Thema: „Mein Kampf “ in Weimar
Notiz zum Rassismus
von Marcus Steinweg
Erschienen in: Theater der Zeit: Der Auftrag – Lars-Ole Walburg und Sewan Latchinian (10/2015)
Assoziationen: Thüringen Theaterkritiken
In dem „Bild und Gewalt“ überschriebenen Kapitel von „Au fond des images“ (2003) kommt Jean-Luc Nancy auf das Verhältnis von Gewalt und Rassismus zu sprechen. Nachdem er die Gewalt für „grundlegend dumm“ erklärt hat – „dumm im stärksten, dichtesten und unverbesserlichsten Sinne. Nicht als fehlende Intelligenz, sondern, mehr noch, als Hirnrissigkeit des abwesenden Denkens, mit dem Kalkül einer verkrampften Intelligenz“ –, heißt es über die rassistische Gewalt: „sie haut auf die Fresse, weil ihr – in ihrer Hirnrissigkeit – die Fresse nicht gefällt.“1 Entscheidend an dieser Bemerkung, die den vulgären Affekt rassistischer Brutalität imitiert, ist, dass sie den Rassismus, den es nur als gewalttätigen gibt, noch dann, wenn er unbewusst ist und sich, wenn man so sagen kann, auf die diskreteste Weise äußert, statt ihn nur mit der Dummheit zu assoziieren, als Problem des Denkens in Gestalt seiner Abwesenheit zu denken gibt. Rassismus ist ein Denkfehler von Leuten, die nicht denken, bevor er – mit immer hässlicher Fratze – als Meinung auftritt, in der sich die Denkverweigerung als doxologischer Irrsinn manifestiert. Wo es um die elementarste und in diesem Sinn unbedingte, wenn auch nicht freischwebende oder kontextlose und ahistorische Anerkennung des Anderen als egalitäres Subjekt geht, geht es nicht um Meinungen und Meinungsaustausch, sondern um die Weigerung, sich zu denken zu weigern, solange denken hier heißt, die Evidenz der Egalität zwischen den Subjekten unterschiedlicher Ethnien als Selbstverständlichkeit gelten zu lassen, statt dem hirnrissigen Ressentiment, das in allen Rassismen arbeitet, nachzugeben, der Furcht vor einer Gleichheit, die den angeblich freien Meinungspartikularismus bedroht. Der Rassismus nährt sich aus dem Gefühl der Bedrohung durch die Nicht-Exklusivität einer Egalitätsgemeinschaft, die jedes Subjekt qua Subjekt per definitionem aufnimmt. Hirnrissig ist, wer alles daransetzt, nicht zu denken, um sich mit seinen Ressentiments bewaffnet zum Opfer zu stilisieren. Denken aber heißt, der reaktionären Doxa ihre Gelenktheit, Beliebigkeit und Inkonsistenz vorzuführen. Weil es kein Subjekt gibt, das – ein für alle Mal – von doxologischer Simplizität befreit wäre, bedeutet zu denken immer auch, gegen sich selbst zu denken, weiterzudenken, unendlich weiter, als das aktive Nichtdenken, das Nancy hirnrissig nennt, es sich auch nur eine Sekunde lang vorstellen will. Eine sehr einfache und dabei gänzlich provisorische Definition des Rassismus könnte diese sein: Rassismus ist Selbstviktimisierung vor dem Hintergrund faktischer Selbsterhebung und Überheblichkeit. Wie gesagt: ein Denkfehler von Leuten, die nicht denken.
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Evidenzterror“ von Marcus Steinweg, das im Oktober 2015 im Verlag Matthes & Seitz, Berlin, erscheint.
1 Jean-Luc Nancy: Am Grund der Bilder (Au fond des images), Zürich/Berlin 2006, S. 33 f.