Auftritt
Theater Aachen: Ein blinder Fleck vor unseren Augen
„Woher und Wohin“ ein MörgensLab Projekt von Clemens Bechtel und Inge Zeppenfeld – Recherche Clemens Bechtel, Inge Zeppenfeld, Inszenierung Clemens Bechtel, Bühne und Kostüme Sabina Moncys, Video David Gerards
von Elisabeth Luft
Erschienen in: Theater der Zeit: Theatermusik – Welttheater – Haus der Kulturen der Welt Berlin (06/2023)
Assoziationen: Nordrhein-Westfalen Theaterkritiken Inge Zeppenfeld Clemens Bechtel Theater Aachen

Menschen warten auf ihre Weiterfahrt und trinken auf die Schnelle einen Kaffee oder sitzen auf ihrem Hab und Gut und vertreiben sich den Tag mit Zeitunglesen. Tauben bevölkern die Haltebuchten, Spritzen liegen auf dem Bordstein, Autos eilen vorbei. Es riecht nach Zigaretten und Abgasen. Bis heute gilt der Aachener Bushof als „ungeliebtes Problemkind“ aus den 70er Jahren. Seit Jahrzehnten ist klar: Hier soll sich etwas ändern. Doch so richtig scheint das nicht zu gelingen, zu kompliziert ist die Gemengelage.
Stadt, Verkehrsverbünde und Investor:innen wollen die Richtung weisen, Mitbürger:innen, Umweltschützer:innen, Einzelhandel, Auto- und Fahrradinitiativen wollen mitreden. Wie kann Stadtplanung da gelingen? Und welche Rolle spielt die Geschichte dieses Bauvorhabens bis heute? Regisseur Clemens Bechtel und Chefdramaturgin Inge Zeppenfeld haben Interviews geführt, in Archiven recherchiert, Baupläne ausgegraben. Inmitten eines Modell-Bushofs aus weißen Holzelementen berichten die Spieler:innen des Aachener Ensembles von pompösen Ausschreibungen, nicht endenden Ratssitzungen und missglückten Nutzungsplänen. Auf Tribünen sitzt das Publikum darum herum, kann sich dem Ausblick auf den Bushof in der Mitte kaum entziehen. Weggucken ist nicht.
Nach der immensen Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, wurde der Bushof im Zuge von städtischer Neuplanung und Wiederaufbau in den 70er Jahren gebaut. Inmitten des Aachener Zentrums, seines Einzelhandels und den pulsierenden Hauptverkehrsadern entstand ein Transitort, der seitdem als sozialer Brennpunkt betitelt wurde, aber eigentlich die städtebaulichen Grundpfeiler Wohnen, Arbeit, Erholung und Verkehr miteinander verbinden soll. Über die Jahre war von Geschäften, Konferenzzimmern und Wohnungen die Rede, im Obergeschoss, direkt über den Haltestellen. Ja sogar eine Eisfläche auf dem Dach des Bushofs sollte realisiert werden. Auch von der Bevölkerung, von Initiativen und Vereinen wurden Visionen entwickelt. Als die Spieler:innen davon erzählen, umkreisen sie den Modellbau auf Rollschuhen: je lebendiger und städteplanerisch fortschrittlicher die Vorschläge werden, desto schneller fahren sie. Als wäre es wagemutig, einen Kindergarten an einem solchen Verkehrsknotenpunkt inmitten des Stadtzentrums zu denken. Gut geplant und mit allen Mitteln moderner urbaner Architektur umgesetzt, klingt das doch eher nach einem Modell der Zukunft, aber realisiert werden konnten solche Vorschläge in Aachen bisher nicht.
Die unterschiedlichen verkehrspolitischen, stadtplanerischen und sozialen Überlegungen scheinen bisher vor allem zu Stillstand geführt zu haben, Fortschritt kommt nur langsam. Je komplizierter die Gemengelage, desto schneller werden die Berichte der Spieler:innen, Stadtpläne in rasantem Tempo von der Wand gerissen, Sitzungsprotokolle werden zu Meterware. Eine zukunftsweisende und tragfähige Entscheidung muss endlich her für die Stadt Aachen. Auch, um in der Nähe zu Belgien und den Niederlanden bestehen zu können, das wird klar an diesem Abend.
Mit den Erzählungen aus den 60ern, 70ern oder 80ern verändern sich auch die Kostüme, strenge Frisuren, graue Röcke und Anzüge, wechseln zu wallenden Haaren, großen Brillen Schlaghosen und Lederjacke. „Ein schöner Ort war das hier noch nie“, ertönt die Stimme einer Passantin aus dem Off. Über die Jahre erschwerten die immer zahlreicheren und schnelleren Autos das Leben an dieser Stelle der Stadt zunehmend, der Verkehr wurde zäher, die Gefahren nahmen zu, die Luftvermutzung wurde immer stärker. Passiert ist trotzdem nicht viel: Eine öffentliche Toilette wurde gebaut (für die Frauen 50 Cent zahlen), studentische Veranstaltungen für mehr Begegnung werden bis dato meist nur auf Zeit erlaubt.
Auf der Bühne begutachtet Stefanie Rösner konzentriert die einzelnen Holzelemente, schiebt sie hin- und her, sortiert sie neu. Etwas, was in der Realität nicht so einfach ist, wie ein Studierender der Hochschule RWTH Aachen in einer Videoeinblendung berichtet. In seiner Masterarbeit über den Bushof entwarf er einen Plan für die nächsten zehn Jahre und stellte Überlegungen an, was zur Öffnung dieses „Unorts“ passieren müsse. Sein Fazit: Mit dem arbeiten, was da ist, komplett neu funktioniert nur selten.
Aber ob dieser Ort das Potential hat, zu einem gesellschaftlichen Treffpunkt zu werden, anstatt Gefahren und soziale Ungleichheit noch zu verstärken? Diese Frage bleibt offen, das seit Jahrzehnten ersehnte Ergebnis bekommen wir heute natürlich nicht präsentiert. Auch bleiben die historischen, politischen und städtebaulichen Schilderungen der Spieler:innen bisweilen sehr theoretisch und akademisch, überraschen aber immer wieder auch durch Leichtigkeit und Witz: Der komödiantische Blick auf die Bürokratie unseres Landes und der von Tim Knapper mit stolzgeschwellter Brust gespielte Oberstadtrat, ziemlich steif und kleinkariert, sind eine wahre Freude. Wenn die Spieler:innen es sich auf den Holzelementen bequem machen, machen sie den Bushof zu ihrem Ort, einem über dessen Zukunft sie mitentscheiden können. So entsteht auf der Bühne und später im Foyer ein Raum für Diskussion und gemeinsame Aushandlung innerhalb der Stadt. Und alle sind eingeladen, mitzureden.