Theater der Zeit

Landvermessung: der Osten

Schlachthof der Träume

Matthias Thieme zerstört in seinem „Don Carlos“ am Theater Plauen-Zwickau alle Ideale und erzeugt daraus eine schöpferische Wut

von Gunnar Decker

Erschienen in: Theater der Zeit: Wölfin im Schafspelz – Die Schauspielerin Constanze Becker (05/2013)

Assoziationen: Thüringen Sachsen-Anhalt Sachsen Akteure Theater Plauen-Zwickau

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In „Don Carlos“ findet man zu allen Zeiten schön gesagte Sätze zum schlechten Stand der Dinge. Insofern ist Schiller zuverlässig wie ein Barometer: Er zeigt gesellschaftliche Druckzustände an, Atmosphärenwechsel, die in der Luft liegen. Gewitterfronten rücken unaufhaltsam näher, so wie 1787, im Entstehungsjahr des „Don Carlos“, die Revolution in Frankreich.

In den verschiedenen deutschen Diktaturen verpönt war vor allem Marquis von Posas an Philipp II. gerichteter Ruf: „Geben Sie Gedankenfreiheit, Sir!“ Hat man diese jedoch erlangt, sind die im Stück beschriebenen Übel der Machtausübung, die Kluft zwischen staatlicher Pflicht und persönlicher Neigung, alle immer noch da. „Was tun?“, um mit Lenin die entscheidende Frage zu stellen. Regisseur Matthias Thieme macht mit seiner Inszenierung einen ersten energischen Schritt: Hinein mit den hohen Idealen in den alltäglichen Schmutz zu unseren Füßen! Und so ist der Schlüsselsatz, in dem die Staatsräson ungebremst auf den Einzelnen prallt, in Thiemes Regie: „Wie klein, wie niedrig Sie von Menschenwürde denken.“

Dieses hoch moralische Postulat wird in den folgenden fast vier Stunden einem Härtetest unterzogen. Wie kann man es am leichtesten zerbrechen? Was bleibt übrig nach dem Absturz, wenn alle Höhenflüge des Ideals zu Boden gehen? Schmutz auf gekachelten Wänden, die hier den Horizont zustellen. Eine Kafka-Kulisse, irgendwo zwischen Machtlabor und Folterkeller. Die Bühne wie auch die Kostüme von Claudia Charlotte Burchard vermessen die Abstände zwischen Stilisierung und Verschlissenheit. Laderampe oder Schlachthof, die gekachelte Welt vertilgt die Spuren derer, die hier ausbluteten. Wer hier stürzt, dem ist nicht mehr aufzuhelfen. Ein großer Ventilator kreist müde im Bühnenhintergrund, eher ein Ornament. Frische Luft bringt er nicht. So wird „Don Carlos“ zum Anwendungsfall von „Ruhestörung“ – so lautet das Spielzeitmotto in Plauen-Zwickau.

Der staatsbürgerliche Ansatz des Marquis von Posa (David Moorbach) – Freiheit! – verbündet sich mit dem von Don Carlos (Daniel Tille), des Regenten Philipp II. (Marius Marx) Sohn, und der heißt: Liebe! Das Objekt von Verklärung und Begierde ist ausgerechnet seine junge Stiefmutter Königin Elisabeth (Marsha Zimmermann). Die jedoch will des Prinzen Vater treu bleiben – und da beginnt der Ungestüme seine Liebe wie ein Terrorist zu gebrauchen. Ein Fall für die Staatsicherheitsorgane aller Zeiten – und für eine zwischen den Fronten irrlichternde Prinzessin von Eboli (Johanna Steinhauser)!

Mit welcher Intensität das Ensemble das Zugleich von familiären und gesellschaftlichen Anziehungs- wie Abstoßungskräften durchspielt – nein: durchkämpft – ist grandios! „So fordere ich mein Jahrhundert in die Schranken!“ – dieser Anspruch wird zum Anschlag auf die Selbstgefälligkeiten jeder Macht, auch die der Liebe. Don Carlos, mit Gitarre und dem Selbstbewusstsein der Beatgeneration bewaffnet, wagt schließlich den Aufstand gegen den Vater: We are the champions! Der Generationenkampf aber endet im Krampf. Der Ruf nach Liebesfreiheit für den jungen Leib gerät in die Knochenmühle der Geschichte, die derartige Ansprüche Einzelner nie gelten lässt.

Wie Matthias Thieme die Szenen baut, frappiert: Welch rhythmisches Gespür für die Ordnung in aller Freiheit! Da gibt es Kellerlöcher, die Türen ersetzen. Man kriecht gleichsam aus der Unterwelt hervor. Ein Tennismatch von Vater und Sohn wird zum mörderischen Endspiel um Liebe und Macht. Grelle Farben tauchen Hintergründe in eine höllisch expressive Szenerie, die dann plötzlich leichenfahl erstarrt. Eine Flügeltür gibt bei jeder Bewegung Unterweltgeräusche von sich. Ein wirksamer Katalysator: der ebenso sparsame wie präzise Einsatz von Musik und Video.

Die Menschheitsdämmerung zum Finale: Aufgang oder Untergang? Gewalt verschlingt alle Zärtlichkeit, Gleichgültigkeit speit sie wieder aus. Was ist hier noch Realität, was schon Albtraum? Man ist fasziniert von diesem Inszenierungsgewebe, das sich als überaus elastisch erweist. Die Schiller’schen Kalendersprüche werden dabei wie apokalyptische SMS-Meldungen abgeschickt – wenn sie sich im Datenverkehr kreuzen, entsteht jene schöpferische Wut, die den falschen Versprechungen der bereits Etablierten nie mehr zu glauben gelobt. Die Generation Praktikum versteht Don Carlos’ Furor gewiss: „Dreiundzwanzig Jahre und noch nichts für die Unsterblichkeit getan!“ Eine Misere wie ein Kampfschrei! //

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