Theater der Zeit

Auftritt

Die Schauspielbühnen Stuttgart: Die Eiseskälte der Erben-Generation

„Wunderheiler“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz (UA) – Regie Axel Preuß, Bühne und Kostüme Ariane Scherpf

von Elisabeth Maier

Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Dossier: Uraufführungen Arnold Preuß Lutz Hübner und Sarah Nemitz Die Schauspielbühnen Stuttgart

Brechen in ein neues Leben auf: Ursula Berlinghof (links) und Marie Schröder träumen vom selbstbestimmten Leben.
Brechen in ein neues Leben auf: Ursula Berlinghof (links) und Marie Schröder träumen vom selbstbestimmten Leben.Foto: Tobias Metz

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Eine schwere Krankheit treibt die Unternehmersgattin Claudia in eine Existenzkrise. Plötzlich ist nichts mehr so, wie es war. Da beruft die reiche Stuttgarterin, der es bislang an nichts fehlte, den Rat der Familie ein. Doch von ihren Kindern und deren Ehepartner wird sie statt mit Liebe und mit Verständnis mit knallharten Wirklichkeiten konfrontiert. In Lutz Hübners und Sarah Nemitz’ Stück „Wunderheiler“ geht es um eine konfliktreiche Familiengeschichte.

Das Auftragswerk für das Alte Schauspielhaus zeigt Stuttgarter Verhältnisse. Zwar lässt es sich als Blaupause auf Wohnzimmer in anderen Regionen übertragen. Doch die Bezüge zur baden-württembergischen Landeshauptstadt sind nicht zu übersehen. Regisseur Axel Preuß – Intendant der Schauspielbühnen Stuttgart – lenkt den Blick in seiner dynamischen Regiearbeit auf die Gräben, die sich in der Familie auftun. Dabei gelingt es ihm mit den Schauspieler:innen, den tiefenscharfen Humor des Textes herauszukitzeln. Bühnenbildnerin Ariane Scherpf hat die Handlung in einem klassisch-edel ausgestatteten Unternehmer:innenhaushalt verortet. Klug spielt sie auch bei den Kostümen mit Statussymbolen und mit dem sozialen Standing der Figuren.

In der Familie treffen Menschen aufeinander, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Die Tochter lebt mit ihrem Mann ein erfolgreiches Yuppie-Leben. Der Sohn ist Werkkundelehrer an einer Waldorfschule und hat eine Frau geheiratet, die sich als Wunderheilerin inszeniert. Zwischen ihren Weltbildern wird die kranke Mutter zermahlen. Ursula Berlinghof zeigt das Porträt einer Seniorin, die auch in Zeiten nackter Existenzangst die Familie zusammenhält. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie den Boden unter den Füßen verloren. Berlinghof gelingt das großartige Porträt einer Frau, die um ihre Selbstbestimmung ringt.

Das ist in ihrer Familie allerdings nicht ganz einfach. Bei der Familienaufstellung geizen Hübner und Nemitz nicht mit Klischees. Antonio Lallo zeigt den Sohn als naturverbundenen Polterer, als Gutmenschen im karierten Hemd, der seine bösartigen Züge schnell nach außen kehrt, wenn es ans Eingemachte geht. Gesetz ist bei ihm, was seine Frau Katrin sagt. Lisa Wildmann setzt die Heilpraktikerin brillant in Szene. Rasch bröckelt ihre freundliche Fassade, wenn es darum geht, ihre Interessen durchzusetzen. Denn ihr Wunsch, der Schwiegermutter zu helfen, ist von knallharten Eigeninteressen genährt. Sie will ans Erbe, um sich den Traum von einem eigenen Therapiezentrum zu erfüllen.

In der anthroposophischen Hochburg Stuttgart wecken die Bezüge zu der esoterischen Bewegung beim Publikum zwar manche Assoziation. Dennoch geht es Hübner und Nemitz um die Menschen und um ihre Unfähigkeit, die Not der kranken, alten Frau wahrzunehmen. Stark im Klischee verhaftet bleiben die Tochter Clara und ihr Mann Jonas. Barbro Viefhaus und Frederik Leberle interpretieren die Finanzberaterin und den Investmentbanker als Yuppies aus dem Bilderbuch. Sie arbeiten in Zürich, jonglieren mit ihren Connections zu wichtigen Menschen und kennen nichts als die klassische Medizin. Hilflos bleibt in dieser runde die dritte Tochter. Bianca Spiegel legt ihre alleinerziehende Buchhändlerin Laura farblos an. Umso stärker kämpft ihre Tochter Emilia für die geliebte Oma. Marie Schröder ermutigt die Seniorin, ihr eigenes Leben zu gestalten. Mit viel Witz und Temperament mischt die junge Schauspielerin die zerstrittene Familie auf. Ihrer Großmutter hilft sie, das Leben zu leben, von dem sie immer träumte.

Egoismus ist eine Triebfeder der Figuren, die Hübner und Nemitz nah an den Lebenswirklichkeiten des Publikums entworfen haben. Dennoch bleiben gerade die Antagonisten – das esoterische Ehepaar und die Yuppies aus der Finanzbranche – nur Archetypen. Aus dieser Vereinfachung kann auch Regisseur Preuß den Text nicht lösen. Die inhaltlichen Aussagen die Lutz Hübner und Sarah Nemitz über die Lebenswirklichkeit einer Stuttgarter Familie im 21. Jahrhundert treffen, sind bedeutend. Die Eiseskälte der Erben-Generation bringen sie auf den Punkt. Denn „Wunderheiler“ zeigt die Einsamkeit von Menschen, die es in der Corona-Zeit verlernt haben, einander zuzuhören und zu helfen. Diese gesellschaftliche Dimension arbeitet Regisseur Axel Preuß schön heraus. Hübners und Nemitz‘ Kunst der sozialkritischen Komödie zelebriert das Ensemble.

Erschienen am 14.5.2025

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