Theater der Zeit

Junge Expertise

Hiermit erklären wir Euch zu: Expert*innen

Kinderjurys im Festival-Machtgefüge

Die kanadische Performancegruppe Mammalian Diving Reflex (MDR) etablierte bei der Ruhrtriennale die Children's Choice Awards. Fast 300 Kinder begleiteten das Festival als Kunstexpert*innen und stellten Gegebenes in Frage.

von Cathrin Rose

Erschienen in: ixypsilonzett: Positionsbestimmungen – Expert*innenwissen reloaded (10/2020)

Assoziationen: Akteure

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Die Frage nach Expert*innentum hat in den letzten Monaten weltweit eine große gesellschaftliche Relevanz bekommen. Wer ist Expert*in, wessen Fachwissen ist das richtige, welche Vorschläge und Maßnahmen der Expert*innen befolgen wir – und welche nicht? Wer bestimmt, wer ein*e Expert*in ist? Corona zeigt deutlich, dass Expert*innentum nicht nur studiert, erworben, erlernt werden muss: es muss einhergehen mit Befugnissen, mit Macht. Um die zu erhalten, reichen Studienabschlüsse, Doktortitel, Fachartikel alleine nicht – es braucht Menschen, die dafür sorgen, dass Beschlüsse umgesetzt werden, es braucht eine Berichterstattung, die für Akzeptanz in der Gesellschaft sorgt.

Pascal Ulrich, Teilnehmer der Children’s Choice Awards 2012 und damals 12 Jahre alt, war in der Spielzeit 2019/20 FSJler beim Jungen Schauspielhaus Bochum. Ich habe ihn gefragt, wie wir aus ihm und den anderen Kindern Expert*innen gemacht haben. Hier seine Antwort: „Bis zu dem Moment, in dem wir in einem der Stücke gesessen haben, wusste ich nicht, worum es geht. Ich war vorher nicht im Theater, die meisten von uns nicht. Wir kamen ja alle nicht von irgendwelchen highclass Gymnasien. Da waren wir also, alles Kinder, und saßen in der ersten Reihe und haben uns Kunst angeschaut und mit Künstler*innen geredet. Ihr habt ja nicht gesagt, dass wir jetzt erst einmal Experten werden müssen. Sondern ihr habt uns einfach so behandelt, als wären wir welche. Damit habt ihr auch gesagt, dass man gar nichts Besonderes können muss, um Theater zu verstehen.“

Die Children’s Choice Awards von Mammalian Diving Reflex sind eine Intervention in die Struktur und die Institution einer Kulturorganisation: Eine Gruppe von siebzig 10 bis 13-jährigen Kindern aus mehreren öffentlichen Schulen wird zur offiziellen Festival-Jury ernannt. Sie werden zu den einzelnen Aufführungen gefahren, um sich Kunst anzuschauen, sich Notizen zu machen und alles zu bewerten. Die Juror*innen orientieren sich an Kriterien, die sie aus ihrem umfangreichen Fachwissen entwickelt haben. Sie bestimmen gemeinsam etwa 50 Preiskategorien und Gewinner*innen. Das Projekt gipfelt in einer Preisverleihungszeremonie, bei der die Kinder den Gewinner*innen, die alle von ihnen selbst bestimmt und mit ihren eigenen Worten beschrieben werden, handgefertigte Trophäen überreichen.

Es gibt bei den CCAs insgesamt sechs Workshops für die Jurykinder, vor Beginn und während des Festivals. Der erste Workshop führt die Kinder in den Kontext des Projekts und seine größeren künstlerischen Ziele ein. Hier wird die Arbeit von Mammalian Diving Reflex beschrieben und diskutiert und andere internationale Künstler*innen vorgestellt, deren Arbeit als „soziale Praxis“ oder „relationale Ästhetik“ angesehen wird, wie zum Beispiel jene des mexikanischen Künstlers Gustavo Artigas: in seinem Projekt Rules of the Game fand auf einem Spielfeld gleichzeitig ein Basketball- und Fußballspiel statt. Es ging dabei nicht um den Wettkampf, sondern um die Verhandlung des zur Verfügung stehenden Platzes und dessen Nutzung. Dieses Projekt hat im Jahr 2000 mit Mannschaften aus den USA (Basketball) und Mexiko (Fußball) in der Metropole San Diego/Tijuana stattgefunden und über die Nutzung zweier Sportsysteme das gleichzeitige Existieren unterschiedlicher Ordnungen thematisiert.

Gemeinsam wird über den sozialen Aspekt der Children’s Choice Awards gesprochen und warum es sich dabei um Kunst handelt. Ein weiterer Workshop beschäftigt sich mit Kinderrechten. Hier listen die Kinder erst all die Dinge auf, die sie nicht tun dürfen, nur weil sie Kinder sind. Dann führen die Künstler*innen von MDR mit den Schüler*innen eine Diskussion darüber, ob jede aufgeführte Einschränkung fair ist oder nicht, und sie stimmen darüber ab. Dieser Workshop trägt dazu bei, die Schüler*innen mit der grundlegenden politischen Motivation der Children’s Choice Awards vertraut zu machen. Die Schüler*innen denken über ihre Rolle in der Gesellschaft nach und über ihre Fähigkeit, fundierte Entscheidungen treffen zu können. Bei den Aufführungen selber bekommen die Jurykinder im Anschluss an jede Vorstellung einen Auswertungsbogen, abgefragt werden die Gefühle und Gedanken zur gerade gesehenen Veranstaltung. Die Auswertung dieses Bogens ist die Grundlage der Preise, die vergeben werden, insbesondere des Hauptpreises der besten Veranstaltung des Festivals.

Die magische Zutat, die die Children’s Choice Awards zu dem macht, was sie sind, ist die Tatsache, dass das Festival die Kinder offiziell zu Expert*innen erklärt und dafür Sorge getragen hat, dass alle, die mit diesen Expert*innen in Kontakt kamen, sie als solche behandeln und respektieren, seien es Künstler*innen, Publikum oder alle Mitarbeiter*innen des Festivals selbst. Darren O’Donnell, künstlerischer Leiter von MDR und Erfinder der CCAs, hat diesen Vorgang mit einer Hochzeit verglichen, die als performativer Akt konkrete Folgen im eigenen Leben hat: eine geänderte Steuerklasse oder vielleicht einen anderen Nachnamen. Ähnlich ist es bei den Children’s Choice Awards: Es sind ganz konkrete Folgen, die mit dem Satz „Hiermit erklären wir euch zu Expert*innen für Kunst“ einhergehen. Insignien der Macht sind ein roter Teppich vor jedem Theater, Plätze in der ersten Reihe zu jeder Premiere und eine Begrüßung, wenn die Jury als letzte Zu schauer*innengruppe ihre Plätze einnimmt. Als Expert*innen sitzen die Kinder auf den teuersten Plätzen, neben Menschen, die für dieses Privileg sehr viel Geld zahlen. Damit hatten nicht nur einige Zuschauer*innen ihre Probleme, sondern auch die Künstler*innen selber. Eine Opernsängerin hat ihren Auftritt verweigert, da sie der Meinung war, dass die Kinder in der ersten Reihe stören würden. Als im zweiten Jahr der CCAs bei der Ruhrtriennale der Kartenverkauf in der teuersten Kategorie zurückgegangen war, blieb die Kinderjury dennoch in der ersten Reihe sitzen. Diese radikale Konsequenz hat dafür gesorgt, dass es keine leere Behauptung war, dass die Kinder die Expert*innen des Festivals sind, sondern dass es zu einer Realität wurde. Kindern muss Macht zugestanden werden, es muss ihnen Platz gemacht werden, auch da, wo es wehtut. Kein*e Künstler*in steht über den Expert*innen und auch finanzielle Gründe können ihnen ihren Status nicht entziehen. Dazu braucht es die Machthaber*innen selber, die die Interessen dieser Kinder schützen, die ihre Macht dazu einsetzen, die Macht der Kinderexpert*innen zu erhalten. Heiner Goebbels, unter dessen künstlerischer Leitung die Kinderjury stattfand, glaubt an eine direkte, nicht weiter vermittelte oder kommentierte Konfrontation von Künstler*in/Werk und Rezipient*in, an die voraussetzungslose Kunsterfahrung – ganz gleich, ob es um ein Kind oder eine*n Erwachsene*n geht. Seine bedingungslose Unterstützung war ein wichtiger Faktor für den Erfolg des Projektes; für ihn stand außer Frage, dass Kinder Expert*innen für Kunst sind. Noch heute finden sich die Preise, die ihm die Jury verliehen hat, auf seiner Internetseite – neben renommierten Preisen für sein Lebenswerk.

Oft fragen Kolleg*innen nach den Künstler*innengesprächen – und danach, wie die Kinder darauf vorbereitet wurden. Diese Gespräche im Anschluss an die Aufführungen waren immer so gut wie die Offenheit und das Interesse der teilnehmenden Erwachsenen. Die Kinder haben sofort gespürt, ob sie ernst genommen werden, ob ein Interesse an ihren Fragen, an ihrer Sicht auf die Kunst besteht, oder nicht. Wer eine anfängliche Unbeholfenheit ausgehalten und sich eingelassen hat, durfte außergewöhnliche Gespräche führen – ganz besonders im Falle einer Tanzperformance bei PACT Zollverein, die der Jury nicht gefallen hat. Die Jurymitglieder hatten schon einige andere Aufführungen gesehen und mit Künstler*innen gesprochen, so dass sie selbstbewusst in das Gespräch hineingingen. An zwei Szenen machten die Kinder ihre Kritik fest, die sie unablässig hinterfragt und auseinandergenommen haben. Es waren genau die Szenen, die bis kurz vor der Premiere zu großen Auseinandersetzungen innerhalb des künstlerischen Teams geführt haben. Das wachsende Interesse der beteiligten Erwachsenen an der Sicht der Kinder hat zu einem Austausch geführt, aus dem Kinder wie Erwachsene einen Gewinn gezogen haben. Die Kinder wurden nicht auf die Gespräche vorbereitet, wenn überhaupt hätte man die Erwachsenen schulen müssen: in Bezug auf Offenheit, Interesse und Zugänglichkeit ihrem fragenden Publikum gegenüber. „Ich hatte vorher nie das Gefühl, dass meine Meinung etwas bedeutet. Es wird einfach nirgendwo gefördert, dass Kinder frei denken. Ich habe mich sehr ernst genommen gefühlt, wahrgenommen. Man hat sich wie der krasseste Shit gefühlt, so wie ihr uns behandelt habt. Nicht nur der rote Teppich, auch die Gespräche mit den Künstler*innen. Wir haben uns ganz schnell in kleine Kunst - kritiker*innen verwandelt. Du musst den Leuten nur eine Plattform geben, die Möglichkeit dazu – und dann passiert so etwas auch.“
(Pascal Ulrich, CCA-Teilnehmer)

Seit 2012 hat sich viel getan. Da muss man sich nur die Gruppen und Nachwuchs-Institutionen ansehen, die sich selbst zu Expert*innen und Theatermacher*innen erklärt haben und die zeigen, was sie können, was sie wollen und wie die Kunst aussieht, die ihnen wichtig ist: Das Theater X (vormals JugendtheaterBüro Berlin) zum Beispiel, das Import Export Kollektiv in Köln, Mit Ohne Alles (eine Gruppe bestehend aus ehemaligen Jurykindern der Ruhrtriennale) oder das 2019 gegründete AY¸SE X-Staatstheater in München. Wichtig sind die Radikalität und Selbstverständlichkeit, mit der sie handeln. Wir erwachsenen, etablierten Kulturschaffenden müssen solche und andere Initiativen und Institutionen schützen und stärken, ihre Expertise anerkennen – und etwas von unserer Macht abgeben. Denn diese jungen Leute verfügen über ein umfangreiches Fachwissen, das wir nicht haben. Sie sind die Gegenwart und ihnen gehört die Zukunft.

 

Cathrin Rose leitet das Junge Schauspielhaus Bochum, zu dem das neu gegründete Theater - revier für Kinder und Jugendliche gehört, eine Spielstätte für inklusives und diversitätsorientiertes Theater für und mit einem jungen Publikum. Zuvor war sie Dramaturgin bei der Ruhrtriennale, wo sie die Vermittlungsabteilung aufbaute und leitete sowie Programmreihen wie No Education und Junge Kollaborationen entwickelte.

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