Auf der Suche nach der tragischen Matrix der Gegenwart
Griechische Tragödien beziehen ihre Themen aus bereits vorhandenen mythologischen Geschichten. Aischylos, Sophokles und Euripides haben die von ihnen inszenierten Mythen nicht erfunden, sondern dramaturgisch adaptiert, um Fakten, Probleme, Fragen und Krisen der Polis Athen im Lauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. widerzuspiegeln. Die Tragödie regte mit Hilfe der mythologischen Erzählung das Publikum an, über die philosophischen und moralischen Gründe der Krise ihres Zeitgeschehens nachzudenken, konsequent zu handeln und politische Entscheidungen zu treffen.1 Damit dieser Prozess stattfindet, bricht die griechische Tragödie stets mit der Gegenwart, oder besser gesagt: Diejenigen, die an dem tragischen Spektakel teilnehmen, werden in eine andere Welt versetzt, die Welt der mythologischen Erzählung, die in Zeit und Raum sehr weit aus dem Alltag entfernt ist. Doch gerade in dieser Welt findet der Betrachter Anlass, über seinen eigenen gegenwärtigen Zustand nachzudenken und sich die Folgen falscher Handlungen vorzustellen. Das ästhetische Erlebnis der Tragödie ist also eine Art Aussetzung von der Realität, eine Unterbrechung des Tagesrhythmus, aber eine notwendige, um bewusster in den Alltag zurückkehren zu können. Daher ist die griechische Tragödie eine Tragödie der »Zäsur«:2 Durch das Sprechen, aber auch durch alle anderen Elemente der Aufführung, Musik, Klänge,...