Theater der Zeit

Thema: Deutsche Wirklichkeit

Rasender Stillstand

Der Autor Christoph Hein über eine Wirklichkeit, die nicht mehr nach dem Humanismus fragt, im Gespräch mit Martin Linzer

von Christoph Hein und Martin Linzer

Erschienen in: Theater der Zeit: Christoph Hein und Ingo Schulze: Rasender Stillstand – Fragen an die deutsche Wirklichkeit (10/2013)

Assoziationen: Brandenburg Akteure

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Herr Hein, die regierenden Parteien – wir sprechen noch vor der Wahl – preisen den Stillstand und behaupten, es gehe uns so gut wie nie. Rüdiger Stolzenburg, der Held Ihres Romans „Weiskerns Nachlass“ und unsere Identifikationsfigur, ist, wie wir heute sagen würden, ein Loser – wenn auch einer mit moralischen Skrupeln. Wie gut geht es uns denn nun wirklich?

Vor einigen Jahren gab es unwiderlegbare Beweise, dass die große Klimakatastrophe wohl kaum mehr abwendbar ist. Dieser Schrecken ging um die ganze Welt. Ein Vierteljahr später wurde er vollständig von der Bankenkrise abgelöst: Auf einmal waren die Immobilien nichts mehr wert, und die Banken verschwanden. Die Umweltkatstrophe war vollkommen vergessen. Nach der Bankenkrise kam die Eurokrise, die Milliarden verschlingt und weiter verschlingen wird. Wir alle wissen um diese ganzen Geschichten, das sind alles Probleme, die bleiben und zunehmen werden. Wir wissen auch, dass das nächste Euroland mit Schwierigkeiten kommen wird, die teuer sein werden. Die Bankenkrise haben wir nicht gelöst, ganz im Gegenteil, sie wurde mit Millionen Euro aus dem Volksvermögen gerettet, mit öffentlichen Geldern. Und die Banken wirtschaften weiter wie bisher. Wir wissen um dieses dünne Eis, auf dem wir gehen.

 

Deswegen vielleicht so eine positiv gedeutete Formulierung wie „Stillstand“. Die Hoffnung ist das Heilsversprechen der Regierenden, weil wir uns nur noch von einem Stillstand, der nicht erreichbar ist, Rettung erhoffen können.

In der Senftenberger Inszenierung gibt es eine Szene zwischen dem Helden Stolzenburg und seinem Chef, die im Roman ein Gespräch ist. Da geht es um die Zukunft. In der Inszenierung stehen beide Personen auf einem Laufband – ein Bild für den „rasenden Stillstand“. Dieser Begriff beinhaltet natürlich einen Zweifel an der Zukunft, was ja auch einige Wissenschaftler sagen: Wir leben in einer unendlich gedehnten Gegenwart. Und Zukunft gibt es nicht. Ohne Zukunft gibt es aber auch keine Utopien.

 

Noch einmal zu „Weiskern“ zurück: Dieser ominöse Nachlass von Friedrich Wilhelm Weiskern, einem Librettisten Mozarts, nach dem Stolzenburg sucht, ist das ein Synonym für eine Utopie, die nicht erreichbar ist?

Das hat etwas mit dem Mythos Wissenschaftler zu tun. Zu jedem gediegenen Wissenschaftler gehörte durchaus ein solches Lieblingsprojekt, das er verfolgt, egal, ob es sich finanzieren lässt oder nicht. Darauf ist man dann stolz – wenn man nach zwanzig oder vierzig Jahren eine vierbändige Ausgabe vorlegen kann, die kein Mensch haben will. Stolzenburg kracht mit seinem Wissenschaftlermythos, mit dem des gebildeten Humanisten, auf eine andere Wirklichkeit, in der man nicht mehr nach dem Humanismus fragt, sondern danach, was sich rechnen würde. Vor 35 Jahren erlebte ich zum ersten Mal in den USA, wo ich an einer Universität arbeitete, dass sogenannte Schmetterlingsfächer, hauptsächlich Fremdsprachen, ersatzlos gestrichen wurden. Ich fand das ziemlich schrecklich, dass man Fächer, die nicht genug Geld einbringen, streicht. In Mitteleuropa war das damals undenkbar. Das ist eine Sache, die wir hier in Europa natürlich in den letzten zwanzig Jahren auch überall erleben. Heute beeilen sich die Universitäten, sich an die Anforderungen, die an Exzellenzuniversitäten gestellt werden, anzupassen, um die Evaluierungen zu überstehen – auch auf Kosten anderer Universitäten und Fakultäten.

Vor ein paar Jahren gab es diesen Begriff von der Generation Praktikum. gut ausgebildete Leute, die aber kein Geld verdienen können, sondern davon abhängig sind, dass ihre Eltern sie unterstützen. Diese Generation, oft in prekären Berufen, hat inzwischen selbst Kinder, die sie als Eltern nicht werden unterstützen können. Wenn ihre Kinder in ähnlichen Verhältnissen aufwachsen – und das wird sehr wahrscheinlich passieren –, werden sie von Mama und Papa keine monatlichen Zuwendungen bekommen wie noch die Generation davor. Was zur deutschen Gesellschaft gehörte, zur westdeutschen noch stärker als zur ostdeutschen, dreht sich. Das alles wissen wir, das alles sehen wir.

Zur bevorstehenden Wahl werden Fingerspiele gezeigt, welche Haltung die Kanzlerin hat und welche der Herausforderer. Das interessiert die Medien und die Bevölkerung scheinbar ausschließlich. Und die Programmpunkte, um die es eigentlich gehen sollte, werden völlig uninteressant.

 

In der Senftenberger Inszenierung haben wir auf dem Theater einen Roman gesehen. Sie entwerfen in „Weiskerns Nachlass“ ein breites gesellschaftliches Panorama – vom computergesteuerten Börsenfreak bis hin zur gewaltbereiten Mädchengang. Ist eine angestrebte Totalität gesellschaftlicher Verflechtungen nur episch beschreibbar, zumal im Zustand „rasenden Stillstands“? Sie haben sich ja bewusst dafür entschieden – und Sie sind ein ausgewiesener Dramatiker –, diesen Text nicht für das Theater zu konzipieren; das hätten Sie ja auch machen können.

Ich denke schon, dass das Theater dazu glänzend in der Lage ist, aber es findet eine Überforderung statt. Die Prosa hat da einfach andere Möglichkeiten. Für die Bühne wäre eine Beschränkung sinnvoll gewesen. Es gibt Kunstformen, die eine kleinere Geschichte benötigen. Das Drama muss die Welt in der Nussschale widerspiegeln, das ist ganz wichtig. Wie ich auch glaube – kleine Medientheorie –, dass der Kinofilm an die Kurzgeschichte gebunden ist. Mit der Kurzgeschichte kann er große Erfolge feiern, aber sobald er größer wird, wird es schwierig. Dabei geht es nicht um Erfolg, sondern um die Wirkung.

 

Beim Senftenberger GlückAufFest werden ausschließlich Stücke vorgestellt, die auf Prosa beruhen. Suggeriert das, dass die Dramatik ihre Schulaufgaben nicht macht? Kann die Verarbeitung von Prosatexten mehr als ein Ersatz sein?

Das ist mir zu sehr eine Schuldzuweisung. Vielleicht macht die Dramatik ihre Schulaufgaben, und das Theater erkennt das nicht oder hat nicht die Mittel dafür. Es gibt ein großes Bedürfnis nach anderen Texten, mit denen Regisseure lockerer und freier umgehen können. Texte, die eher erratische Blöcke sind, wo sich der Regisseur und das Ensemble austoben können, weil sie an dem streng geführten Dialog nicht interessiert sind. Auch das Aufbrechen von klassischen Texten, dass man sehr viel spielerischer mit ihnen umgeht, hat mit der Entwicklung des Theaters zu tun. Natürlich kann ich mit einem Roman beliebiger umgehen als mit einem streng komponierten Stück. Ich weiß es nicht genau, aber die Frage, die darauf zielt, ob der Roman auf der Bühne nicht auch nur ein Ersatz ist, würde ich unbedingt bejahen. Ich denke, dass die Bühne ausreichend viele dramatische Texte hat, auch sehr moderne. Ich habe an sehr verschiedenen Sachen gearbeitet und weiß, was das Theater vermag, was ich da machen kann, was es mir erlaubt, was es mir verbietet und was im Roman möglich oder unmöglich ist. Sie kennen den Satz von Tschechow: Wenn im ersten Akt ein Gewehr an der Wand hängt, muss spätestens im dritten Akt geschossen werden. Der Roman unterliegt völlig anderen Gegebenheiten, da kann alles Mögliche eingeführt werden, ohne dass es diese Schlüssigkeit hat, die Tschechow völlig zu Recht für das Theater verlangt. Natürlich wird keine Figur, die bei Shakespeare irgendwann mal auftaucht, einfach fallen gelassen. Die kommt immer irgendwo zu einem Ende, zu einer Rundung. Denken wir aber zum Beispiel an Dostojewski oder Tolstoi, ist das etwas völlig anderes. Da gibt es keine Übereinstimmung zwischen einem epischen Text und einem für das Theater. Wenn es mal glückt, einen epischen Text auf das Theater zu bringen, ist das eher die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

 

Und wurde in Senftenberg die Regel bestätigt?

Ich schätze Sewan Latchinian sehr. Ich denke, er und seine Dramaturgin Gisela Kahl haben versucht, den ganzen Roman auf die Bühne zu bringen, was natürlich in anderthalb, zwei Stunden nicht geht. Da wurden alle Sachen so ein bisschen avisiert, statt ein paar Sachen, die uns für die Bühne interessieren, sorgsam auszudehnen und bewusst auf das, was für ein Bühnenstück eigentlich nicht notwendig ist, zu verzichten. //

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