Theater der Zeit

Auftritt

Oper Frankfurt: Stratosphärischer Würgeengel

„Lulu“ von Alban Berg nach Frank Wedekind – Musikalische Leitung Thomas Guggeis, Inszenierung Nadja Loschky, Bühne Katharina Schlipf, Kostüme Irina Spreckelmeyer

von Teresa Pieschacón Raphael

Assoziationen: Theaterkritiken Hessen Musiktheater Oper Frankfurt

Brenda Rae als „Lulu“ in der gleichnamigen Oper in der Regie von Nadja Loschky. Foto Barbara Aumüller
Brenda Rae als „Lulu“ in der gleichnamigen Oper in der Regie von Nadja LoschkyFoto: Barbara Aumüller

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Kurz vor Schluss, nach etwa drei Stunden Musik, knallt es plötzlich aus dem Orchestergraben: ein markerschütternder Akkord. Alle zwölf Töne auf einmal. Lulu ist tot. Der letzte Mord an diesem Abend.

Zwei Dramen des Fin-de-Siècle-Autors Frank Wedekind hatten Alban Berg (1885–1935) zu seiner Oper „Lulu“ inspiriert, der tragischen Geschichte um den sozialen Abstieg einer jungen Frau – von der wohlhabenden Edelkurtisane zur ärmlichen Prostituierten. Kurz vor Vollendung des dritten Aktes starb Berg. Das Werk kam 1937 als Fragment in Zürich zur Uraufführung, die von Friedrich Cerha vervollständigte Fassung rund 40 Jahre später an der Pariser Oper. Die Frankfurter Oper bringt jetzt unter der Regie von Nadja Loschky eine neue Produktion heraus. Ein regelrechter Glücksfall für das Haus! Denn Loschkys „Lulu“-Inszenierung, die sie in der Zeit zwischen den Weltkriegen ansiedelt, ist stilsicher und frei von den mitunter infantilen und selbstbezogenen Geschmacklosigkeiten und Klischees, die man bei derart einschlägigen Sujets (Londoner Prostituiertenmilieu inklusive Jack The Ripper) immer wieder auf der Bühne erlebt. Loschkys größtes Verdienst: Sie urteilt nicht, setzt nicht auf wohlfeile Sozialkritik und legt keine aufdringliche Betroffenheit für das Schicksal ihre Hauptfigur an den Tag. Und auch keinen feministischen Furor. Lulu ist für Loschky weder eine femme fatale noch eine femme fragile, sondern eine Frau, die ihr Handeln instinktiv an dem ausrichtet, „was an Trieb und Dunkelheit dem Menschen innewohnt“, so Loschky. Sie ist Henkerin und Opfer zugleich, pervers und unschuldig, „Würgeengel“ und das „verkörperte Lebensglück“. Sie treibt ihre Verehrer und Ehemänner in den Selbstmord oder erschießt sie gleich selbst und wird von einem Freier ermordet. Eine buchstäbliche Mordspartie für die amerikanische Koloratursopranistin Brenda Rae, die hier ein fulminantes Rollendebüt gab. Mit ihrem silbrigen Sopran und stratosphärischen Koloraturen zog sie auf jeder Ebene alle Register und verstand es auch, Bergs subversive Komik zu vermitteln. „Bringen Sie doch bitte das Atelier in Ordnung“, befiehlt sie, nachdem einer ihrer Liebhaber tot auf dem Boden liegt.

Schräg sind sie fast alle, die da in Lulus/Raes Bann geraten, egal ob Kammerdiener, Prinz, Medizinalrat, Theaterdirektor, Journalist oder Gymnasiast. Akribisch und stets auf feinste Charakterzeichnung bedacht, lässt Loschky sie alle in einem raumhohen, braungrau gefärbten, halb offenen rotierenden Riesenzylinder (Bühne Katharina Schlipf), der wie ein Kerker wirkt, einander umkreisen und belauern. Da ist der Greis Schigolch mit Guildo-Horn-Frisur (mit fahler Stimme: Alfred Reiter), der auf rätselhafte Weise mit Lulus Vergangenheit verbunden ist. Dort der besessene Maler (emphatisch: Theo Lebow), der Lulus zweiter Mann wird. Bald wird sie ihn in den Selbstmord treiben. Lulus erster Mann, Medizinalrat Dr. Goll (solide: Erik van Heyningen), hat sich vorher schon mit einem Herzinfarkt von dieser Welt verabschiedet und den Weg frei gemacht für den bleichen Chefredakteur Dr. Schön (Simon Neal mit kraftvollem Bariton und fantastischer Diktion), der Lulus dritter Ehemann wird. Als auch dieser das Zeitliche segnet, Lulu hat ihn erschossen, flieht sie nach Paris mit Alwa (AJ Glueckert), dem Sohn von Dr. Schön, und der Gräfin Geschwitz (stimmlich warm: Claudia Mahnke), der einzigen, die in reiner Liebe mit Lulu verbunden ist. Später dann leben sie in großer Armut in London, wo Lulus letzter Kunde, Jack the Ripper, ihrem Leben ein Ende setzt.

Es wird viel gesungen in dieser Oper und noch mehr gesprochen, so dass man mitunter in Anbetracht der vielen Figuren den Überblick verlor. Schweigen durfte nur Anima, eine Tänzerin (Evie Poaros), die die Regisseurin der Protagonistin an die Seite stellte, als Symbol für die verletzte Seele Lulus. Verbunden wurde die hochkomplexe Handlung durch die hoch expressive Musik Bergs. Unglaublich, was sich da musikalisch unter der Leitung von GMD Thomas Guggeis im Graben ereignete! Der Schmerz, die Obsessionen, die Abgründe, all dies war hier regelrecht physisch mit allen Sinnen zu spüren. Emotionen, die völlig vergessen ließen, dass hinter dieser Musik eine strikt spiegelsymmetrisch angelegte Konstruktion voller Zwölftonreihen steckt. „Keine andere Musik aus unserer Zeit ist so menschlich wie die von Berg, und davor erschrecken die Menschen“, sagte einst Theodor W. Adorno. Ein Meisterwerk, das meisterhaft dargeboten wurde!

Erschienen am 8.11.2024

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