Theater der Zeit

Auftritt

Wien: Geschichtäääh

Burgtheater Wien: „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ (DSE) von Dead Centre und Mark O’Connel; Schauspielhaus Wien: „Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit“ von Lydia Haider

von Margarete Affenzeller

Erschienen in: Theater der Zeit: Vorwärts immer, rückwärts nimmer – Schwerpunkt Klassismus (02/2021)

Assoziationen: Schauspielhaus Wien Burgtheater Wien

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Wir streamen uns in den Frühling 2021. Inzwischen hat sogar das digital bisher nur auf Nebenschienen aktive Burgtheater Wien klein beigegeben und eine exklusive Online-­Produktion auf die Beine gestellt. In „Die ­Maschine in mir (Version 1.0)“ fragt das irisch-britische Regieduo Dead Center (Ben Kidd und Bush Moukarzel) passenderweise nach dem konfliktreichen Ineinandergreifen von Mensch und Technik. Der Abend – man kann ihn so nennen, da er allabendlich live aus dem Kasino des Burgtheaters gestreamt wird – basiert auf dem Reportagebuch des irischen Autors und Journalisten Mark O’Connell, der sich unter anderem im Silicon Valley aus nächster Nähe Technologieunternehmen angesehen hat, die an der Optimierung des Menschen (bis hin zur Unsterblichkeit) arbeiten.

Dahinter steht die Denkrichtung des Transhumanismus, die an die Erweiterung des Menschseins durch technische Hilfs­mittel glaubt und sie im Dienst des Fortschritts ­propagiert. Beispielsweise ließ sich der ­Softwareentwickler Tim Connor ein Gerät implantieren, das entsprechend seiner Körpertemperatur die Heizung ein- oder ausschaltet. Das an seinem Unterarm frisch zugenähte Viereck wirkt auf dem Foto via Bildschirm in Großaufnahme besonders horribel.

Transhumanismus ist ein brisantes Thema. Im fünfzigminütigen Solo von Michael Maertens, der als Autor O’Connell wie in einer Lecture in Erscheinung tritt, werden Trans­humanismusfragen indes nur oberflächlich behandelt. Vielmehr benützt Dead Centre die Beispiele aus dem Buch, um die Technik­faszination umzumünzen in eine Betrachtung des Theaterstreams und seiner eigenen Un­zulänglichkeit. „Die Maschine in mir“ ist also beides: technikbasiertes Theater und zugleich das Bedauern desselben. Damit erreicht man den größten gemeinsamen Nenner: Technik ist pandemiebedingt derzeit unumgänglich, aber echtes Theater ist es halt nicht.

Dabei spielt uns Maertens sehr wohl etwas vor, er behauptet, 41 Jahre alt zu sein und Mark O’Connell zu heißen. „Wieder ein neues Gesicht am Bildschirm“, begrüßt er mit ­melancholischen Augen in Nahaufnahme sein Publikum. Dieses ist nicht wie bei diversen Online-Konferenz-Tools in kleinen Kästchen sichtbar, sondern „sitzt“ via Tablets (und ­voraufgezeichneten Kurzvideos) auf der Zuschauertribüne. Einmal bekommt jeder ­Zuschauer sogar seine individuelle Perspek­tive auf die Bühne geliefert. Dort steht dann ­Maertens im leeren Saal neben einem Tablet und vor der Kamera, die ihn live filmt. Zum Beweis guckt er auf die Armbanduhr und gleicht Datum und Uhrzeit mit dem Ist-Moment ab.

Der kurze Abend macht besonders ­bewusst, dass der jeweilige Bildausschnitt vom Publikum nicht steuerbar ist, dass wir – im Gegensatz zum Zuschauen vor Ort – durch eine Maschine sehen. Was aber sehen wir? Ist es das Bühnenbild live vor Ort oder doch nur ein Bild auf einem weiteren Bildschirm? Es wird also mit Bildausschnitten gespielt, was ein paar gute Effekte erzielt.

Maertens als O’Connell stellt einige Protagonisten des heutigen Transhumanismus vor, darunter Google-Entwicklungschef Raymond Kurzweil, der vom Hochladen des Gehirns träumt (Algorithmus), oder die Firma Alcor in Kalifornien, deren Chef Max More aus eingefrorenen Leichen dermaleinst wieder ­lebendige Menschen zu machen gedenkt. Auch biografische Anhaltspunkte von O’Con­nell/Maertens kommen ins Spiel und bringen in dieser ­Koproduktion mit dem Dublin Theatre Festival weitere miteinander korrespondierende Ebenen ein. Wer ist jetzt wann wer, und stimmt das alles überhaupt? Auch Maertens zweifelt an seinem Tablet-Publikum: Sind Sie denn echt? Und sind Sie überhaupt noch da? (An dem Punkt darf zurückgechattet werden).

Wo endet der Mensch, und wo beginnt die Technik? Und wo wäre die Grenze idealerweise? Ähnlich wie in „Uncanny Valley“ von Rimini Protokoll, das 2018 mit einem Avatar des Schriftstellers Thomas Melle von den Münchner Kammerspielen aus auf Tour ging, bleibt diese Frage auch bei „Die Maschine in mir“ beweglich. Der Abend trägt zwar un­verkennbar die Botschaft: Wir wollen in echt spielen! Und doch herzt Maertens am Ende einen Zuschauer beziehungsweise das Tablet, auf dem dessen Konterfei zu sehen ist, in einer normalerweise unmöglichen, schmerz­lichen Verliebtheit.

So weit kommt es in „Am Ball. Wider erbliche Schwachsinnigkeit“ nicht. Die Inszenierung von Evy Schubert ist, bevor es eine reale Saalpremiere im Schauspielhaus Wien geben wird, erstinstanzlich als Film konzipiert, der auf Vimeo läuft. Das heißt keine Kopräsenz mit dem Publikum, sondern Konserve. Das macht die Arbeit zwar weniger thrilling, mindert sie in den Ideen und ihrer Wirkung aber keineswegs. Die Splatter-Erzählung der vom Theater gerade entdeckten und künftig als Hausautorin zu Kay Voges’ Volkstheater gehörenden österreichischen Schriftstellerin Lydia Haider (Ko-Autorinnenschaft Esther Straganz) trägt ­ohnehin eine Filmdramaturgie in sich. Wie in einer nicht enden wollenden langen Einstellung zieht eine Frau als Gast durch mehrere Räume einer Ballveranstaltung und beobachtet das rätselhafte, brutale Sterben der Festgäste aus nächster Nähe.

Schauplatz ist der sogenannte Akademikerball in Wien, der alljährlich von der rechten Elite des Landes in der Hofburg veranstaltet wird. Es geht von der Feststiege in die Galerie, in den Wintergarten, bis zu den Toiletten und in den Rauch-Keller. In den konspirativen Beschreibungen der Erzählerin zerfallen Gesichter wie im Säurebad, Blut schwallt aus den Körpern und tränkt Boden und Schuhwerk. Schubert gibt dieser Verzombifizierung ein klares ästhetisches Konzept, das den Horror nicht nachbildet, sondern skulptural zitiert, etwa mittels amputierter Schaufensterpuppen oder – was den Männlichkeitswahn der Burschenschafter anbelangt – durch ein ebenfalls amputiertes und abgestelltes Gemächt. Den Rest erledigt der abenteuerliche Text.

Clara Liepsch als Alias der Kabarettistin Lisa Eckhart, in einem schwarzen Krähenfederncape steckend, kostet ihn in langen Kameraeinstellungen bis zur Ekelgrenze aus. Das Wort „Geschichte“ wölbt sich da wie ein langer unverdauter Brocken aus ihrem Mund und endet kurz vor dem Brechreiz mit aus­gestreckter Zunge: „Geschichtäääh“. Die Sprechperformance ist wahrlich beachtlich und funktioniert als Film ausgezeichnet. Gedreht wurde nicht nur im künftigen Bühnenbild, sondern auch im Stadtraum, um Versatzstücke dieses Auslöschungstraums neu zu kontextualisieren, etwa ein Stück Fleisch als Sinnbild des Getöteten. Die prophetische Erzählerin kuschelt mit dem Steak, ein andermal zieht sie es wie Sisyphos auf der Straße hinter sich her, als wäre es der ewige Klotz am Bein der Geschichte. Man möchte den Theaterabend sofort im vollen Live-Ornat sehen. Am Ball bleiben kann man vorerst mit der zur Produktion gehörenden Website ballaballa.solutions. //

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