Theater der Zeit

Bericht

Auf Spurensuche zwischen zwei Theaterwelten

Rückblick auf ein Auslandssemester an der ESNAM in Frankreich

von Leah Wewoda

Erschienen in: double 46: Networking – Netzwerkmodelle im Figurentheater (11/2022)

Assoziationen: Europa Puppen-, Figuren- & Objekttheater

King Henry V im Schloss Vincennes. ESNAM 13 Charleville Mézières, Foto: Marina de Munck
King Henry V im Schloss Vincennes. ESNAM 13 Charleville MézièresFoto: Marina de Munck

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Wie, sie klatschen hier schon bei der Generalprobe? Statt dreimal Toitoitoi über die Schulter zur Premiere gibt es nur ein „merde“ in die Runde? Die ungeschriebenen Theatergesetze stehen schnell Kopf, als ich mich von Februar bis Juli nach Frankreich an die „École Nationale Supérieure des Arts de la Marionnette“, kurz ESNAM, in Charleville-Mézières begebe. Auf Spurensuche nach den Nuancen in der Probenarbeit schließe ich mich hier für ein Semester dem derzeitigen Jahrgang, der ‚13. Promotion‘ an.

In Berlin studiere ich an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch Zeitgenössische Puppenspielkunst. Es ist eher die Ausnahme, dass Studierende der HfS ins Ausland gehen, umso mehr freue ich mich, dass dieser Traum in Erfüllung geht. Am Rande sei gesagt, dass der Hochschulalltag an der ESNAM derzeit von Umstrukturierungen geprägt ist, die ‚13. Promotion‘ meldet sich zu Wort als „treize en colère“, „die wütende Dreizehn“. Bleibt zu hoffen, dass sich ihr Einsatz für eine pädagogische Begleitung und konstante Hochschulleitung auszahlt.

Zwei Schulen, zwei Strukturen – während in Berlin sieben Studiengänge unter einem Dach sind, konzentriert sich Charleville auf Puppenspiel. Das bedeutet, dass rund 25 Personen ein Gebäude für sich haben. Die ESNAM nimmt, anders als Berlin und Stuttgart, wo jedes Jahr Aufnahmeprüfungen stattfinden, nur alle drei Jahre neue Studierende auf. Den Austausch der Studienjahre und -gänge in Berlin schätze ich sehr – aber ich genieße in Charleville den Luxus, als Puppenspielstudierende alle Räume exklusiv nutzen zu können.

In der Berliner Klasse sind wir in Szenenstudien à drei bis vier Studierende aufgeteilt, in Charleville findet aller Unterricht in der Gruppe statt. Einzelunterricht wie Sprechen und Gesang gibt es keinen. Über die Zeit des Aufenthalts wird mir bewusst: die Eins-zu-Eins-Situation lässt zu, sich gezielt den persönlichen Herausforderungen zu widmen. Hierfür lässt der Gruppenunterricht weniger Raum, weshalb das Arbeiten für mich anfangs sehr ungewohnt ist. Doch er fordert auch dazu heraus, Diskussionen mit Gelassenheit zu begegnen – und sich im besten Fall in der Mitte zu treffen. Das schweißt zusammen.

Bewusst wird mir das bei einem Gastspiel im Schloss Vincennes bei Paris. Mit Texten aus Shakespeares „Henry V“ und choreographischem Material hatten wir eine Collage konzipiert. Im Schloss aber war die Spielsituation eine völlig andere als auf der Hochschulbühne; einzelne Gemächer wurden zur Spielstätte, das Publikum kam in einem Rundgang dazu. Ein Durchlauf, und los ging es. Dass in der kurzen Zeit alles gelungen ist, ist meiner Meinung nach der täglichen Gruppenarbeit zu verdanken.

Rückblickend konnte ich in diesem Projekt am meisten über mich hinauswachsen. Das erste Mal auf Französisch auf der Bühne mit diesem Klassiker der Weltliteratur erfordert detaillierte Textarbeit und Üben, Üben, Üben. Ein Sprung ins kalte Wasser – und genau richtig, um die Mutschwelle zum Sprechen wie beiläufig zu überwinden. Reich an Eindrücken gehe ich wieder zurück – und bin stolz, dass die französische Klasse das Toitoitoi übernommen hat. Eine Nuance der Probenarbeit. – marionnette.com

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