Auftritt
Grips Theater Berlin: Remake weitgehend geglückt
„Linie 1“ von Volker Ludwig und Birger Heymann – Regie Tim Egloff, Bühne Marian Nketiah, Kostüme Mascha Schubert, Musikalische Leitung Matthias Witting, Choreographie und Bewegung Bahar Meriç
von Tom Mustroph
Assoziationen: Kinder- & Jugendtheater Theaterkritiken Berlin Volker Ludwig Grips Theater

Es gibt Musicals, die die Stadtgeschichte, die Musikgeschichte und die Kulturgeschichte geprägt haben. „West Side Story“ über das New York der Rassen- und Klassenkonflikte gehört dazu, „My Fair Lady“ über das London der spleenigen Oberklasse, auch die „Rocky Horror Show“, die zwar sehr ortlos daherkam, aber zu einem Katalysator der sexuellen Revolution wurde, wo immer auch die Show aufgeführt wurde. „Linie 1“ darf man getrost in diese Reihe aufnehmen. Denn dieses Musical strahlt ebenfalls über seinen historischen und lokalen Rahmen hinaus.
Das Thema – die Ankunft eines Mädchens aus der Provinz in der Metropole – ist in Zeiten der globalen Verstädterung universell. Viele der Charaktere sind leicht übertragbar in andere Länder. Mögen es aus der Gesellschaft ausgegrenzte oder daraus geflohene Menschen sein, wie Obdachlose und Punks, oder auch Protagonist*innen, die sich zum (vermeintlich) Werte bewahrenden Kern zählen, wie die Wilmersdorfer Witwen oder Skinheads, erst recht jene, die im Normalo-Alltag Schiffbruch erleiden wie die Musterfamilie Rita und Dieter – in der aktuellen Bühnenversion köstlich überzogen interpretiert von Ariane Fischer als Mutter, Christian Giese als Vater und Jens Mondalski und Marcel Herrnsdorf als Kinder -: Stets finden sich kinderleicht lokale Entsprechungen. Das zeigten bereits die Versionen, die in vielen Ländern der Welt gespielt wurden. Im Kosmos des ehemaligen Sowjetreichs mutierten die tiefbraunen Wilmersdorfer Witwen zu Alt-Stalinisten, im Südkorea des Aufbruchs wurde ein Widerstandskämpfer zur prägenden Gestalt.
„Linie 1“ ist also universell. Den letzten Beweis dafür erbrachte die neue Inszenierung am Uraufführungsort. Hier wird es zur Zeitreise in eine Stadt, die so nicht mehr existiert, deren Konflikte aber geblieben sind.
Schön neosachlich, so wie man die 1980er auch in Erinnerung hat, leuchtet das U der U-Bahnlinie 1 über der Bühne. Auf einer Art Hochbahnsteig haben die Musiker der Grips-Theaterband „No Ticket“ Aufstellung genommen – ganz so, als seien auch sie wartende Fahrgäste. Die Songs bringen sie zum Leuchten. „Marias Lied (Du bist auch schön, wenn du weinst)“ etwa, gesungen von Nuria Mundry, entfaltet sehr zart, und dabei die Tiefen des Herzens berührend, den Kosmos einer empfindsamen Außenseiterin. Sie ist empfänglich für das Leid anderer, hier des Liebesleids des Berlinneulings Natalie, und weiß zugleich, dass dies nur temporäres Leid ist, während ihres, in ihrer Vorstellung zumindest, ewig währen wird.
Die Neufassung hat zwei Zugpferde. Helena Sigal interpretiert die Hauptfigur Natalie mit einer berückenden Mischung aus Schmelz und Härte. Sie kann träumen, in ihrer Stimme deutet sich, vor allem in den Songs, zugleich das Durchsetzungsvermögen dieser Figur an. In Eike Onyambu, in Nigeria geboren und an der Wiener Musik und Kunst Universität MUK ausgebildet, findet Sigal einen kongenialen Bühnenpartner. Er organisiert als Bambi, der Dealer mit dem guten Herzen, die Suche nach Natalies Märchenprinzen. Vor allem aber führt er ein in die Welt der Aussteiger und Nachtschwärmer, der Normalos und Lebensverächter.
Vor allem im Teil vor der Pause erzählt Regisseur Tim Egloff mit präzisen Akzentuierungen das Leben in den so verschiedenen Lebensmilieus dieser Stadt. Man hätte sich bei der Neufassung gern noch einen Traumsong von Kleister und seiner drogenabhängigen Freundin Lumpi gewünscht, noch einen Aussteigersong mehr, der Lumpi mehr Charakter verleiht. Man ist auch nicht ganz einverstanden mit den teilweise zu dynamischen Choreografien von Bahar Meric – Berlin war und ist im internationalen Vergleich eine Schluffi-Stadt; Londoner oder New Yorker Tempo zu inszenieren wirkt da wie fehlgeleitetes Stadtmarketing. Aber das sind nur kleinere Makel. Die Szenen stimmen. Die Songs sowieso. Auch die chorischen Lieder sind einfallsreich umgesetzt.
Im zweiten Teil weiß Egloff leider mit der Hauptszene wenig anzufangen, jenem Moment der wohl treffendsten Gesellschaftskritik im Stück, wenn der träumende Dichter im Humphrey-Bogart-Look feststellt, dass die Leute um ihn herum in der U-Bahn um ihre Kindheitsträume betrogen werden von solchen Figuren, die man nie in der U-Bahn sieht. Dann wird das Spiel plötzlich flach, seltsam illustrierend. Und am Finale enttäuscht, dass nach all der Berlin- und Systemkritik das Glück der Protagonisten der Neufassung darin bestehen soll, dass das Mädchen aus der Provinz nun doch einen Partner – und Vater fürs werdende Kind – erhält. Es muss ja nicht eilfertig auf queer umgeschrieben werden, den Begriff dürfte 1986 in Berlin kaum jemand gekannt geschweige denn benutzt haben. Aber dass nach all den vorherigen Songs, die das Leben von Aus-, Ein- und Umsteigern so treffend analysiert haben nun das Glück in einer heterosexuellen Zweierbeziehung zwischen einer immer noch naiven Nestflüchterin und einem in Projektionen befangenen Träumer liegen soll, ohne dass diese Konfliktkonstellation in einem prophezeienden Duett ausgesungen wird, ist doch schwer verdaulich. Hier hätte man mehr Mut bei der Neufassung gewünscht. Über weite Strecken ist diese „Linie 1“ aber eine klare und konzise Umsetzung eines zeitlosen Stücks.
Erschienen am 31.3.2023