Theater der Zeit

Anzeige

Auftritt

Theater an der Wien: Die Verlorenen

„Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg – Musikalische Leitung Thomas Sanderling, Regie Vasily Barkhatov, Bühne Christian Schmidt, Kostüm Stefanie Seitz, Licht Alexander Sivaev, Video Christian Borchers

von Susanne Dressler

Assoziationen: Österreich Theaterkritiken Musiktheater Vasily Barkhatov Mieczysław Weinberg Theater an der Wien

Tatjana Schneider (Alexandra), Bernadette Kizik (Adelaida) und  Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin) in „Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg am Theater an der Wien.
Tatjana Schneider (Alexandra), Bernadette Kizik (Adelaida) und Dmitry Golovnin (Fürst Myschkin) in „Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg am Theater an der Wien.Foto: Monika Rittershaus

Anzeige

Anzeige

Es dreht sich immer alles um die Damen. Oder nicht? Oder um die Liebe? Oder was immer man darunter versteht? Wie so oft in der Opernwelt stehen nicht die starken, unabhängigen Frauen im Fokus, sondern die jungen, schönen, unschuldigen oder vom sogenannten Wege abgekommenen Vertreterinnen ihres Geschlechts. Und diese werden heftig von einem oder auch von mehreren Männern begehrt. Ein Happy End ist selten in Sicht.

Die literarische Vorlage zur Oper „Der Idiot“ von Mieczysław Weinberg macht da keine Ausnahme. Fjodor Michailowitsch Dostojewski schickt seinen Hauptakteur Fürst Myschkin auf Reisen: von Russland zur Erholung in die Schweiz und zurück. Bei der Heimfahrt sieht der „reine Tor“ das Porträt der Sexarbeiterin (die man damals natürlich nch anders genannt hat) Nastassja und es ist um ihn geschehen. „Nur aus Mitleid würde er lieben“ betont Myschkin, der seine Ansichten jedermann ungefragt mitteilt und von dem sich die konservative Peterburger Gesellschaft rasch abwendet. Erwartungsgemäß endet die Beziehung letal, wenig erstaunlich: das Opfer ist Nastassja. Sie stirbt allerdings nicht durch die Hand Myschkins, sondern durch das Messer seines Freundes wie Nebenbuhlers Rogoschin. Die zweite große Frauenrolle des Werkes ist die der Bürgertochter Aglaja, in die sich der unbedarfte Fürst natürlich auch verliebt. Die Frauen geraten zwar aneinander, keine bekommt beziehungsweise will letztendlich den Fürsten. Was hier in wenigen Sätzen verknappt erzählt wird, verliert sich im Opernlibretto (Alexander Medwedew) genauso wie im 900 Seiten starken Roman in zahllosen Nebenschauplätzen. Die einzelnen Handlungsstränge laufen wie ungezählte Flußläufe mäandernd aus- und zueinander, um letztendlich doch im finalen Delta einer Erzählung zu münden: ein banales blutiges Ende, weit entfernt von Liebe und Zuneigung. 

Mieczysław Weinberg (1919–1996) ist ein vom Schicksal gebeutelter, ein zu Unrecht fast Vergessener der Musikwelt, ein Komponist, der seine späte Anerkennung vor wenigen Jahren nicht mehr erleben durfte. In Polen geboren musste er 1939 wegen seiner jüdischen Abstammung fliehen. Sein Ziel war Russland, hier geriet er in die Fänge des Stalinregimes, landete im Gulag und nur der Tod des Diktators verhinderte ein würdeloses Sterben für Weinberg. Der große Mentor war auch sein Freund: Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch förderte den aus einem musikalischen Elternhaus stammenden Weinberg und dessen Kompositionen können den Einfluss des großen Komponisten nicht verleugnen. Im Gegenteil man wünscht sich mehr von den imposanten Klangwellen, die zu selten durch die Oper rollen. Dann nämlich spürt man die Affinität des Komponisten zum Genre Film, dann baut sich in der düsteren Welt Spannung auf. Von den dreieinhalb Stunden sind für diese aufregenden Momente maximal 20 Minuten reserviert, der Rest offeriert sich als ein ruhig dahin dümpelndes Gewässer an Tönen, die endlose Dialoge unterfüttern.

Zum Glück gibt es ein Bühnenbild, das Bewegung suggeriert: Ein Zugwaggon fährt von einer Szene zur nächsten. Das immer gleiche Setting läutet den jeweiligen Wechsel an. Auf den Sitzbänken tummeln stets die gleichen Personen: Kinder spielen Ball, Rogoschin wetzt sein Messer und Myschkin fällt das Kartenspiel zu Boden – und täglich grüßt das Murmeltier. Als Zuschauer:in ist man schnell in einer depressiven Grundstimmung und hofft auf ein Weiterkommen durch die Zugreise (Bühnenbild: Christian Schmidt). Eine Hoffnung, die selten erfüllt wird. Regisseur Vasily Barkhatov bemühte sich den Figuren Leben einzuhauchen, aber es gelingt nicht. Sie bleiben Schablonen ihrer selbst.

Zum Glück dürfen die Darsteller singen. Die endlosen Dialoge werden mit durch die wohlklingenden Stimmen zwar nicht verständlicher, aber erträglicher. Der Tenor Dmitry Golovnin (Myschkin) führt die ausgezeichnete Sänger:innen Riege an, die Ukrainerin Ekaterina Sannikova (Nastassia) weiß – rollengerecht – zu verführen, der russische Baßbariton Dmitry Cheblykov (Rogoschin) lässt die dunklen Töne wohlig rollen, herausragend meistern den Abend auch Petr Sokolov (Lebendjew) und Ieva Prudnikovaité (Agalja). Bestens betreut werden die Sänger:innen der österreichischen Erstaufführung durch Thomas Sanderling. Der Dirigent ist ein ausgewiesener Weinberg-Spezialist, der selbstverständlich noch mit dem Komponisten arbeiten durfte. Einen besonders heftigen Applaus durfte das ORF Radio-Symphonieorchester Wien einheimsen. Das Publikum – nach der Pause sind verdächtig viele freie Sitzplätze zu entdecken – wirkt erschöpft als das letzte Mal der Waggon durch die Winterlandschaft zuckelt, aber es würdigt die Leistung mit einem heftigen kurzen Applaus. 

Erschienen am 3.5.2023

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Recherchen 167
Cover Rampe vol.2
Cover B. K. Tragelehn

Anzeige