Staatstheater Stuttgart: Tampons gegen den Lebensschmerz
„МАТЬ ГОРЬКОГО / Gorkis Mutter“ von Lena Langushonkova Regie Maxim Golenko, Bühne und Kostüme: Olesia Golovach
von Elisabeth Maier
Assoziationen: Theaterkritiken Baden-Württemberg Schauspiel Stuttgart
Erinnerungen an den Kommunismus in der Sowjetunion sind noch lebendig. „Man kann draußen keine Wäsche aufhängen – die ist sofort schwarz.“ In düsteren Bildern lässt die Mutter die Vergangenheit vorbeiziehen. Aus heutiger Sicht wirkt das trostlos. Doch für die gleichgeschalteten Sowjetmenschen schien die Welt damals noch in Ordnung zu sein. Längst hat die Realität der Arbeiterhelden da aber schon nicht mehr funktioniert. Da geizt Lena Langushonkova, Trägerin des Europäischen Nachwuchsdramatiker:innenpreises des Staatstheaters Stuttgart, nicht mit drastischen Bildern. Das Gemüse für den täglichen Verbrauch wurde mit menschlicher Scheiße gedüngt. Widersprüche wie diesen legt die ukrainische Autorin Lena Lagushonkova in ihrer Familiensaga „Gorkis Mutter“ offen. Am Kammertheater des Staatsschauspiels Stuttgart hat Maxim Golenko, Hausregisseur am Akademietheater in der ukrainischen Stadt Odessa, das tiefenscharfe Drama gegen das Vergessen in Szene gesetzt.
Das Spiel mit Wirklichkeitsebenen und mit der Geschichte, zart ineinander verwoben und doch klar auf den Punkt gebracht, macht die Qualität von Lagushonkovas Dramatik aus. Für ihr literarisches Schaffen wurde die Autorin, die in Stanyzja Luhanska in der Ostukraine geboren wurde, mit dem Preis ausgezeichnet, der mit 25000 Euro dotiert ist. Als sie von der Auszeichnung erfuhr, musste sie sich in ihrer Heimat vor Bombenhagel und Schüssen in Schutzräumen verstecken. Später gelang ihr gemeinsam mit der Mutter die Flucht nach Polen. Da lebt sie jetzt. Getrieben von der Angst um ihr Land und um die Menschen, die sie zurücklassen musste.
Weil der Krieg in der Ukraine Theaterarbeit unmöglich macht, hat Maxim Golenko das Stück am Kammertheater des Stuttgarter Staatsschauspiels nun uraufgeführt. Nur drei Mal war die Produktion mit einem rein ukrainischen Ensemble zu erleben. Trotz griffiger Übertitel gelang es dem deutschen Publikum nur bedingt, dem tiefenscharfen Text in der Originalsprache zu folgen. Die ukrainische Community dagegen ließ sich vom leichten Fluss tragischer und komischer Momente treiben, den Lydia Nagels Übersetzung klar und schön zum Tragen bringt. Ihr Lachen ließ sich für die deutschen Zuschauer:innen nicht an allen Stellen nachvollziehen. So gingen Zwischentöne verloren. „Gorkis Mutter“ ist alles andere als eine Momentaufnahme. In den dynamisch gestrickten Dialogen spürt Lagushonkova den Rissen in der ukrainischen Gesellschaft nach, die in den Krieg führten. Zweifel und Ängste ihrer Generation schlagen ein wie Blitze. Gespräche über Tampons und über die Menstruation ersticken den Lebensschmerz.
Starke Gefühle, die sich in den Dialogen entladen, zerrt Maxim Golenkos analytisch-klare Regie gar zu radikal auf den Boden der Sachlichkeit. Vier Frauen zweier Generationen agieren in der grauen Steinwüste, die Olesia Golovach geschaffen hat. Ein leuchtendes Kreuz und eine Discokugel spiegeln die unterschiedlichen Lebenswelten. Dogmatische Werte, an denen sich die Frauen in der Sowjetunion festklammern konnten, gibt es nicht mehr. Die geordnete Welt des sozialistischen Realismus, wie sie der russische Dichter Maxim Gorki 1906 in seinem Roman „Die Mutter“ zeigte, ist zerstört. Im Stücktitel spielt die junge Autorin mit diesem literarischen Vorbild. Ihre Mütter jedoch lassen auch Zweifel und Ängste zu.
„МАТЬ ГОРЬКОГО / Gorkis Mutter“ erzählt im 21. Jahrhundert die Geschichte starker Frauen aus feministischer Perspektive. Die Schauspielerinnen Inna Balbotko, Senia Doliak, Diana Kalandarishvili und Tetyana Krulikovska entfalten die Lebensläufe der Schwestern, die sich in neuen kapitalistischen Welt Halt suchen. Wortgewaltig zeichnet Langushonkova nach, wie sich der Krieg in die Köpfe der Menschen frisst. Dabei erzählt sie vom Scheitern der Lebensträume und Ideale: „Und nach der Uni standen andere Dinge an. Böden wischen, auf dem Markt in einem Kiosk Spitzenhöschen verkaufen und das Gold im Schaufenster von ‚Karat‘ mit irgendwelchen Wirkstoffen abreiben.“ Lebensträume junger Ingenieurinnen zerbrechen wie das Licht auf der Discokugel.
Dunkle Alltagsszenen und Zeitgeschichte verbindet Lena Langushonkova in ihrem Drama virtuos. Die Historikerin beschreibt Menschen aus ihrer Alltagswelt. Die junge Frau forscht nach Ursachen des Krieges, die jahrzehntelang in den Köpfen der Menschen schwelten. Ihre kluge Gesellschaftsanalyse ist des Europäischen Nachwuchsdramatiker:innenpreises im besten Sinne würdig. Nicht nur in Zeiten des Ukraine-Kriegs und der Krise des Kontinents hat der Alleinjuror Marius Ivaškevičius damit eine hervorragende Auswahl getroffen. Lena Langushonkova steht für eine Generation neuer Dramatiker:innen, die politisches Theater auf dem Hintergrund persönlicher Erfahrung frisch und undogmatisch denken.
Erschienen am 11.12.2022