest, „dass es ständig um Tod und Selbstmord geht“,3 „[…] vom Zuschauer wird verlangt, die Späße ebenso herzlich zu belachen wie den Ernst in aller Tiefe zu empfinden.“4 Papageno, Papagena, Tamino und Pamina stehen an der schwierigen Schwelle im Leben zum Erwachsensein. Sie müssen sich der Verantwortung stellen, selbstbestimmt durchs Leben zu gehen. Vom „Jüngling“ zum „Mann“5 zu reifen, dabei allein mit den Verlockungen der „[…] süßen Triebe…“6 umzugehen und teilweise entwurzelt7 nach Orientierung im Leben zu suchen, entscheidet nicht nur über das Leben jedes einzelnen Individuums, sondern kann die Zukunft einer ganzen Generation prägen. Es spricht alles dafür, Die Zauberfl öte als Oper für Jugendliche zu begreifen. Aber Jugendliche als Opernpublikum direkt anzusprechen wäre natürlich kein Garant für gefüllte Theaterkassen. Wenn sich Tamino in ein Bild von Pamina verliebt, dann ist das im Grunde genommen nicht weit entfernt von der aktuellen Online-Datingpraxis. Die Inszenierung von Barrie Kosky an der Komischen Oper Berlin, dürfte einen neuen Maßstab gesetzt haben. Der comichafte Stil, die düster skizzierte Handlung, die geniale Einbettung von Projektion und Spiel und letztendlich der Mut, von alten Federkostümen abzusehen, hat die Inszenierung zehn Jahre zu Erfolg gebracht. Hier wird nicht nur ein jüngeres Publikum angesprochen, es entspricht meiner Ansicht nach auch den fundamentalen Thematiken des Stückes, die sonst in der Inszenierung für Kinder gerne gestrichen werden. Wofür inszenieren wir berühmte Stoffe, wenn wir alles Vielschichtige und Komplexe streichen? Warum ist uns der Fokus auf die (gekürzte) Handlung scheinbar wichtiger als die musikalischen Elemente? Verbirgt sich dahinter der Wunsch nach einer Bewahrung eines Kanons, Die Zauberflöte als Kulturgut, die nicht verloren gehen darf? Zahlreiche Adaptionen in anderen Formaten scheinen dadurch motiviert. Während kleine Lego-Figuren in der Lego-Oper. Die Zauberflöte vom BR-Klassik die Handlung nachspielen, kann man im Computerspiel Die Zauberflöte. La flûte enchanté (Lugert Verlag 2004) mit einer Schlange kämpfen. Was wollen solche Konzepte erreichen? Wollen wir Kinder für Opern (und damit für den Opernbesuch) begeistern, oder wollen wir ihnen einen Bildungskanon mit auf den Weg geben, bei dem Titel und Namen wichtiger sind als das Erlernen musikalischer Hörgewohnheiten? Natürlich ist nicht alles schlecht an solchen Formaten. Vor allem Soundbücher wie Hörst du „Die Zauberflöte“ (Fischer Verlag 2017) erreichen meiner Ansicht nach das Ziel, Kinder für klassische Melodien zu begeistern. Natürlich geht es dabei nicht immer um die Schönheit der Melodien oder um innovative Musikvermittlung. Aber auch dieses einfache Herumdrücken lässt hochwertige Opernmusik im Kinderzimmer erklingen.
Es ist scheinbar immer noch nicht überall angekommen, dass es zahlreiche Alternativen gibt, Kindern Die Zauberflöte näher zu bringen. Deswegen: Ohren und Augen auf für neue Kinderopern. Und wenn es unbedingt wieder Die Zauberflöte sein muss, dann bitte mit Musikvermittlung auf der Bühne.
1 Eltern über ihre Erfahrungen mit der Zauberflöte für Kinder, Dialoge mit der Autorin bei den Vorüberlegungen zu diesem Text.
2 „Mozart. Die Zauberflöte“ Klavierauszug Breitkopf und Härtel. S. 161. (19. Auftritt Papageno).
3 Assmann, Jan (2018): „Die Zauberflöte. Eine Oper mit zwei Gesichtern“. Picus Verlag Wien. S. 69.
4 Ebd., S. 10.
5 „Mozart. Die Zauberflöte“ Klavierauszug Breitkopf und Härtel. S. 57 (15. Auftritt Die drei Knaben: „[…] kurz, sei ein Mann! Dann, Jüngling, wirst du männlich siegen“.)
6 Ebd., S. 53 (14. Auftritt Pamina und Papageno).
7 Ebd., S. 23 (2. Auftritt Tamino und Papageno: „Ich weiß nicht mehr und nicht weniger, als daß mich ein alter, aber sehr lustiger Mann auferzogen und ernährt hat“.