Die Erkundung von Begehren und Betrug: Wiederauferstehung der Vögel von Thiemo Strutzenberger, basierend auf „Tropenliebe“ von Bernhard C. Schär. Uraufführung 24. Januar 2020 Theater Basel
Bühne und Kostüme Lisa Däßler, Choreografie Gina Gurtner, Licht Roland Heid, Dramaturgie Michael Billenkamp, Musik Club Für Melodien
von C. Bernd Sucher
Erschienen in: Radikal jung 2020 – Das Festival für junge Regie (03/2020)
Assoziationen: Thiemo Strutzenberger Theater Basel

Ein seltsames Paar: Fritz und Paul Benedikt Sarasin, Großcousins, Mitglieder der Basler Oberschicht – und schwul. Am Ende des 19. Jahrhunderts in Basel, in der protestantischen Schweiz, ein Ärgernis. Ein Skandal in der Familie und in der Gesellschaft. Zwei Männer, die sich aufmachen in die Fremde. Ihre Forschungsreisen: Fluchten und Selbstfindungen.
Paul Sarasin, der Ältere der beiden, wurde 1856 in Basel geboren; Fritz Sarasin, drei Jahre jünger, wuchs als Sohn des Baumwollfabrikanten und Politikers Felix Sarasin in Basel auf. Er studierte zunächst in Genf, doch wechselte nach einem Semester schon an die Universität Basel. Hier lernte er seinen Vetter Paul kennen. Diese Begegnung war für beide schicksalhaft. Denn sie verliebten sich ineinander. Eine lebenslange Liebesbeziehung, die sie selbst als Nachkommen der mächtigsten Familie der Stadt Basel nicht leben konnten. So zogen sie zunächst gemeinsam nach Würzburg und promovierten beide bei dem Naturforscher Karl Semper in Zoologie. 1883 verließen sie die Schweiz und reisten nach Britisch-Ceylon, wo sie drei Jahre lang blieben, um zoologische und anthropologische Feldforschung zu betreiben.
Katrin Hammerls Inszenierung von „Wiederauferstehung der Vögel“ beginnt mit einer Szene in Basel, im Elternhaus von Paul. Die Familie Sarasin an einem sehr langen Tisch. Das Familienoberhaupt, streng und ein wenig cholerisch, ist unzufrieden mit seinem Sohn und dessen Lebenswandel; die Mutter, nicht minder streng und verbissen religiös, ist gleichfalls wenig angetan von ihrem Sohn und dessen Freund. Diese Wahl missfällt sehr. Dass sie die beiden jungen Männer ziehen lassen und ihre Forschungen finanziell unterstützen, ist Abschiebung, nicht Förderung.
Der Autor Thiemo Strutzenberger griff für sein Stück – entstanden im Rahmen des Autorenförderprogramms Stück Labor Basel – auf Bernhard C. Schärs Buch „Tropenliebe“ zurück. „Die Thematik sprach mich sofort an“, erklärt Katrin Hammerl. „Koloniale Strukturen und die Verstrickung der Schweiz darin, der männliche Forscherdrang des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die Tatsache, dass Fritz und Paul Sarasin und ihre Geschichte eng mit Basel verknüpft sind.“ Und wieso dieser Titel? Katrin Hammerl sieht darin eine große Chance für ihre Arbeit: „Thiemo Strutzenbergers Stücktitel ‚Wiederauferstehung der Vögel‘ eröffnet mehrere Konnotationen. Fritz und Paul Sarasin erforschten in Indonesien unter anderem Vogelarten. Im Zuge der Forschung wurden die Vögel getötet und zum Zweck der Archivierung nach Basel gebracht. Gemeinsam mit einem Ornithologen besuchten Bühnen- und Kostümbildnerin Lisa Däßler und ich das unterirdische Vogelarchiv im Basler Naturhistorischen Museum. Unzählige ausgestopfte Vögel (und in anderen Teilen des Archivs viele weitere Tierarten) liegen dort in Holzschubladen, in Form und Farbe erhalten. Sie haben auf mich einen bleibenden, traurigen Eindruck hinterlassen. Nicht nur Vögel wurden von Fritz und Paul Sarasin getötet, sondern auch viele andere Tiere. Auch Gewalt an Menschen wurde verübt, zum Beispiel, weil sie gegen ihren Willen fotografiert wurden. Es ist aber auch die Lebens- und Liebesgeschichte von Fritz und Paul Sarasin und den anderen Figuren – alle mehr oder weniger von historischen Fakten inspiriert –, die das Stück wiederauferstehen lässt und neu befragt.“
Strutzenberger gliedert sein Drama in zwei Teile. Im ersten sehen wir, in welcher geistigen Enge die beiden Jungen aufwuchsen, bei gleichzeitigem Wohlstand, ausgedrückt durch den riesigen Raum von Lisa Däßler, in dem die Familie residiert. Diskutiert wird an einem großen Tisch. Über ihm schwebt ein Riesenkasten. Wie ein Deckel, unter dem Menschen und Möbel verschwinden und ihr Reden erstickt. Eine Transportkiste nur – oder doch ein Gefängnis? „Unser Bühnenbild ist ein geschlossener Raum. Die Kiste ist auch Sinnbild eines Archivs voller Erinnerungen. Geschichten, die einst archiviert, dann vergessen wurden und jetzt wieder ans Licht gebracht und neu befragt werden. An was wollen wir uns überhaupt erinnern?“
Zu Beginn ist ein Vogel in der Kiste zu hören – wie er flattert, wie er gegen die Wände schlägt. Er scheint gefangen und lebt doch noch. Am Ende hört man ihn nochmal, wie er die Weite sucht. Die Kiste, so Katrin Hammerl, sei auch räumliches Synonym für die drückende Enge einer Basler Kindheit. Alle Figuren kommen anfangs aus der Kiste, alle gekleidet in „protestantisches Weiß“, so die Regisseurin, und verlassen den geschlossenen Raum der Bühne nie. Die Zeugenschaft aller, die immer anwesend sind, gibt dem Text und den Figuren ein Publikum aus mehreren Perspektiven. Für die Gemeinschaft des Erzählens, die Versammlung und die Auseinandersetzung stehen auch die Tische und Stühle als beispielhafte Objekte der Zivilisation.“
Das Familientableau des ersten Teils – die Familie rund um den Tisch – wird in den Tropen mehrdeutiger, dort wird auf, am und um den Tisch gespielt. Die Tische sind dann sowohl „Bankett“ für Fritz und den Missionar Adriani am Ende der Forschungsreise sowie „Zelt“ für Paul und den Diplomaten Brugmann während der Reise. Sie werden auch zu einer Art Podest, das den Protagonisten etwas von ihrer Bodenhaftung nimmt. Die Kiste bewegt sich mächtig über den Köpfen der Figuren, hebt sich und senkt sich und gibt damit der Handlung eine eigene, von außen kommende Dynamik. (Leider wird die Basler Version der Bühne und somit auch der Inszenierung in München nicht realisierbar sein.)
Im zweiten Teil – nichts ändert sich am Raum – sehen wir die jungen Sarasins bei ihren Forschungsarbeiten. Sie interessieren sich vor allem für die evolutionäre Abstammung der Menschen, die sie anhand der Volksgruppen der Weddas auf Ceylon und die der Toala auf Celebes erforschen. Sie sammeln menschliche Schädel und vermessen Menschen. Als würden die Ureinwohner gescannt, fährt ein Lichtrechteck von oben auf die Bühne und wieder herauf.
Sie, die Schweizer Flüchtlinge, ausgegrenzt in Europa, grenzen nun ihrerseits die Ureinwohner aus, gerieren sich als Herrenmenschen. Und diskutieren mit dem Missionar Adriani und dem Übersetzer und Diplomaten Brugmann die bedeutsamsten Fragen. Wie lässt sich Wissenschaft und Religion vereinbaren; welche Auswirkungen hat der Kolonialismus und was bedeutet die Sklaverei? Diese Diskurse machen zweierlei deutlich: Die in der Schweiz Unterdrückten unterdrücken in der Fremde; sie beuten aus und benutzen die Menschen, denen sie begegnen, wahrscheinlich auch sexuell. Katrin Hammerl macht noch etwas deutlich, Adriani und Brugmann, auch sie haben ihre Heimat verlassen aus eben den Gründen, die die beiden Sarasins aus Basel trieb. Es ereignen sich seelische und körperliche Annäherungen der vier Männer. Es herrscht ein Begehren, was die vier jungen Schauspieler – Simon Kirsch, Maximilian Kraus, Urs Peter Halter und Jonas Götzingen – auf die diskreteste Weise, zärtlich und vorsichtig offenbaren. Ängstlich, Abweisungen befürchtend.
In diesem zweiten Teil, so erklärt die Regisseurin, agieren die Figuren im Spannungsfeld zwischen immer wiederkehrenden Gedanken einerseits sowie Macht, Status, Begehren und Liebe andererseits. „Interessant ist, dass die sich eigentlich Liebenden Fritz und Paul schließlich situativ getrennt sind und jeweils im Gespräch mit einem anderen Mann ein Gegenüber suchen. Die Liebesgeschichte von Fritz und Paul erzählt sich also in großen Teilen auch durch die Abwesenheit des anderen. Am Ende bleibt jede der Figuren für sich allein und findet nur vorübergehend Berührungspunkte mit den anderen.“
Für die Tropen bietet Katrin Hammerl vor allem akustische und wenig szenische Andeutungen. Und doch hören wir nicht allein Vogelschreie, angestimmt von dem kleinen Ensemble, das die Nebenrollen übernommen hat, nein: Die wiederauferstandenen, bunt und exotisch gekleideten Vögel mischen sich ein, sie kommentieren und richten. Was hat es mit dem Vögel-Spielen auf sich, warum kommen sie überhaupt, manchmal sogar geschwätzig, vor? „Die Vögel blicken aus der Vogelperspektive auf das Geschehen und plaudern über Sklaverei, den Einmarsch der Niederländer in Südostasien, über Geschichtsschreibung, über die Herrschaft des Archivs und die Frage, welche Ereignisse es eigentlich enthält. Mit Lust an der Formulierung teilen sie dem Publikum teilweise schwere Fakten leichtfertig mit: Sie tratschen, zwitschern sozusagen. Wenn Fritz, Paul und Diplomat Brugmann die Vögel in der Inszenierung aufsammeln und begutachten, begehren diese nicht auf, sondern fügen sich, als wollten sie die Beispielhaftigkeit der Vorgänge vorführen und damit ihre Souveränität behalten. Im zweiten Teil sind sie stille Zeugen der langen Auseinandersetzung zwischen Paul und Brugmann sowie Fritz und Adriani. Erst durch ihre Live-Musik agieren sie wieder, verstärken oder unterlaufen die endlos scheinenden Gedanken der in ihrer Hybris gefangenen Männer Fritz und Paul.“
„Wiederauferstehung der Vögel“ ist eine Auseinandersetzung mit der Schweizer Geschichte und der Geschichte des europäischen Kolonialismus; sie ist Spurensicherung und Erkundung von Begehren. Katrin Hammerl nähert sich den Themen mit der allergrößten Sensibilität und mit vier faszinierenden Darstellern, die in ihrem Spiel viel wagen. Sie steuert zwar das Interesse und den Blick der Zuschauer, aber sie indoktriniert nicht. Sie richtet nicht. Sie zeigt! Und respektiert die Sprache des jungen Dramatikers: „Strutzenberger hat den Jambus gewählt, um sich von der wissenschaftlichen Prosa der Vorlage zu distanzieren, und diese Formalisierung betrifft alle Figuren. Sie verstärkt den Eindruck eines bestimmten Rhythmus in der Sprache, und dieser zieht sich durch das ganze Stück. Ich mag es, wenn die Sprache dann gewissermaßen auch ‚für sich‘ stehen kann und sich wie eine Partitur liest.“ Klar, sie hat ein Beispiel parat: „Und in traurigen Tropen liebt die Freiheit die Menschen, und die Menschen lieben die Freiheit zurück.“
Die Sarasins, die auch Gedichte schrieben, in denen sie einander ihre Zuneigung versicherten, allerdings auch keinen Zweifel daran ließen, wie sehr die jungen Männer auf Ceylon sie anzogen, schickten übrigens ihre Funde an das Naturhistorische Museum Basel. Nach ihrer Rückkehr lebten sie in Berlin und werteten das Material ihrer Expeditionen aus. Gefördert wurden sie durch die dortige Gesellschaft für Erdkunde und die Berliner Anthropologische Gesellschaft, heute Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. 1889 reisten sie nochmals für ethnologische Forschungen nach Ägypten und in den Sinai sowie ein Jahr später ein zweites Mal nach Britisch-Ceylon. 1896 kehrten sie nach Basel zurück, wo sie weiterhin zusammen lebten und arbeiteten. Auch die Gründung des Basler Völkerkundemuseums, des heutigen Museums der Kulturen, geht auf sie zurück. Beide leiteten in den späten 90er Jahren das Naturhistorische Museum Basel, Fritz zudem den Zoologischen Garten. Er blieb zeitlebens ledig und verstarb am 23. März 1942 in Lugano. Paul heiratete 1918 im Alter von 62 Jahren Anna Maria Hohenester, bekam mit ihr zwei Kinder und erlag am 7. April 1929 im Alter von 72 Jahren einer Lungenentzündung.
Katrin Hammerls Interesse für diese beiden Außenseiter gründet nicht zuletzt in ihrer gelebten Homosexualität, die auch heute noch keineswegs überall und jederzeit akzeptiert sei, wie sie betont. Doch dem Thema widmet sie sich zum ersten Mal. Sie steht am Anfang ihrer Karriere. Sie sei in einer „theaterfernen Familie aufgewachsen, im Südburgenland, wo sie in Berührung kam mit Schul- und Sommertheater. „Mein Vater spielte als Laie bei mehreren Theaterproduktionen, und ein früher Moment des Befeuerns meiner Theaterleidenschaft war wohl eine jener Aufführungen, als ich meinen damals 25-jährigen, schlanken Vater in Stöckelschuhen und Minirock in einer Aufführung der ‚Rocky Horror Picture Show‘ erlebte. Trotz meiner Begeisterung für die Praxis konnte ich den theoretischen Bereichen meines Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien und in Pisa einiges abgewinnen, und ich schloss mit einer Arbeit über die Frage, wie man Schauspielkunst beschreiben kann, ab.“
Während des Studiums nahm Katrin Hammerl selbst Schauspielunterricht, absolvierte zahlreiche Workshops in Österreich und Italien, spielte in freien Produktionen, führte Regie für Jugendtheater sowie für Kabarett. Nach mehreren Regiehospitanzen am Wiener Burgtheater begann sie 2013 als Regieassistentin bei Andreas Beck am Schauspielhaus Wien. Schließlich folgte sie dem Intendanten und seinem Team 2015 als Regieassistentin ans Theater Basel. Und dann kam – Andreas Beck war bereits ans Bayerische Staatsschauspiel gewechselt – Anfang des Jahres dieses kleine wundersame Werk heraus.