„Das Mandat der Gewissheit“
Über das Selbstverständnis kommunistischer Herrschaft im 20. Jahrhundert
von Martin Sabrow
Erschienen in: Recherchen 143: Ist der Osten anders? – Expertengespräche am Schauspiel Leipzig (04/2019)
<p class="noindent">Nur wenige Waggons zieht die Lokomotive in David Leans Filmepos <em>Doktor Schiwago</em>, die während des russischen Bürgerkriegs die eisigen Weiten Russlands durchmisst, um die Truppen der Roten Armee in ihrem Kampf gegen die Weißgardisten zu unterstützen. Der rote Panzerzug fährt durch ein verheertes Land. Aber auf ihm knattern und künden zwei flatternde rote Stander vom Anbruch einer besseren Zeit. Sie markieren den Wagen, in dem ein einsamer Mann über militärischen Operationsplänen und anfeuernden Reden brütet – Strelnikow, der Leo Trotzki nachempfundene Kriegskommissar der jungen Sowjetmacht.</p>
<p class="indent">Ohne Gruß und Dank passiert er unzählige, die Gleise säumenden Soldaten und Zivilisten, deren Zug endlos lange auf freier Strecke warten muss, um dem seinen die Vorfahrt zu lassen. Und sein kalter Blick gleitet an dem namenlosen Elend der geschundenen Bevölkerung vorbei in die Ferne einer verheißungsvollen Zukunft. Er kann so handeln, er muss so handeln, weil die Lokomotive, die seinen Wagen zieht, die Lokomotive der Geschichte ist. Und weil sein Tun einem höheren Ziel dient als dem der mitmenschlichen Caritas, nämlich dem Sieg der Revolution.</p>
<p class="indent">David Leans Filmszene fängt einen in der Tat welthistorischen Moment ein. Mit der Russischen Oktoberrevolution vor bald 100 Jahren trat ein neuer Herrschaftstypus in die Gegenwart,...