Protagonisten
Und was machen wir mit Mephisto?
Goethes „Faust“ im deutschen Staatssozialismus
Erschienen in: Theater der Zeit: House of Arts – Über Macht und Struktur am Theater (10/2020)
Assoziationen: Akteure
„Faust war kein faustischer Mensch.“
Emil du Bois-Reymond, 1882
Es war im Frühjahr 1962, ein knappes Jahr nach der Berliner Grenzschließung, als Walter Ulbricht die Kulturschaffenden seiner Partei zu einer internen Konferenz zusammenrief, um ihnen wegweisende Worte zu sagen. Das Ziel, auf das der 1960 zum Staatsratsvorsitzenden avancierte Parteichef seine Genossen orientierte, war hochgesteckt; er hatte sich der „Faust“-Lektüre erinnert, zu der ihn in Lehrlingsjahren der sozialdemokratische Arbeiterjugend-Bildungsverein angeregt hatte, und war im Blick auf Fausts visionäres Schlusswort am Ende des zweiten Teils auf den hoffnungsvollen Gedanken gekommen, dass „die Arbeiter und Bauern des Landes ... mit ihrer Arbeit, mit ihrem Kampf für Frieden und Sozialismus ... den dritten Teil des ,Faust‘“ schrieben. Dachte er daran, dass das hohe Ziel, das dem erblindeten Hundertjährigen vor Augen steht, die ultimative Hoffnung, einmal „auf freiem Grund mit freiem Volke“ zu stehen (Vers 11580), in der DDR insofern realisiert worden war, als das Privateigentum an Grund und Boden weitgehend zurückgedrängt worden war? Nicht durchgängig (es gab noch privates ebenso wie genossenschaftliches Eigentum), aber großenteils waren die Einwohner Mieter staatlicher oder kommunaler Eigentümer geworden und profitierten davon durch das definitive Ausbleiben von Mieterhöhungen. Das bedeutete zugleich, dass niemals Geld genug für substanzerhaltende Maßnahmen da...