Handschriften
Das Maul des Theaters
Welche Formen des Schreibens kommen gegenwärtig in Frankreich auf die Bühne?
von Daniel Loayza
Erschienen in: Theater der Zeit Spezial: Frankreich (10/2017)
Alles passt in das Maul des Theaters. Alles muss in das Maul des Theaters hinein“, erklärte einst der Autor, Schauspieler und Regisseur Georges Lavaudant. Die französischen Bühnen geben ihm Recht. Es ist schier unmöglich, die Diversität der gegenwärtigen Schreibansätze für das Theater in Frankreich zusammenzufassen. Egal welche Unterscheidungen man versuchte vorzunehmen, einen „neuen“ Bereich zu charakterisieren: Man kann sicher sein, dass irgendwo in der Theaterlandschaft bereits ein äußerst lebendiges Gegenbeispiel existiert. Zu einem Zeitpunkt, da als „trans-“ oder „post-“charakterisierte Praktiken (postmodern, postdramatisch, transdisziplinär, Genre übergreifend) quasi selbstverständlich sind, haben die Gegensätze zwischen Individuum und Kollektiv, Original und Zitat, Verbalem und Non-Verbalem, vollendetem Werk und work in progress an Relevanz verloren. Der Begriff écriture („Schreiben“) wird nach und nach zu einer ebenso praktischen wie ungenauen Metapher. Was vielleicht gar nicht so schlecht ist.
1. Genrefragen
Hat die Bühne vollkommen die Macht über den Text übernommen? Zum besseren Verständnis sei daran erinnert, dass in Frankreich eine vom Staat beauftragte Expertenkommission Fördergelder für Uraufführungen zeitgenössischer Theatertexte vergibt (Commission nationale d’aide à la création d’oeuvres dramatiques). Deren dreißig Juroren finden sich unter der Leitung von Artcena, dem ehemaligen Centre National du Théâtre, zusammen, um zweimal pro Jahr mehr als zweihundert Anträge in drei Kategorien...