Theater der Zeit

Die Kunst der Bühne

Positionen des zeitgenössischen Theaters

von Marion Tiedtke und Philipp Schulte

Erschienen in: Recherchen 81: Die Kunst der Bühne – Positionen des zeitgenössischen Theaters (03/2011)

Assoziationen: Akteure

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In den letzten vierzig Jahren hat sich die Theaterlandschaft grundlegend gewandelt. Unter dem Verdikt Regietheater rückt im Musiktheater, Schauspiel und Tanz die Darstellung selbst in den Mittelpunkt der künstlerischen Auseinandersetzung. Das Bühnengeschehen wird nicht mehr länger bloß als Zeichen für einen Inhalt verstanden, den es zu vermitteln vorgibt, vielmehr wird sein Repräsentationscharakter und mit ihm die Institution Theater aufgrund ihrer Produktionsbedingungen und Rezeptionsgewohnheiten problematisiert. Im Zuge dieser Entwicklung inspirieren und beeinflussen sich die Darstellenden Künste zugleich gegenseitig: Der Tanz ist nicht mehr nur Tanz, sondern rückt in die Nähe des Sprechtheaters; das Schauspiel erschöpft sich nicht in einem psychologischen Realismus, sondern setzt Elemente des zeitgenössischen Tanzes und der Choreographie für den körperlichen Ausdruck seiner Figuren ebenso ein, wie seine Texte bisweilen in musikalisch- rhythmische Flächen aufgelöst werden. Und zu guter Letzt sind es viele Regisseure des Tanz- und Sprechtheaters, die ihr künstlerisches Feld auf das Musiktheater ausdehnen. So ist das zeitgenössische Theater von vielfältigen Ausdrucksformen und Spielweisen geprägt, die aus verschiedenen Disziplinen hervorgehen und doch aufeinander verweisen. Ein Umbruch vollzieht sich, der auch für die Zukunft vielfältige Struktur- und Paradigmenwechsel erwarten lässt.

Der vorliegende Band möchte ein breites Spektrum der Positionen vorstellen, die die Darstellenden Künste seit den 1970er Jahren bis in die unmittelbare Gegenwart hinein maßgeblich bestimmt haben. Er setzt sich zusammen aus Vorträgen, künstlerischen Selbstbefragungen und Gesprächsrunden, die im Rahmen einer Ringvorlesung der Hessischen Theaterakademie entstanden sind. Choreographen, Regisseure, Autoren, Schauspieler und Bühnenbildner, aber auch Theaterwissenschaftler und Dramaturgen haben auf je unterschiedliche Weise an den Entwicklungen des Theaters mitgewirkt oder sie begleitet. Die meisten von ihnen wurden zunächst in anderen künstlerischen Bereichen ausgebildet, als in denjenigen, die sie dann nachhaltig bestimmten. Darin zeichnet sich einmal mehr die Wechselwirkung aller Disziplinen der Darstellenden Kunst ab, die bis heute ein immer offener werdendes Feld beschreiben. Im ersten Teil des Buches kommen die Künstler selbst zu Wort, während im zweiten Teil weitere künstlerische Positionen durch einen fachlichen Außenblick reflektiert werden. 

Lukas Bärfuss’ persönlich gehaltener Text „Offenbarung“ eröffnet den Band. Der Schweizer Schriftsteller zählt gegenwärtig zu den be deu - tends ten deutschsprachigen Dramatikern. Seine gesellschaftskritischen Stücke setzen sich mit aktuellen Streitthemen wie Sterbehilfe, der Sexualität geistig Behinderter oder dem Verhältnis der westlichen Welt zu den Entwicklungsländern auseinander. Theater ist für Bärfuss eine lebensnotwendige Routine, in der niemals irgendetwas routiniert sein darf. Seine Treue zum Theater spürt er in einem Faszinosum auf, das ihn seit seiner Kindheit begleitet: dem „Bevorstehen einer Offenbarung, zu der es nicht kommt“. 

Martin Nachbar arbeitete als Tänzer u. a. mit Les Ballets C. de la B., Meg Stuart, Joachim Schlömer und Thomas Lehmen. Zu seinen bekanntesten eigenen Choreographien gehören Urheben Aufheben, worin er sich der Bewegungssprache der Ausdruckstänzerin Dore Hoyer annähert, oder Repeater, wo er gemeinsam mit seinem nicht als Tänzer ausgebildeten Vater auftritt. Seine Projekte lassen sich dem Konzepttanz zuordnen, zeichnen sich aber zugleich durch eine auffallend humorvolle Herangehensweise aus. Dass er sich immer wieder mit unterschiedlichen theoretischen Ansätzen auseinandersetzt, zeigt auch sein Text „Choreographieren(d) denken“. Ein von ihm angewandtes choreographisches Verfahren folgt dabei dem Prinzip der Aufpfropfung: Zwei Realitäten, zwei Bedeutungs- oder Wahrnehmungsebenen werden übereinandergeblendet. Hierbei kann es sich auch um zwei zeitlich differierende Bereiche handeln: Die Frage, wie sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig bedingen – persönlich, aber auch tanzhistorisch –, ist eine grund legende Frage für Nachbars Arbeit. Die Aufgabe des Künstlers sieht Nachbar nicht darin, aus sich heraus zu schöpfen, sondern Vorhandenes zu rahmen, architektonisch statt expressiv vorzugehen. 

Auch die Regisseurin Christiane Pohle sucht in ihren Arbeiten immer wieder die Nähe zu choreographischen Darstellungsformen und den Strukturen der freien Szene. Gleich ihre erste Inszenierung, Sitzen in Hamburg 1999 in den Kammerspielen Hamburg, gewann den Preis des Impulse-Festivals sowie den Förderpreis für Regie der Akademie für Darstellende Künste der Stadt Bensheim. Inzwischen hat sie sich fernab von konventionellen Stücken durch themenbezogene Projekte selbst an den großen Häusern wie dem Thalia Theater Hamburg, dem Burgtheater Wien und den Münchner Kammerspielen einen Namen gemacht. Als ausgebildete Schauspielerin setzt sie vor allem auf die Kreativität ihrer Partner, auf das künstlerische Miteinander, das die Erfindung von Welt auf dem Theater erst möglich macht. Anschaulich beschreibt sie in ihrem Beitrag, dass es ihr weniger um Figurenpsychologien geht als um ein gemeinschaftliches Ganzes, das sich sowohl im Probenprozess wie im Erleben der Aufführung einlösen muss. 

Bei vielen Inszenierungen der hier vorgestellten Regisseure hat die Schauspielerin Annette Paulmann mitgewirkt. Mit dem Boy-Gobert- Preis ausgezeichnet, schon gleich zu Beginn ihrer Karriere zur besten Nachwuchsschauspielerin ernannt und 2010 zur besten Schauspielerin des Jahres gekürt, macht sie sich vor dem Hintergrund ihrer intensiven künstlerischen Erfahrung mit ganz unterschiedlichen Regiehandschriften über die Anforderungen Gedanken, die immer wieder aufs Neue an den Schauspieler gestellt werden. Damit ergänzt sie die in diesem Band versammelten Positionen um eine wichtige Perspektive: Denn nach wie vor sind es vor allem die Schauspieler, die für die Umsetzung der Ideen der Regisseure mit ihrem Körper und ihrer Persönlichkeit verantwortlich sind. Paulmann verdeutlicht, dass dieser Prozess nicht immer ohne Reibungen abläuft und nicht selten einen hohen Einsatz fordert, auch oder gerade weil es für sie nach wie vor der spannendste und zugleich schönste Beruf ist. D

ie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete schweizerische Künstlerin Muriel Gerstner ist freischaffende Bühnenbildnerin und arbeitet seit über zehn Jahren erfolgreich mit dem Regisseur Sebastian Nübling und dem Musiker Lars Wittershagen zusammen. In ihrem Text „… dass das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus …“ nimmt Gerstner das bekannte Zitat von Sigmund Freud als Ausgangspunkt, um anhand ausgewählter Arbeiten zu erörtern, wie fruchtbar eine Auseinandersetzung mit theoretischen, in diesem Fall psychoanalytischen Positionen bei der Kre - ierung und Inszenierung von Bühnenräumen sein kann. Die Verknüpfung, die Freud in seiner Metapher zwischen einer räumlichen Struktur und dem subjektiven Seelenleben herstellt, ist Leitmotiv ihrer Bühnenbilder. Gerade das in der Psychoanalyse entwickelte Verständnis von Bewusstem und Unbewusstem diente Gerstner in unterschiedlichen Produktionen als Inspiration für die von ihr inszenierten Räume, die sich oft mit dem Wechselspiel von sichtbaren und nicht sichtbaren Bereichen und der nicht unbedingt logisch nachvollziehbaren Verknüpfung oder aber der Fragmentarisierung eines vermeintlich souveränen Ganzen charakterisieren lassen. Diese Bühnenräume, die Gerstner auch als ‚Doppelgänger‘ der darin agierenden Figuren entwirft, erhalten ein Eigenleben, das weit über die Illustration einer dramatischen Handlung hinausgeht. 

Der Flame Luk Perceval zählt zu den bedeutendsten Vertretern des belgischen und seit Ende der 1990er Jahre auch des deutschsprachigen Regietheaters. Als Mitbegründer der Blauwe Maandag Compagnie nahm er maßgeblich an der Theaterreformbewegung der ‚Flämischen Welle‘ teil. Im deutschsprachigen Raum wurde er vor allem bekannt durch seine mehrstündigen intensiven Theaterprojekte zu dem Werk einzelner Dramatiker wie Shakespeare oder Molière. Perceval erörtert seine Vorstellung von Theater in Zusammenhang mit seiner Biographie. Als Schauspieler hat er den belgischen Stadttheaterbetrieb kennen gelernt und schon früh eine Abneigung gegen die Schwerkräfte der Institution Theater und die Hierarchien und Routinen, die sie schafft, entwickelt. Die Möglichkeit, in intensiver Gruppenarbeit ein Theater des ‚höchstpersönlichen Ausdrucks‘, wie er es nennt, zu schaffen, ergab sich für ihn erst, als er den etablierten Häusern den Rücken kehrte und anfing, in der freien Szene zu arbeiten. Der Versuch, hier eine Theatersprache zu entwickeln, die sich direkt an die flämischen Zuschauer wandte, führte ihn zu der Konzeption eines politischen Theaters, das vor allem den Schauspieler und seine persönliche Erfahrung ernst nimmt. 

Heiner Goebbels arbeitet als Komponist und Regisseur an eigenen Musiktheaterinszenierungen, Szenischen Konzerten und Kompositionen, die weltweit in große Theaterhäuser und auf Neue Musik-, Jazz- und Performance-Festivals eingeladen werden. Er erläutert seine künstlerische Arbeit, indem er Bezug nimmt auf die Brechtsche Idee der Trennung der Elemente, durch die jedes Theatermittel – Musik, Licht, Text, Stimme usw. – nach seinem je eigenen Wirkungspotential befragt wird. Diese Art des Inszenierens setzt ein Team von Experten für die jeweiligen Elemente voraus. Goebbels bricht in seinen Inszenierungen mit tradierten Hierarchien, die den Körper des Schauspielers und den von ihm hervorgebrachten Text als wichtigstes Darstellungsmittel betrachten. Was er beim Zuschauer hervorrufen möchte, ist nicht das Gefühl der Identifikation mit einer anderen Person auf der Bühne, sondern eine Auseinandersetzung mit dem Fremden als ‚irritierendes Vergnügen‘. Ihm geht es nicht um ein Theater der Mitteilung, sondern um ein Theater der Erfahrung, der entdeckenden Wahrnehmung durch neue Darstellungsformate und Genreüberschneidungen. 

Der Philosoph, Gesellschafts- und Literaturwissenschaftler Carl Hegemann hat als Dramaturg mit namhaften Regisseuren wie Christoph Schlingensief, Frank Castorf, Einar Schleef oder René Pollesch an der Produktion zahlreicher Inszenierungen mitgewirkt. Als Grenzgänger zwischen Theorie und Praxis hat Hegemann zudem etliche Texte publiziert, die sich mit Relevanz und Funktion des zeitgenössischen Theaters befassen. Er stellt die These auf, dass das Theater ein prädestinierter Raum für eine Gleichzeitigkeit von Kunst und Nicht-Kunst sei. Das Oszillieren zwischen der Setzung innerhalb einer künstlerischen und nichtkünstlerischen Rahmung und den diese Rahmung überschreitenden Einflüssen ermöglicht den Darstellenden Künsten eine gesellschaftspolitische Bedeutung und Wirksamkeit. Die Freiheit der Kunst, die sich nach Schiller im „fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins“ entfaltet, verortet Hegemann nicht mehr getrennt von der alltäglichen Lebenswirklichkeit. Kunst, die wie Kunst und Nicht-Kunst zugleich aussieht, kann und soll in die Realität übergehen und in sie eingreifen. 

Durch einen hohen Grad an Wiedererkennbarkeit, eine klare ‚Handschrift‘ zeichnen sich die Regiearbeiten von Michael Thalheimer aus, der seit seinen Inszenierungen von Ferenc Molnárs Liliom am Hamburger Thalia Theater und von Thomas Vinterbergs Das Fest am Staatsschauspiel Dresden aus dem Jahr 2000 zu den bekanntesten deutschsprachigen Regisseuren zählt. Oft sind es klassische Stoffe, die Thalheimer in seiner strengen Formensprache umsetzt. Der renommierte Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann beschreibt die Herangehensweise dieses Regisseurs anhand seiner Inszenierung der Orestie am Deutschen Theater in Berlin aus der Spielzeit 2006/07. Das besondere Talent Thal - heimers sei es, mit theatralen Mitteln das Abstrahierbare in den Stücken herauszuarbeiten. Der Ansicht, dies sei vor allem ein oberflächliches Vorgehen, das der Seherwartung eines beschleunigungsgewohnten Publikums entgegenkommt, widerspricht Lehmann entschieden: Thalheimer setzt der allzu gewöhnlichen Auslegung „eine Reduktion vieler kommentierender und erläuternder Elemente in den klassischen Dramentexten entgegen – und gewinnt durch diese Reduktion gerade den notwendigen Raum für den rein theatralen Kommentar mit schauspielerischen und bühnenästhetischen Mitteln, der das, was für Thalheimer die ‚Essenz‘ der Stücke ausmacht, zur Geltung bringt.“ Dabei besticht Thalheimer durch ein ungewöhnliches Theater der Körpergesten. 

Ende der 1980er Jahre ging aus dem Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Regisseur und Autor René Pollesch hervor, der heute einer der bedeutendsten Theaterkünstler in Deutschland ist. Nach verschiedenen Theaterstationen leitete er zwischen 2001 und 2007 die kleine Spielstätte Prater der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg- Platz. In diesen Jahren wurden seine Bühnenarbeiten einem breiteren Publikum bekannt. Pollesch verbindet einen hohen politischen Anspruch mit seinen stets selbst verfassten Texten und deren Inszenierung. Er setzt sich mit dem Stellenwert der Repräsentation im und außerhalb des Theaters auseinander und damit zugleich mit den gesellschaftlichen Machtstrukturen, die das Subjekt bestimmen. Der Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi, der Polleschs Entwicklung seit ihrer gemeinsamen Gießener Studienzeit verfolgt, zeigt den nicht mehr bloß abbildenden oder einfühlsamen Bezug zur Wirklichkeit auf, der Polleschs Theater bestimmt: „Den Zuschauern wird zugemutet, nicht nur ein auf der Bühne inszeniertes Geschehen zu konsumieren, sondern auch die Konflikte im eigenen Verhalten außerhalb wie innerhalb des Theaters wahrzunehmen.“ Diese Zumutung sei nicht allein theoretisch, sondern auch sinnlich konkret zu erfahren. So sind es Überforderung und Spaß gleichzeitig, welchen das Publikum ausgesetzt wird, mit dem Effekt der spielerischen Infragestellung scheinbarer Gewissheiten in einer für normal gehaltenen Wirklichkeit. Einer, der sich vom modernen Tanztheater und den Avantgarden des zwanzigsten Jahrhunderts besonders beeinflussen ließ und dennoch als Autodidakt seinen ganz eigenen Weg suchte, ist der Regisseur und Bühnenbildner Andreas Kriegenburg. Seine choreographischen und bilderreichen Inszenierungen überraschen durch ungewöhnliche ästhetische Setzungen und sind mittlerweile mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Marion Tiedtke, die als Dramaturgin am Bayerischen Staatsschauspiel, am Wiener Burgtheater und an den Münchner Kammerspielen mit Kriegenburg zusammengearbeitet hat, erörtert seine Arbeitsweise als „Spiel im Spiel“. Zu seinen bevorzugten Darstellungsweisen zählt Tiedtke vor allem das Etablieren von gleichwertigen Ausdrucksmitteln auf verbaler und nonverbaler Ebene, zwischen Psychologie und Choreographie, zwischen Inszenierung und Improvisation, zwischen darstellendem und kommentierendem Spiel sowie einer Erweiterung der Kontextbezüge der Stücke durch Collagierung. Der ursprüngliche Stücktext wird dabei Vorlage und Aufhänger, um „die Ohnmacht von Welt- und Selbstbeschreibung in einer Vielfalt von Kontexten und Assoziationen erlebbar zu machen“. Übrig bleibt schließlich das Spiel selbst als letztes Refugium der Freiheit. 

Christoph Marthaler gehört zu den wenigen deutschsprachigen Regisseuren, deren Inszenierungsstil unverwechselbar ist. Seit den 1990er Jahren inszeniert der Schweizer seine collagenartigen und musikalischen Stücke, darunter Arbeiten wie Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!, ein Requiem auf die DDR, oder Stunde Null oder die Kunst des Servierens. Ein Gedenktraining für Führungskräfte. Der Probenprozess zu Marthalers Inszenierungen ist gekennzeichnet durch geduldiges Improvisieren – sicherlich eine Voraussetzung für den feinen Humor und die spöttische Leichtigkeit der Aufführungen. Patrick Primavesi geht unter den Aspekten der Musikalisierung von Körper und Raum, der Gestaltung von Zeit und Rhythmus und der Darstellung krisenhafter Gemeinschaft auf die Arbeitsweise des Schweizer Regisseurs ein. Die Grundhaltung in Marthalers Theater beschreibt er als eine des Wartens auf Inspiration und als eine der Aufmerksamkeit für kleinste Details. Die achtsame Entspannung, die das beim Publikum auslösen kann, wird dabei unterbrochen von Schreckmomenten, die zeigen, wie sehr Marthalers Produktionen als „Gärungsstudien“ zugleich mit Abgründen, Krisen und Katastrophen spielen. 

Der in New York geborene Tänzer und Choreograph William Forsythe gilt als einer der bedeutendsten Künstler im Bereich des zeitgenössischen Tanzes. Er leitet heute ein unabhängiges Ensemble mit Sitz in Frankfurt am Main und Dresden und hat sich immer wieder kreativ mit den Traditionen des klassischen Balletts auseinandergesetzt: Tanz begreift er als lebendige Sprache, in der er neue und überraschende Bewegungspotentiale entdeckt. Die Autorin und Tanzkritikerin Gabriele Wittmann, die mit Forsythes Entwicklung seit seiner Stuttgarter Zeit vertraut ist, erörtert die theoretischen, ja philosophischen Überlegungen, die immer ein wichtiger Bestandteil von Forsythes Choreographien sind. Sie zeigt, wie Forsythe den Blick des Zuschauers freisetzt durch den Verzicht auf einen zentralen Fokus – auf den klassisch geschulten, ausbalancierten Tänzerkörper als wesentlichen Blickpunkt ebenso wie auf eine zentralperspektivische Rauminszenierung oder auf lineare Narrationen. Stattdessen wird verstärkt eine Selbstreflexion des tanzenden Körpers und seiner Bewegungsmöglichkeiten innerhalb wie außerhalb tradierter Konventionen zum Thema. 

Einar Schleef war bis zu seinem Tod im Jahr 2001 eine Ausnahme - erscheinung der deutschen Theaterlandschaft. Er kam als ausgebildeter Bühnenbildner zum Theater und erarbeitete in den 1970er Jahren erste Inszenierungen gemeinsam mit B.K. Tragelehn am Berliner Ensemble. 1976 verließ er die DDR. 1985, nach dem Erfolg seines Romans Gertrud, holte Intendant Günther Rühle Schleef ans Schauspiel Frankfurt, wo seine bei Kritik und Publikum heftig umstrittenen Inszenierungen Mütter (ein Antikenprojekt, 1986) und Vor Sonnenaufgang (von G. Haupt-mann, 1987) entstanden. In den 1990er Jahren folgten gefeierte Inszenierungen. Die Theaterwissenschaftlerin und Schleef-Spezialistin Miriam Dreysse geht in ihrem Beitrag vor allem auf das deutlichste Charakteristikum seiner Inszenierungen ein: seine Arbeit mit Chören. Diese, sowie die von ihm eingesetzten Mittel der strengen Formalisierung, der Trennung von Körperbewegung und Sprechakt, der Entdialogisierung und unterschiedliche Verfahren der Textmontage sind für Dreysse Vorgänge der Verfremdung und Episierung des Theaters. Dabei ziele Schleef nicht ausschließlich auf eine kritische Distanzierung des Publikums ab, sondern es gehe ihm auch um Möglichkeiten, durch „Hervorhebung der spezifischen Materialität der Körper, Stimmen, Texte, Räume, Stoffe“ Sinn sinnlich erfahrbar zu machen. 

Ein ebenso nachhaltiger Impuls auf die Darstellenden Künste ging zweifellos von dem US-amerikanischen Regisseur, Lichtdesigner und Bühnenbilder Robert Wilson aus. Als Grenzgänger zwischen Theater, Architektur und Bildender Kunst war Wilson Vorreiter eines Verständnisses von Theater, das sich vom Primat der Sprache löst und die Gleichberechtigung der unterschiedlichsten Darstellungsmittel in den Vordergrund stellt. In seinem 1985 entstandenen und für diese Publikation überarbeiteten Artikel „Robert Wilson, Szenograph“ vermittelt Hans- Thies Lehmann einen umfassenden Einblick in Wilsons Schaffen. Lehmann widerspricht der Auffassung, Wilsons gewaltige Bildcollagen seien frei von jedem semantischen Gehalt. Jener ergibt sich vielmehr im reflektierenden Nachvollzug der Inszenierungen als im nur einmaligen Erleben. Bedeutung entstünde so bei Wilson nicht als etwas Starres, überindividuell Deutbares, sondern bilde sich frei im Gesamtprozess der Inszenierung. Wilsons Praxis erweist sich als dekonstruktiv: als „planmäßige Subversion von Sinnstrukturen“ – nicht aber verstanden als Zerstörung von Sinn, sondern als permanent florierende Arbeit an Sinnsystemen. 

Mit der Gründung des anfänglich umstrittenen Tanztheaters Wuppertal in den 1970er Jahren erlangte die 2009 verstorbene Pina Bausch Weltruhm. Ihr Stil zeichnet sich aus durch eine Vermischung des Tanzes mit unterschiedlichen Darstellungsgenres und Medien, wobei sie zugleich dem ideal genormten Tanzkörper eine Absage erteilt. Norbert Servos, selbst Choreograph und Autor, lenkt in seinem Beitrag, den er noch vor dem Tod der Künstlerin im Jahre 2009 verfasst hat, den Blick auf die performativen und persönlichen Aspekte in Bauschs Tanzstücken. Immer wieder ging es in der Suche nach neuen tänzerischen Ausdrucksformen auch um einen neuen Kontakt zum Publikum, das das Bühnengeschehen nicht mehr passiv konsumieren sollte. 

Ruth Berghaus war zunächst Choreographin, bevor sie eine maßgebliche Regieposition im Musiktheater einnahm. Von Brechts Theaterästhetik geprägt, hat sie mit ihren Inszenierungen zu einer umfassenden Reformierung der Oper beigetragen. Weit über den deutschsprachigen Raum hinaus bekannt wurde sie in den 1980er Jahren als Regisseurin an der Oper Frankfurt. Einer ihrer Wegbegleiter dort war der langjährige Chefdramaturg Norbert Abels. Er beschreibt ihr grundsätzliches künstlerisches Misstrauen gegenüber allem Eindeutigen als das, was für ihn ihren Stil ausgemacht hat. Nach der dialektischen Idee, dass jedem Ding stets die Kraft seines Gegenteils innewohnt, verfocht Berghaus den Rätselcharakter der Kunst, die weder auf der Produktionsebene noch in den Köpfen der Zuschauer einer Eindeutigkeit anheimfallen dürfe, sondern immer ihren eigenen Widerspruch mittransportieren müsse. 

Theater ist eine Kunst, die sich aufs Engste mit den Zeitläufen ihres Entstehens verbindet und daraus die Kraft ihrer Innovation gewinnt. Das mögen die verschiedenen Beiträge zeigen, entstanden im Rahmen der Ringvorlesung der Hessischen Theaterakademie in den Jahren 2008 bis 2010. Zuhörer und Gesprächspartner war die Theatergeneration von morgen. Die Gäste haben den Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaft an der Universität Gießen, der Dramaturgie an der Universität Frankfurt, des Bühnenbildes an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach und den Studierenden vom Musiktheater, Schauspiel, Tanz, Regie, Theater- und Orchestermanagement an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Vorträgen, Selbstbefragungen und Gesprächen ihren Theaterweg und ihr Theaterverständnis beschrieben. So richtet sich der vorliegende Band an alle Theaterinteressierten und an Studierende, die sich in der Vielfalt der gegenwärtigen Theaterlandschaft und -diskussion einen ersten vertiefenden Eindruck zu den unterschiedlichen künstlerischen Positionen zeitgenössischer darstellender Kunst verschaffen möchten. 

Wir danken der Hessischen Theaterakademie, die als Produktions- und Studienverbund aller Theater und ihrer Ausbildungsinstitutionen in Hessen die Ringvorlesung ermöglicht und zur finanziellen sowie ideellen Unterstützung dieser Publikation beigetragen hat, allen voran ihrem Präsidenten Heiner Goebbels. Dank gilt auch Florian Ackermann, der geduldig und einfühlsam unsere Gäste betreute, sowie Anna Teuwen für ihr Korrektorat und ihre Assistenz zur Vorbereitung der Publikation. Eva Holling, Friederike Thielmann und Susanne Zaun danken wir für Transkriptionen und ergänzende Überarbeitungen der Aufzeichnungen. Zu guter Letzt richtet sich unser Dank aber vor allem an die Kollegen und Künstler, die bereit waren, ihre Vorträge und Gespräche für diesen Band noch einmal zu überarbeiten.

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