Theater der Zeit

Gespräch

Neue Formen der Animation

Über den ersten Schweizer Masterstudiengang für Figurentheater

Ein langersehnter Wunsch der Schweizer Figurentheaterszene ist wahr geworden. Ab diesem Herbst bietet eine Schweizer Kunsthochschule erstmals einen Masterabschluss in Figurentheater an. Das Problem: Fast niemand hat von der Ausbildung gehört.

von Jacqueline Surer

Erschienen in: double 42: Kultur erben – Generationenwechsel im Theater der Dinge (11/2020)

Assoziationen: Puppen-, Figuren- & Objekttheater Akteure Schweiz

Anzeige

Anzeige

Eines der grössten Probleme der Schweizer Figurentheaterszene ist der Nachwuchsmangel. Um junge Menschen fürs Figurenspiel zu begeistern, fordern Vertreter*innen der Szene seit vielen Jahren die Einführung eines Figurentheater-Lehrgangs an einer Kunsthochschule. Bislang ohne Erfolg. Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) wagte im Jahr 2000 einen einzigen Versuch. 2004 brach sie diesen nach einer Durchführung wieder ab und hinterliess den bislang ersten und letzten in der Schweiz diplomierten Figurenspieler. 

Er wird bald nicht mehr der Einzige sein: Ab Herbst 2020 ist es zum ersten Mal möglich, in der Schweiz einen Masterabschluss in Figurentheater zu absolvieren. Dass sich diese aufsehenerregende Neuigkeit noch kaum herumgesprochen hat, liegt auch am Ort der Durchführung. Das Potenzial des Figurentheaters wurde nämlich nicht von einer der großen Theaterhochschulen in Zürich, Bern oder Lausanne erkannt, sondern von der kleinen Accademia Teatro Dimitri im Tessin, dem italienischen Teil der Schweiz.

Von der Clownschule zur Hochschule für Körpertheater

Die „Scuola Teatro Dimitri“ wurde 1975 vom Schweizer Clown Dimitri in der idyllischen Gemeinde Verscio gegründet. Ursprünglich als Clownschule konzipiert, spezialisierte sich die Institution über die Jahre immer mehr als Ausbildungsort für Körper- und Bewegungstheater. 2006 schloss sich die Ausbildungsstätte der Tessiner Fachhochschule der italienischen Schweiz an. Damit wurde die „Accademia Teatro Dimitri“ zur vierten Kunsthochschule des Landes neben den Hochschulen in Zürich, Bern und Lausanne. Zusätzlich zum dreijährigen Lehrgang „Bachelor of Arts in Theatre“ bietet die Accademia einen zweijährigen „Master of Arts“ in „Physical Theatre“ an. Ab Herbst 2020 kommt nun ein zweiter Master-Studiengang dazu: „Teatro di Figura: Material, Object and Puppet Theatre“.

Den Masterstudiengang weiter auszubauen, plant die Schule bereits seit einigen Jahren. Dass die Wahl nun auf Figurentheater gefallen ist, liegt massgeblich an Pavel Štourac. Der tschechische Puppenspieler und Gründer der Theatercompany Continuo arbeitet seit 2010 als Dozent für Dramaturgie an der Accademia Teatro Dimitri. Für den Initianten des neuen Lehrgangs ist die Accadmia der ideale Ort um Figurentheater zu unterrichten: „Der Körper als Ausdrucksmittel steht hier seit jeher im Zentrum. Im Figurenspiel geht es um nichts anderes als die Animation von Körpern. Zwischen Figuren- und Körpertheater besteht deshalb eine enge Verwandtschaft.“ Ganz neu ist die Kunstform an der Accademia nicht. Auch im Bachelor-Lehrgang wird die Arbeit mit Figuren und Objekten thematisiert und alle Studierenden absolvieren einen Workshop zum Thema Maskentheater.

Unterrichtssprache Englisch

Der neue Studiengang ist in verschiedene Module und Workshops aufgeteilt. Manche Kurse werden zusammen mit den Studierenden des Masters „Physical Theatre“ durchgeführt. Am Ende der Ausbildung müssen alle Figurentheater-Studierenden gemeinsam eine Abschluss-Inszenierung erarbeiten.

In einigen Punkten will sich das Masterstudium klar von den Figurentheater-Ausbildungen in den Nachbarländern abgrenzen. So wird etwa das Thema Puppenbau nur am Rande thematisiert. Der Schwerpunkt soll bei der Animation von Objekten, Material und Figuren liegen. „Wir werden nach neuen Formen von Animation suchen und uns mit vielen zeitgenössischen Fragen rund ums Theater auseinandersetzen“, sagt Pavel Štourac. Da sich die Accademia als international ausgerichteter Ausbildungsort versteht, wird der Unterricht auf Englisch stattfinden. Die Sprache perfekt zu beherrschen, ist allerdings keine Voraussetzung für die Aufnahme. „Die Sprache steht bei uns nicht im Zentrum“, erklärt Štourac „Im Körpertheater arbeiten wir oft mit nonverbalen Mitteln, das soll auch bei der Animationsarbeit so sein.“

Die Lancierung des neuen Studiengangs zu Beginn des Jahres war für die Accademia nicht ganz einfach. Seit dem Ende der Unima Suisse vor einem Jahr existiert in der Schweiz keine Figurentheater-Vereinigung mehr. So gab es für die Accademia keinen zentralen Ort, an dem sie das Angebot in der Szene hätte bekannt machen können. Erschwerend kam im März der Ausbruch des Corona-Virus dazu. Das Echo auf die Ausschreibung blieb deshalb mager. Bis zum Anmeldeschluss Mitte Juni hatten sich lediglich drei Personen für die Aufnahmeprüfung angemeldet. Die Accademia hat den Anmeldeschluss nun nochmals um zwei Monate nach hinten verschoben. Wegen der Coronakrise muss das erste Studienjahr zudem verkürzt durchgeführt werden. Statt wie geplant im September, wird das Semester erst voraussichtlich Mitte November beginnen.

Gastprofessuren und Kooperationen

Momentan sind viele Fragen rund um den Lehrgang noch offen. So ist unklar, wer neben Pavel Štourac an der Accademia unterrichten wird. Mit Ariel Doron hat die Institution jedoch bereits einen bekannten „Guest Professor“ auf der Liste. Wegen Štouracs Bezug zur tschechischen Theaterszene wird es zudem diverse Verbindungen nach Osteuropa geben. Geplant ist unter anderem eine Zusammenarbeit mit der Akademie der darstellenden Künste Prag (Magister Artium). Erste Kontakte wurden auch mit der Hochschule Ernst Busch Berlin, der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart und der Schule für visuelles Theater Jerusalem geknüpft.

Auch wenn es derzeit noch viele Fragezeichen gibt: die Accademia will langfristig in den neuen Lehrgang investieren. Ab dem Studienjahr 21/22 soll der zweijährige Studiengang jedes Jahr mit sechs bis sieben neuen Studentinnen und Studenten starten. Vereinfacht werden soll dieses Ziel durch den geplanten Umzug der Accademia von Verscio nach Losone. Der Ortswechsel würde das dringende Platzproblem der Ausbildungsstätte massiv entschärfen. Sorge, dass die Zahl der Interessenten auch in Zukunft niedrig bleiben wird, hat Pavel Štourac nicht: „Es ist jetzt unsere Aufgabe, das Figurentheater für junge Leute sexy zu machen.“ –
www.accademiadimitri.ch

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Charly Hübner Buch backstage
Cover XYZ Jahrbuch 2023
Recherchen 162 "WAR SCHÖN. KANN WEG …"
"Scène 23"
"Zwischen Zwingli und Zukunft"
Recherchen 165 "#CoronaTheater"
"Die Passion hinter dem Spiel"
Arbeitsbuch 31 "Circus in flux"
"Passion Play Oberammergau 2022"
Recherchen 163 "Der Faden der Ariadne und das Netz von Mahagonny  im Spiegel von Mythos und Religion"
Passionsspiele Oberammergau 2022
"Theater der Vereinnahmung"
Recherchen 156 "Ästhetiken der Intervention"
"Theater unser"
"Pledge and Play"