Theater der Zeit

Thema: Deutsche Wirklichkeit

Die Beobachtung des Beobachters

Der Autor Ingo Schulze über seinen gesellschaftssezierenden Essay „Unsere schönen neuen Kleider“ im Gespräch mit Dorte Lena Eilers

von Dorte Lena Eilers und Ingo Schulze

Erschienen in: Theater der Zeit: Christoph Hein und Ingo Schulze: Rasender Stillstand – Fragen an die deutsche Wirklichkeit (10/2013)

Assoziationen: Brandenburg Akteure

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Herr Schulze, das Senftenberger GlückAufFest beschäftigt sich in diesem Jahr mit der deutschen „Wirklichkeit“. Ihr Text denkt dabei anhand des Märchens „Des Kaisers neue Kleider“ über die selbstverordnete bzw. ‑auferlegte Blindheit unserer Gesellschaft nach: Krise der Euroländer, Krise des Sozialstaats – alle sehen, was derzeit passiert. Doch niemand ruft: Der hat nichts an. Aber stimmt das wirklich? Das Misstrauen der Bevölkerung ist doch recht groß. Es gab Occupy, Stuttgart 21 … Ist Ihnen das zu wenig?

Für mich war das Überraschende an dem Märchen, dass ich es anders in Erinnerung hatte. Ich dachte, wenn das Kind ruft: „Der Kaiser hat ja gar nichts an“, dann ruft das irgendwann auch das ganze Volk, und der ganze Schwindel fliegt auf. Aber es ist doch anders. Der Kaiser glaubt ja selbst, dass das Volk recht hat, aber er meint, nun durchhalten zu müssen. Und so bücken sich die Kammerherren weiter nach der Schleppe, die eigentlich gar nicht da ist. Die Wahrheit ist bekannt, aber es ändert sich trotzdem nichts am grundsätzlichen Verhalten. Wobei meiner Ansicht nach auch gar nicht das kleine Kind der Held ist, sondern der Vater, der nur einen Satz hat: „Hört auf die Stimme der Unschuld.“ Das fehlt oft, dass es jemanden gibt, der für den Zeugen zeugt. Stuttgart 21, Occupy, die Rekommunalisierungen von Wasser und Energie, da gibt es ja sehr viel – aber da braucht es einen langen Atem und noch viel, viel mehr Druck auf allen Ebenen, um die bisherigen Selbstverständlichkeiten zu verändern.

 

Der König im Märchen hat sich ein trickreiches System ausgedacht: Die Kleider, so heißt es, seien für diejenigen unsichtbar, die unverzeihlich dumm sind. Das will natürlich niemand sein. Aber ist es nicht gerade die Dummheit oder, sagen wir, Naivität, die den Anfang aller Kritik bildet? Zu sagen, ich verstehe nicht, dass ich als Privatperson bei Geldanleihen hafte, eine Bank aber nicht?

Ja, aber das ist gerade nicht dumm, das wird nur als dumm und naiv oder idealistisch denunziert. Es geht darum, die ganz einfachen Fragen zu stellen. Und die lassen sich meistens leichter formulieren, wenn man am Rand steht. Sicherlich sind Experten Menschen, die im Detail Bescheid wissen, aber die ihr eigenes Tun nicht infrage stellen. Die Fragen „Warum machen wir das überhaupt? Warum muss das so sein?“ sind Fragen, die sie nicht stellen, die müssen von außen, die müssen von der Gesellschaft kommen.

 

Die neuen Kleider sind, folgt man der Analogie in Ihrem Text, zuallererst aus „Falschwörtern“ gestrickt: „Shareholder Value“ statt „Profit“, „Anreiz für Wachstum“ statt „Kürzung der Arbeitslosenhilfe“. Sie sind als studierter Philologe ein unerbittlicher Sprachkritiker. Beim Kanzlerduell müssen Ihnen in der Beziehung ja die Haare zu Berge gestanden haben.

Das erinnert einen schon an das Ende der DDR, dass Politiker eine Sprache sprechen, die in begrifflichen Abstraktionen und Formeln erstarrt ist, bei denen man keinen oder kaum noch einen Bezug zum eigenen Alltag entdeckt. Es tritt letztlich auch das ein, was im Märchen passiert: dass es gar nicht mehr um die Beobachtung der Realität geht, sondern um die Beobachtung des Beobachters. Und wehe, der macht keinen Kniefall vor der heiligen Kuh Wachstum und Markt. In dem Punkt ist sich doch die Mehrheit der Politiker einig: Mehr Privatisierung, mehr Markt, mehr Wachstum, und das soll dann mehr Freiheit bedeuten. Fragt sich nur, für wen.

 

Sie sagten einmal in einem Interview, Sie hätten 89 den Eindruck gehabt, von einer Welt der Worte in eine Welt der Zahlen zu kommen. Später im Gespräch relativierten Sie das. Nun aber müsste diese Wahrnehmung doch stärker sein denn je?

Ich bin froh, dass ich das damals relativiert habe. Denn das ist in gewisser Weise eine neue Ideologie, zu sagen: Es geht hier nur noch um Zahlen, und wir haben es hier nur noch mit Sachfragen bzw. Sachzwängen zu tun. Natürlich sind das auch hoch ideologische Dinge. Man schafft, man verändert eine Welt und gibt sie dann als gegeben aus. Aber natürlich können wir das auch ändern, man kann auch die Marktregeln ändern, man braucht dafür nur eine Mehrheit und die Kraft, das zu durchzusetzen.

Die Tagesschau beginnt mit den Börsennachrichten und endet mit dem Wetter. Und ganz egal, wie kritisch die Berichterstattung dazwischen ist, es vermittelt sich eben doch immer der Eindruck, man hänge zwischen diesen beiden objektiven Dingen fest: der Börse und dem Wetter. Dass wir das Wetter beeinflussen, haben wir inzwischen gelernt, dass wir aber der Börse andere Regeln geben könnten, liegt noch außerhalb unserer Vorstellung.

 

Das Erschreckende am Kanzlerduell war auch, dass da vier mehr oder weniger kluge Moderatoren standen, die diese angeblichen Sachzwänge so durchsausen ließen.

Das ist das eigentliche Problem. Wenn da mal ganz anders gefragt werden würde, würde das natürlich die große Hilflosigkeit offenbaren.

 

Ein Moment der Ehrlichkeit.

Ich glaube, dass Merkel oder Steinbrück grundsätzlich ehrenwerte Menschen sind, sie schummeln, taktieren und lügen sicher auch hier und da. Aber in den grundsätzlichen Überzeugungen glauben sie sich selbst. Sie sind Überzeugungstäter.

 

Und antworten auf den Einwurf „Das verstehe ich nicht“ mit: „Das ist auch nicht zu verstehen, das ist ganz kompliziert.“ – Deshalb schwören uns Autoren wie Harald Welzer auch immer wieder darauf ein: Leute, so kompliziert ist das alles nicht.

Ja, ganz richtig. Natürlich sind alle Vorgänge auf eine verständliche Weise darzustellen. Auch die Finanzkrise. Das Erschreckende ist, dass die einfachsten Dinge nicht mehr als Maßstab genommen werden. Wo jedes Kind sagt: So haut das doch nicht hin. Wenn man Merkel und Steinbrück einfach mal gefragt hätte: Eine Versicherung, die staatliche Altersvorsorge betreibt und eben nicht private, ist den privaten doch grundsätzlich überlegen, weil sie nicht noch über die Dienstleistung hinaus Profit machen muss. Warum müssen solche Dinge privatisiert werden?

 

Wie lässt sich Sprachkritik trainieren, die Distanz zu den Worten? Im Theater möglicherweise, wo es nicht um das schnell getwitterte Wort geht?

Ich denke, dass alle Kunst, natürlich auch das Theater, aber auch die Geisteswissenschaften dazu da sind, Distanz zu den eigenen Selbstverständlichkeiten zu schaffen. Im Alltagsleben ist das nicht möglich, sich bei jedem Wort zu fragen: Wo führt mich das jetzt hin? Aber genau das ist Aufgabe von Kunst. Und wir sollten dieses Privileg, nachdenken zu können, etwas ausprobieren zu können, dann auch nutzen und in gewisser Weise als eine Erkenntnis an die Gesellschaft zurückgeben. Denn das ist notwendig, dem Zuschauer den Blick von außen auf sich selbst und die Gesellschaft zu ermöglichen, nur die kritische Distanz führt zum Handeln.

 

Und handeln heißt …?

 

Wahlen, Demos und Bürgerinitiativen – da gibt es gar nicht so wenig, aber es ist natürlich auch eine Frage des Bewusstseins, um die eigene Vereinzelung zu überwinden.

 

Nun verstreut sich das Politische aber immer mehr, Entscheidungen werden auch in Brüssel getroffen. Durch die NSA sind all unsere nationalen Standards dahin.

Das kann man auch genau anders herum und ermutigend sehen. Bei Stuttgart 21 sind jeden Montag noch immer 3000 bis 4000 Leute auf dem Marktplatz, aber das Entscheidende sind diese Arbeitsgruppen, die sich da unter der Oberfläche gebildet haben. Die organisierten jetzt im Sommer ein europaweites Treffen, wo Bürgerinitiativen aus Ländern mit vergleichbaren Großprojekten eingeladen waren. Das finde ich enorm. Sich zusammenzufinden ist ja immer noch das Schwierigste. Die Wirtschaft war sozusagen schon immer international vernetzt. Die Politik hinkt da bis heute hinterher.

 

Und auch wir als Bürger.

Ja, leider, weil wir das sozusagen in unserer Freizeit machen müssen. Aber etwas wie die Weltsozialforen, die deutlich machen, dass Probleme der Privatisierung von Wasser, Energie, Bildung, Gesundheitsfürsorge, Verkehrswesen, Rohstoffen etc. weltweite Prozesse sind – da sind andere oft weiter als wir, denken Sie an die Bürgerhaushalte in Porto Alegre. Da kann man sehr viel lernen und eben auch auf eine gute Idee gebracht werden. //

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