Auftritt
Sommerkomödie Erfurt: Molière zwischen den Zeiten
„Der Menschenfeind“ von Molière, Textfassung von Fabian Hagedorn – Inszenierung Markus Fennert, Ausstattung Coco Ruch, Musikalische Leitung Cindy Weinhold, Choreografie Mareike Greb
von Michael Helbing
Assoziationen: Theaterkritiken Thüringen Markus Fennert Sommerkomödie Erfurt

Ungefähr in der Mitte dieses gerafften Neunzig-Minuten-Abends interveniert die Bühnenmusikerin: „Geht’s noch?“, ruft Cindy Weinhold in die Szene. „Alter, wir haben nicht mehr 1666!“
Dabei stammt, was Acaste (Reiner Gabriel) absonderte und worauf sich der Protest bezieht, weder aus dem in jenem Jahr uraufgeführten „Menschenfeind“ noch überhaupt von Molière. Es stammt von Rapper Kay One, der das 2010 mit Sonny Black alias Bushido intonierte: „Ich hab‘, ich hab‘, ich hab‘ Style und das Geld. Ich hab‘ all das, was den Fotzen so gefällt.“
Mit diesem vergleichsweise jungen Macho-Spruch, der aber sozusagen auch schon sehr von gestern ist, macht ein nicht mehr ganz so frischer Marquis auf cool und jugendlich, um damit ziemlich alt auszusehen. Nicht viel anders der andere: Clitandre (Matthias Herold), der ständig „Sheesh, Digga“ ins Gerede einflicht. Der eine wie der andere Fatzke rechnen sich dabei noch Chancen auf die Hand der gewitzten Célimène aus: eine Kokette, die ein wenig in den Ruf einer Kokotte gerät.
Wir befinden uns hier, sagt uns das pars pro toto, zwischen den Zeiten: wo das Alte neu und das Neue alt aussehen kann. Das ist ein Prinzip in der Sommerkomödie Erfurt, wie seit fünf Jahren die Ruine der Barfüßerkirche bespielt und damit eine Tradition fortsetzt, die das inzwischen aufgelöste Neue Schauspiel Erfurt zwischen 2003 und 2015 ausschließlich mit Shakespeare begründet hatte.
Diese „SoKo“ betreibt mit tradierten Texten heiteres Gegenwartstheater, ohne eine vordergründig zeitgenössische Ästhetik; sie gibt sich, in den Ausstattungen Coco Ruchs zumal, stets den Anschein des Klassischen, das sie jedoch zu ironisieren weiß. Doch diesmal haben sie es damit auf die Spitze getrieben: in und mit einer Komödie, die „ja nicht das klassische Sommertheaterstück“ bedeutet. Dessen war sich Markus Fennert, der an dieser Stelle, an der schon häufig auf der Bühne zu sehen war, nun seine zweite Regiearbeit abliefert, von Beginn an voll bewusst (TdZ 4/2023).
Sie verzichten nun weitgehend auf ein Bühnenbild, von einer Treppenkonstruktion abgesehen, vor der die Zwei-Mann-Band platziert wird (Geiger Lukas Bergmann-Gabel neben Weinhold). Zwischen den Pfeilern der Ruine dominieren die Beige-Töne der Trenchcoats, aus denen den Barock zitierende Kostüme wurden. Violette Applikationen und Bordüren sorgen, neben roten Wangen, für etwa Farbe.
Kräftiger und deftiger zeichnen Wort und Musik den Abend. Fabian Hagedorn hat sich, wie schon für Goldonis „Diener zweier Herren“ 2019, eine neue Textfassung buchstäblich zusammengereimt: in der Form von gestern, im Inhalt sehr viel mehr von heute. Kostprobe: „Party bis zum Gehtnichtmehr! – Warum nicht gleich Oralverkehr!?“ So wird aus Alcestes rhetorischer Frage „Wer zwingt sie denn zur Reimerei?“ zugleich eine selbstironische, nachdem sich Oronte (Felix-Constantin Voigt) mit seinem Gelegenheitssonett über Hoffnung in der Liebe artifiziell und gespreizt zur Lachnummer machte.
Der Abend beginnt mit im Grunde Undenkbarem: musikalisch-politischem Kabarett über Zustände am Hof des Sonnenkönigs. Cindy Weinhold hat zu „L‘état, c‘est moi!“ einen ohrwurmtauglichen Pop-Tango komponiert. Alle singen, musizieren und tanzen mit, nach Choreografien der in historischen Tänzen sehr bewanderten Mareike Greb, die zudem als Célimènes Cousine Eliante auftritt.
Wirklich alle? Nein, einer nicht! Alceste, der Menschenfeind, lehnt verdrießlich am Pfeiler, in Lektüre vertieft. Das wirkt wie eine Setzung: die Titelrolle als Randerscheinung. Und tatsächlich wird sich Philipp Oehme mit einem sehr eigenen Ton, der nicht zu diesem Abend zu passen scheint, kontinuierlich aus dessen Zentrum spielen. Sein Alceste, kompromisslos seiner Wahrheit verpflichtet, „das heuchlerische Schleimen“ der Gesellschaft anklagend, wäre wohl am liebsten gar nicht hier.
Er ist, gewissermaßen zwei Könige und mehr als ein Jahrhundert zu früh, gleichsam der Sansculotte, als einziger mit Beinkleid bis zum Schuh. Diesem radikal Tugendhaften, aufdringlich aufrichtig, würde an geeigneter Stelle der Geschichte Blut an den Händen kleben. Oehme spielt eine subtil gefährliche Figur, aber leider keine lächerliche. Man kann mitunter mit ihm lachen, niemals aber über ihn. Das ist ein gar nicht mal so kleines Problem in einem Stück, das jede Rolle auf die tragikomische Weise abwechselnd ins Recht und ins Unrecht setzt, ihr Würde gibt und wieder nimmt.
In die Mitte rückt, an seiner statt, zusehends die Célimène der Julia Maronde. Auch dieser latent feministische Fokus hat inzwischen eine gewisse Tradition in der Sommerkomödie. Diese Frau hier ist, anders als bei Molière, längst keine zwanzig mehr; der große Altersunterschied zu Alceste entfällt. Stattdessen: eine gereifte Frau, die umschmeichelt und sich umschmeicheln lässt, weil ihre Existenz davon abhängt.
Maronde spielt das wie ein Chamäleon, extrem anpassungsfähig, mit sehr vielen verschiedenen Gesichtern, die hässlichen nicht aussparend. Auf der ansonsten unmöblierten Bühne landet sie schließlich auf dem heißen Stuhl, wie angeklagt des doppelten Überlebensspiels mit der höfischen Gesellschaft, welches ihr nun die natürliche Röte ins Gesicht treibt, sie aber auch der Autonomie entgegen. Sie entledigt sich der Opferrolle, die ihr die bigotte Zicke Arsinoé (Andrea Seitz) intrigant zuwies: „Ich denk‘ nicht dran!“, lautet ihr finaler Satz, als Antwort auf das Angebot Alcestes, den sie trotz allem liebt, sich in aller Zurückgezogenheit von ihm einhegen zu lassen. Dann geht sie ins Off und damit ins Offene, womit sich das offene Ende dieser Beziehung allerdings zugleich erledigt hat.
Eliante wäre wohl mit Alceste gegangen, auch als Ersatzgeliebte und Seelentrösterin. Sie bot ihm buchstäblich die blanke Schulter, er ihr gewissermaßen die kalte, bis Célimène aufkreuzt und er diese eifersüchtig machen wollte. Mareike Greb erduldet die Erniedrigung in großer Stille und stiller Größe, wendet sich dann aber lieber dem Menschenfreund Philinte des Martin Bertram zu, der hier, wo die Diener gestrichen sind, eine doch etwas zu dienende Rolle einnehmen muss.
An Dieners statt kündigt ansonsten Bruder Jakob jeden Besuch an: Das Ding-Dang-Dong der „Frère Jacques“-Melodie gerät zum Running Gag. Und Gags rennen auch darüber hinaus durch diese muntere Aufführung, die zugleich ihre Moral und ein launiges, aber auch launisches Sommertheater verteidigen will. Das geht nicht ohne Reibungsverluste zusammen; es kommt zu gehörigen Schwankungen in der Betriebstemperatur. Aber es löst sich eben auch nicht alles in Wohlgefallen auf. Da bleibt ein Rest, der die Beschäftigung anno 1666 ebenso lohnt wie 2023.
Erschienen am 2.8.2023