Theater der Zeit

Das Alltagstheater des Muhaned Al Hadi

von Rolf C. Hemke, Muhaned Al Hadi und Ahmed Sharghi Al Zaydi

Erschienen in: Recherchen 104: Theater im arabischen Sprachraum – Theatre in the Arab World (12/2013)

Assoziationen: Regie Akteure Asien

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Kein anderer Theaterschaffender aus dem Irak hat in den vergangenen Jahren derart großes Interesse und Kontroversen ausgelöst wie der Regisseur Muhaned Al Hadi. Sein Werk markiert einen wichtigen Wendepunkt in der neueren Entwicklung des irakischen Theaters, das in seinen Themen und Ausdrucksmitteln unter Trägheit und Wiederholung litt. Die meisten irakischen Theaterstücke waren im übertragenen Sinne von Blut gezeichnet: Kriegserinnerungen, gewalttätige, sprachlich wie visuell grausame Stücke als Ergebnis dessen, was die Kriege in das kollektive Gedächtnis des irakischen Individuums eingeprägt hatten. So stellte die Figur des Soldaten ein gemeinsames Element der meisten Stücke dar, ebenso wie das Thema des Krieges den sprachlichen Diskurs beherrschte.

So wurden Einflüsse für die Entwicklung von Muhaned Al Hadis Theater entscheidend, die er außerhalb des Iraks empfing. Im Jahr 2002 reiste er – damals noch als Schauspieler – nach Beirut und setzte sich dort mit libanesischem Theater auseinander. Nach einigen intensiven Workshops begann er dann mit der Regiearbeit und inszenierte zunächst gemeinsam mit der Libanesin Pauline Haddad. Nach dem Sturz des Baath-Regimes kehrte Muhaned in den Irak zurück und hoffte, einen Wandel in der Aufführungspraxis des irakischen Theaters erleben zu können. Doch er wurde enttäuscht. Die irakischen Theaterschaffenden huldigten immer noch den Symbolen der Politik und hatten diesen noch solche der Religion hinzugefügt.

„Ich erkannte damals“, so sagt Muhaned Al Hadi heute, „dass sich das irakische Theater nicht weiterentwickeln würde, wenn es nicht der Stimme des einsamen irakischen Individuums als Verlierer in all den gewaltsamen Demütigungen, die es von Seiten der Obrigkeit erfahren hatte, Ausdruck geben würde. Ich konnte meine Vision von einem Theater des marginalisierten Irakers von der Straße jedoch nicht in einem Land umsetzen, in dem Vorboten des Bürgerkriegs wahrnehmbar waren.“

Im Jahr 2004 reiste Muhaned Al Hadi nach Syrien, wo er als Drehbuchautor und Regisseur in einer Produktionsfirma für Fernsehwerbung arbeitete. Doch das Theater ließ ihn nicht los und er überzeugte den Direktor der Firma von der Produktion eines Kindertheaterstücks, das auch tatsächlich zum Erfolg wurde. Muhaneds Vision vom Theater reifte in Damaskus weiter heran. In Zusammenarbeit mit dem dortigen französischen Kulturinstitut konnte er bald eine Inszenierung von Im Park von Marguerite Duras vorstellen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er weiter als Produzent von Fernsehserien – ohne aber den materiellen Verlockungen der Arbeit beim Fernsehen zu erliegen.

Muhaned Al Hadis nächste Arbeit war die Inszenierung seines eigenen, im irakischen Dialekt verfassten Stückes Ausgangssperre. Es handelt von den Sorgen der durch die kriegerischen Auseinandersetzungen marginalisierten irakischen Bevölkerung, repräsentiert durch die beiden Hauptfiguren, den Schuhputzer und den Autowäscher, deren Leben massiv von der amerikanischen Besatzung geprägt sind. Diese Produktion des Stücks wurde von vielen Kritikern und Theatermachern als eine Neuerung angesehen, weil es sich bewußt aus dem irakischen Alltagsleben und seinen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umständen konstituierte. Man kann es insofern als „Alltagstheater“ bezeichnen. Al Hadi hat ein Theater geschaffen, das den Widerschein des politischen Wandels im Irak aufzeigt und die Splitter der Gesellschaft auf den Straßen einsammelt, um sie zu einem kulturellen und – in Bezug auf den irakisch-arabischen Dialekt – sprachlichen Symbol werden zu lassen.

Alles auf der Bühne hat Symbolcharakter, wie Jan Mukarˇovský sagt. So wird bei Al Hadi auch ein einfaches, alltägliches Gespräch auf den Bürgersteigen oder in den Kaffeehäusern zum Theatergegenstand. So wird in Camp das alltägliche Gespräch, aufgelesen von den Straßen der Nachbarländer, in dem der Iraker von seinem Asylgesuch bei den Behörden erzählt, in Szene gesetzt. Ein alltägliches Gespräch, das beim Publikum großes Unwohlsein auslöst, da das Bühnenbild aus diversen Türen besteht, hinter denen der Iraker immer wieder Zuflucht sucht, als wären es die Türen des Himmels, die sich für ihn öffnen sollen. Türen, die zu falscher Hoffnung Anlass geben und in Labyrinthe führen, hinter denen der Flüchtling zu einer Nummer in einer Akte wird, die in einem Schrank hinter diesen Türen aufbewahrt wird.

Mit seinen Regiearbeiten hat Muhaned Al Hadi ein andersartiges und thematisch unkonventionelles Werk geschaffen, das in der tiefen Durchdringung der irakischen Persönlichkeit und ihres Verhaltens beinahe ethnologische Züge annimmt. Im Theaterstück Brennpunkt war er seinen Figuren nicht gerade wohlgesonnen und versetzte sie durch die Explosion einer Autobombe ins Totenreich, wo einer von ihnen die Nachricht von ihrem Tod in der Zeitung liest. Muhaned Al Hadi enthüllt uns seine ausgeprägte Ironie und seinen sarkastischen Blick auf den wertlosen, alltäglichen Tod auf der irakischen Straße.

Das Alltagstheater gilt als unangepasst, sowohl auf der Ebene des Textes – Al Hadi ist selbst Autor der meisten Stücke, die er inszeniert – als auch auf der Ebene der Inszenierung. Von zentraler Bedeutung ist für ihn die Suche nach neuen Möglichkeiten im Bereich des Bühnenbildes, die ihm erlauben, trotz großer Bühnenelemente die Dynamik der Aufführung zu erhalten.

Al Hadi hat in all seinen Theaterstücken mit großen Elementen gearbeitet, die die Bühne vollständig einnehmen – die Mauer in Ausgangssperre, die Türen in Camp, die schwarzen Wände bzw. Kulissen in Brennpunkt – sowie mit einer gelblich weißen Beleuchtung, die Requisiten und Schauspieler wie aus Stein gemeißelt erscheinen lässt.

Obwohl die großen Bühnenelemente zwangsläufig den Bewegungsfluss einschränken, sind sie doch von großer Bedeutung für die Vermittlung der Idee des Stücks und werden innerhalb der Textur der Aufführung sogar wichtiger als die Schauspieler selbst. Die Bühnenelemente bilden den Fokus, an dem sich die visuelle Ordnung der Inszenierung ausrichtet. Es sind bewegliche Elemente, die sich je nach Absicht des Regisseurs in verschiedene Zeichen verwandeln. So stehen die Wände in Brennpunkt für die Struktur der irakischen Gesellschaft – Betonwände, die im Irak nach 2003 erst die Stadt und dann den Bürger ersticken. Sie sind zugleich auch das wandlungsfähigste Zeichen innerhalb des Stücks. Al Hadi bedient sich in überaus professioneller Weise der Bewegung des cineastischen Filmschnitts, indem er einen ästhetisch anspruchsvollen, fließenden Übergang von der gegenwärtigen Welt der Stadt in die jenseitige Welt des Totenreichs vollzieht, wobei der Schauspieler Teil des Bühnenbildes wird. Hier zeigt sich abermals die übergeordnete Bedeutung der großen Bühnenelemente gegenüber der Rolle des Schauspielers, der in ihnen lebt.

In Ausgangssperre finden wir uns vor einer hohen Mauer mit Fenstern wieder. Auch bei der Gestaltung dieses Szenenbildes bedient sich der Regisseur des cineastischen Stils: Wir sehen den Kopf des Schauspielers im oberen und seine Füße im unteren Fenster, so dass ihn seine Körpergröße, die sich nach einer Höhe der Mauer bemisst, wie eine Gestalt aus einer anderen Welt erscheinen lässt – eine Figur, deren Körper sich so weit ausdehnt, wie ihre Träume. Mal verwandelt sich die Mauer in ein Haus mit vielen Fenstern, mal in eine Mauer, die die Figuren vom eigenen Leben trennt, auf dessen Ende sie – durch eine Autobombenexplosion – auf einer belebten Straße warten. Die großen Bühnenelemente sind also von bedeutungstragender Funktion: Politische Zeichen in einem ästhetisch wie gedanklich provokativen Stück.

Im Theaterstück Camp haben sich die Fenster in Türen verwandelt, in ihrer Mitte wieder ein großes Fenster, das zu einem Fernsehbildschirm wird, auf dem wir unseren menschlichen Trümmerhaufen sehen, unseren Kummer und unsere Atemlosigkeit bei der Flucht aus dem Land der Verluste. Die Türen bilden den Fokus für die Figuren in ihrem wiederholten Wechsel zwischen Bewegung und Erstarrung, als ständen wir vor dem eintönigen, untätigen Leben einzelner Individuen einer Gesellschaft. „Ich denke, dass die Lebensumstände, mit denen ich konfrontiert wurde, unmittelbaren Einfluss auf meine Theaterarbeit hatten“, so Muhaned Al Hadi heute. „Der konzeptuelle Wechsel vom Theater zum Fernsehen und zurück, mein ständiger Wechsel zwischen dem Krieg, der den Irak all die Zeit beherrschte, und dem Frieden, den ich lange in Syrien erlebt habe, die Sorge um die Theaterprojekte und immer wieder die Sorge um meine Sicherheit und die meiner Familie, verändern einen Menschen und Künstler.“

Was für Muhaned in all seinen Theaterstücken zählt, ist der Iraker als Mensch oder auch der Mensch an sich, unabhängig von seiner Herkunft. Muhaneds Theater unterscheidet sich nicht sehr von seinem Leben und sein Leben deckt sich allzu oft mit seinem Theater. Es gibt darin bittere Ironie, Sarkasmus und die Hoffnung auf neue Anfänge an anderen Orten – wie Milan Kundera sagt: „Das Leben ist anderswo“.

Der Tod ist in Muhaneds Theater das Ergebnis des Lebens, das er lebt und dessen jüngstes Ereignis zum Zeitpunkt der Niederschrift dieser Worte die Bombardierung seines Hauses in Damaskus ist. Muhaned Al Hadi hat sich derzeit mit seinen Büchern und seiner Familie, mit der er dem Tod entflohen ist, nach Bagdad zurückgezogen. Vielleicht beschäftigt ihn gerade ein neues Theaterstück, in dem er die Geschichte der Zerstörung seiner zweiten Heimat Syrien erzählt.

Übersetzt aus dem Arabischen: Juliane Müller

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