Magazin
Die Realität ist glitchig
Rudi Nuss: Die Realität kommt. DIAPHANES, Zürich 2022, 248 Seiten, 22,50 Euro
Erschienen in: Theater der Zeit: Was soll das Theater jetzt tun? – Eine Umfrage (05/2022)
Assoziationen: Buchrezensionen
IS THIS REAL? steht auf einer leeren Plakatwand und stellt damit gleich eine programmatische Frage des Romans. Was ist real, wenn mehrere Schichten aus (virtuellen) Realitäten übereinander lagern? Die Realität glitcht, sie verschwimmt, sie entzieht sich. Zunächst einmal ist die Realität in Rudi Nuss’ Debütroman vor allem eins: löchrig. Überall Wurmlöcher in der Welt, überall Übergänge von der einen virtuellen Welt in eine andere, und als wäre das nicht genug, malt der Mitbewohner Wolfgang Bilder mit Schwarzen Löchern in der Landschaft und hat Löcher in der Unterhose. Währenddessen lassen immer mehr Menschen sich und ihr Bewusstsein in Löchern versenken, in Pools.
In einer dystopischen Welt am Rande verschiedener Schichten einer zerfallenden (virtuellen) Realität und am Rande eines Landes, an einer Küste, lebt Conny mit dem schwulen Paar Nikita und Wolfgang auf einem Schrottplatz, wo Nikita Drogen aus alten Computerteilen schmilzt. Herumliegen neben Kuscheltieren und alten Monitoren auch Pixel und abgenutzte Systeme. Die Welt, in der Conny lebt, ist bevölkert vom Inhalt des Internets: „Daten längst vergangener Userx, Messages und Posts von wirren Sexts voller Typos und rassistisch[e] Shitposts und in Gewässern gelöst[e] Discourse bis hin zu irrelevanten, vergessenen Cartoonserien, Amateurporn zarter Otter und flauschiger Dykes“. Immer wieder: der Ausflug in die Virtual Reality Avalon. Die Welten zwischen den Welten sind voller Informationen, Gestalten, Avatare, Mischwesen und Chipskrümel.
Auf der Suche nach einer sowjetischen utopischen Virtual Reality verliebt Conny sich in einen Riesenvogel, und Bewusstsein teilt sich in Form von sieben Kojoten. Zwischen den verschiedenen Schichten der Realität zu switchen, wird für die Figuren zur Selbstverständlichkeit. Die Schichten aus Codes lagern übereinander und lassen das Gefühl zurück, sich darin verlieren zu können.
Rudi Nuss, geboren 1994, gewann 2016 den Publikumspreis beim open mike, war 2019 für den WORTMELDUNGEN Förderpreis nominiert und erhielt 2020 das Stipendium des Berliner Senats. Er hat, als ein Autor der ersten Generation, die mit dem Internet aufgewachsen ist, einen Roman übers Internet geschrieben. Vielmehr aber: Er hat einen Roman in der Logik des Internets geschrieben. Eine Welt, in der alles gleichzeitig vorhanden ist, ist eine Welt, in der die eigene Verortung unklar wird.
Mit großer Melancholie und der großen Geschwindigkeit mehrerer gleichzeitig geöffneter Tabs erzählt Rudi Nuss davon, wie sich die Realität an ihren Rändern anfühlt. Dabei bleibt er auch der Ästhetik des Internets verhaftet: Es gibt keine Ziele mehr, aber sehr viel Zeit. Ein Roman, der zeigt, wie es sich anfühlt, lange Zeit vor einem Bildschirm verbracht zu haben. Der Cyberspace ist soft, kalt, plüschig und sehr einsam.
Längst drängen sich Fragen nach dem Eindringen der Logik des Internets ins Erzählen und in die Dramaturgien auch am Theater. Dortmund ist dafür eins der frühen Beispiele, wo Kay Voges’ „Borderline Prozession“ (2016) das Publikum bereits mit Gleichzeitigkeit und dem Gebundensein an die eigene Perspektive herausforderte. Heute dringen digitale Erzählformate mit Virtual Reality mehr denn je in die Theater. Aus dem Team des Schauspiels Dortmund unter der Voges-Intendanz hat sich die Akademie für Theater und Digitalität gebildet. //