In „Don Carlos“ findet man zu allen Zeiten schön gesagte Sätze zum schlechten Stand der Dinge. Insofern ist Schiller zuverlässig wie ein Barometer: Er zeigt gesellschaftliche Druckzustände an, Atmosphärenwechsel, die in der Luft liegen. Gewitterfronten rücken unaufhaltsam näher, so wie 1787, im Entstehungsjahr des „Don Carlos“, die Revolution in Frankreich.
In den verschiedenen deutschen Diktaturen verpönt war vor allem Marquis von Posas an Philipp II. gerichteter Ruf: „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sir!“ Hat man diese jedoch erlangt, sind die im Stück beschriebenen Übel der Machtausübung, die Kluft zwischen staatlicher Pflicht und persönlicher Neigung, alle immer noch da. „Was tun?“, um mit Lenin die entscheidende Frage zu stellen. Regisseur Matthias Thieme macht mit seiner Inszenierung einen ersten energischen Schritt: Hinein mit den hohen Idealen in den alltäglichen Schmutz zu unseren Füßen! Und so ist der Schlüsselsatz, in dem die Staatsräson ungebremst auf den Einzelnen prallt, in Thiemes Regie: „Wie klein, wie niedrig Sie von Menschenwürde denken.“
Dieses hoch moralische Postulat wird in den folgenden fast vier Stunden einem Härtetest unterzogen. Wie kann man es am leichtesten zerbrechen? Was bleibt übrig nach dem Absturz, wenn alle Höhenflüge des Ideals zu Boden gehen? Schmutz auf gekachelten Wänden, die hier den Horizont zustellen. Eine Kafka-Kulisse,...