Zwischen Mythos, Klimakrise und Pandemie
Zur Inszenierung von Alexander Eisenachs Anthropos, Tyrann (Ödipus)
von Stefano Apostolo und Sotera Fornaro
Erschienen in: Recherchen 165: #CoronaTheater – Der Wandel der performativen Künste in der Pandemie (08/2022)
Assoziationen: Dossier: Corona Dossier: Klimawandel Alexander Eisenach
Auf der Suche nach der tragischen Matrix der Gegenwart
Griechische Tragödien beziehen ihre Themen aus bereits vorhandenen mythologischen Geschichten. Aischylos, Sophokles und Euripides haben die von ihnen inszenierten Mythen nicht erfunden, sondern dramaturgisch adaptiert, um Fakten, Probleme, Fragen und Krisen der Polis Athen im Lauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. widerzuspiegeln. Die Tragödie regte mit Hilfe der mythologischen Erzählung das Publikum an, über die philosophischen und moralischen Gründe der Krise ihres Zeitgeschehens nachzudenken, konsequent zu handeln und politische Entscheidungen zu treffen.1 Damit dieser Prozess stattfindet, bricht die griechische Tragödie stets mit der Gegenwart, oder besser gesagt: Diejenigen, die an dem tragischen Spektakel teilnehmen, werden in eine andere Welt versetzt, die Welt der mythologischen Erzählung, die in Zeit und Raum sehr weit aus dem Alltag entfernt ist. Doch gerade in dieser Welt findet der Betrachter Anlass, über seinen eigenen gegenwärtigen Zustand nachzudenken und sich die Folgen falscher Handlungen vorzustellen. Das ästhetische Erlebnis der Tragödie ist also eine Art Aussetzung von der Realität, eine Unterbrechung des Tagesrhythmus, aber eine notwendige, um bewusster in den Alltag zurückkehren zu können. Daher ist die griechische Tragödie eine Tragödie der »Zäsur«:2 Durch das Sprechen, aber auch durch alle anderen Elemente der Aufführung, Musik, Klänge, Düfte, Kostüme usw., schneidet die Tragödie in die Gegenwart ein und reflektiert damit epochale Wendepunkte und ihre politische Bedeutung. Im Laufe der Jahrhunderte hat die griechische Tragödie diese Fähigkeit und das Bewirken von politischem Handeln nicht verloren.3 Dies ist auch während der Covid-19-Pandemie der Fall, mit einigen spezifischen Herausforderungen.
Die gezwungene Unterbrechung der sozialen Kontakte, das plötzliche Aufhören der vielfältigen Beziehungen, in denen wir leben, hat auch einen Rückzug in sich selbst bedeutet, das eigene Ich wurde zum Refugium und Wirklichkeitsprinzip, wie ein Anker beim Eintauchen in eine bloß virtuelle Welt. Die Krise, die von der Pandemie verursacht wurde, hat auch seitens der performativen und theatralen Kunst eine weitere Fokussierung auf das Individuum und sein Inneres impliziert. Eine Folge in der Dramaturgie war die Bevorzugung von individuumszentrierten Themen, was auch eine Rückkehr zum dramatischen Traditionstheater und seinen Archetypen bedeutet. Sophokles ist unter den überlieferten griechischen Tragikern der Autor, der mehr als andere dramaturgisch das Individuum erforscht, seine inneren Brüche bis zum Wahnsinn (Ajax und Elektra), seine Ausgrenzung aus der Gemeinschaft (Philoktetes und Ödipus), seine einsame Revolte (Antigone) darstellt.
Vor allem zwei Tragödien von Sophokles erleben im Pandemie-Theater eine wahre Konjunktur. Auf der einen Seite Antigone, auf der anderen der König Ödipus: Den thematischen Kern bildet in beiden Tragödien die Verantwortung der Regierenden und ihre Möglichkeit, eine tiefe Krise, einen Ausnahmezustand zu bewältigen. In beiden Fällen entwickelt sich der König, der sich zunächst als guter König präsentiert, in Richtung Tyrannei. Um die Einheit der Polis zu bewahren, was in einem Moment der Angst und Sorge unerlässlich ist, weigert sich der König, auf politische Ratschläge zur Mäßigung zu hören: Er will beweisen, die Stadt zusammenhalten und die Krise überwinden zu können. In beiden Fällen scheitert er, verliert an Macht und wird letztendlich komplett vernichtet. Es gibt deutliche Ähnlichkeiten mit dem, was wir seit zwei Jahren erleben, also mit dem Risiko innerer Spaltungen in der Gesellschaft angesichts der Pandemiegefahr und der Verbreitung von Regierungsmethoden, die an den Autoritarismus grenzen, selbst in demokratischen Nationen. Diese Tragödien loten die Grenzen der individuellen Freiheit angesichts einer kollektiven Krise aus und befassen sich mit der Rolle und Haltung der Macht in einer solchen Situation. Nicht zuletzt werfen sie die Frage auf, was die in der Vergangenheit begangenen Fehler, die nicht mehr korrigiert werden können, in der Gegenwart bedeuten.
König Ödipus ist das einzige Theaterstück aus der Antike, das eine verheerende Epidemie zu inszenieren wagt bzw. diese in der Vorstellung der Zuschauer*innen erweckt. Im Vergleich zu Antigone, deren Geschichte ganz im menschlichen Handeln eingeschrieben ist, stellt König Ödipus das Problem einer (Gesundheits-)Krise dar, die anscheinend von äußeren Ursachen oder von einer außermenschlichen Kraft herrührt, von Göttern oder der Natur. Die Bürger von Theben wollen die Ursache der Krankheit wissen, die sie und ihre Welt zerstört, und wenden sich deshalb an ihren König. Die Ängste, die die Thebaner aufwühlen, ähneln denen, die sich seit Monaten in den sozialen Medien manifestieren. Die Analogie zur Gegenwart ist nur zu klar: Wer ist für die Epidemie verantwortlich? War es ein Naturphänomen oder ein Laborfehler? Gibt es eine politische Verschwörung am Ursprung? Welches Vertrauen sollte man den Orakeln der Wissenschaft entgegenbringen?
Ödipus ist der gute König, von dem die Bürger bei der Katastrophe Hilfe erbitten: Ein orakelhaftes Sprichwort sagt voraus, dass die Stadt frei sein wird, wenn derjenige vertrieben wird, der sie verseucht hat. Ödipus, der die Stadt bereits früher befreit hat, indem er das Rätsel der Sphinx gelöst hat, muss sich nun mit der Pest (loimos) befassen und entdeckt, dass er selbst die Pest ist, die Krankheit (miasma), die die Stadt verseucht.4 Ödipus will nicht auf die Warnungen von Teiresias hören. Seine hartnäckige Weigerung, die Wahrheit zu sehen, führt dazu, dass er überall Verschwörungen sieht. Er kann daher als Allegorie einer neuen Macht gelten, da er alle Verbindungen zur Vergangenheit und zur alten Weisheit (zum Orakel) abbrechen will und versucht, eine neue Ära einzuläuten, in der alle Aspekte der Polis unter Kontrolle sind. Aber die Vergangenheit schlägt zurück, sie zeigt, wie prekär das Gleichgewicht ist, auf dem eine Macht ohne Geschichte und ohne Erinnerung ruht, und schafft es, diese zu destabilisieren und zu zerstören.
Vergebens wird Iokaste, die die Staatsräson und Heuchelei der Macht ausdrückt, Ödipus auffordern, von seiner Suche abzusehen: Nicht nur darf er als Individuum nicht zerstört werden, sondern er darf auch die Macht nicht verlieren, die Wahrheit nicht kennen und vor allem sie nicht verbreiten, damit die Masse noch hofft, dass sich alles ändern kann. Aber auch die Masse, im König Ödipus wie heute, braucht Sündenböcke, um jegliches Schuldgefühl loszuwerden. Es ist einfacher, an eine Verschwörung zu glauben, als unseren Lebensstil und unsere Entscheidungen in Frage zu stellen. Es ist einfacher, den Regierungsmitgliedern die Unfähigkeit zuzuschieben, als die Fehler unseres Verhaltens einzugestehen. Es ist einfacher, aber auch nutzlos. Die Marginalisierung und Vertreibung eines einzelnen Mannes, selbst wenn es der König ist, dient nicht der Rettung der ganzen Polis. Die Pest verschwindet aus der Geschichte des Königs Ödipus, aber die Stadt wird nicht geheilt, weil sie mit einem Bürgerkrieg und weiterem Unheil konfrontiert wird.
Auch in der Antigone nützt es der Stadt nichts, dass Kreon vernichtet wird. Kreon will der Stadt eine neue, fortgeschrittene Macht aufzwingen, die geschriebene Gesetze hat und mit der Vergangenheit bricht. Aber die Vergangenheit (d. h. Tradition und Brauchtum, die ungeschriebenen Gesetze von Antigone) taucht wieder auf und vermag, diese Macht zu zerstören. Antigone, die ihren Bruder trotz des Verbots des Königs begräbt, repräsentiert die Vergangenheit, das ausgewogenere Verhältnis zu den archaischen, naiven Elementen, die selbst in den fortschrittlichsten Gesellschaften geschützt werden müssen. Antigone stellt auch eine Beziehung zur Natur dar, die der technologische Mensch, der Anthropos, Tyrann der Natur, verloren hat. Aber auch Antigone wird zerstört und ihre Revolte endet in einer Katastrophe. Gibt es deshalb keine Alternative?
Ödipus ist der Mensch, der seine Herkunft nicht kennt, den eigenen Vater umgebracht und mit der Mutter Kinder gezeugt hat; analog dazu hat der Mensch des postindustriellen Zeitalters, von den eigenen technischen Fähigkeiten überzeugt, die Erde geplündert und plündert sie immer noch, und erst jetzt erkennt er seine Verantwortung, wenn es zu spät ist. Nach dieser Deutung ist Ödipus unwiderruflich schuldig. Hat er, also der Mensch, keine Möglichkeit zur Erlösung? Als Ödipus die Wahrheit erkennt, sticht er sich die Augen aus, was zur Voraussetzung für ein neues Leben wird: Dadurch erlebt Ödipus eine Katharsis, die ihn nach seinem Tod zum Helden werden lässt (wie es im Ödipus auf Kolonos geschieht). Die Blendung des Ödipus wird daher zur Allegorie des menschlichen Bewusstseins und zur Prämisse für die Suche nach einer Regeneration, die eine Änderung der Lebensführung verlangt. Wenn Ödipus/Anthropos selbst verzichtet, auf seine Macht und darauf, als Tyrann über die Natur und die Welt zu verfügen, kann er zu seinen Ursprüngen zurückkehren.5
Die Geschichte der Erde entfaltet sich in Zyklen von Verfall und Wiedergeburt, und die menschliche Spezies ist nur eine von vielen, die zum Aussterben bestimmt sind. Die in Zyklen verlaufende Vorstellung von Geschichte deckt sich mit den Schlussfolgerungen einiger Wissenschaftler*innen zu geologischen Epochen, die das zyklische Artenaussterben für unvermeidbar halten; und es deckt sich auch mit der Philosophie der tragischen Moderne von Friedrich Hölderlin, dessen Hyperion Alexander Eisenach nicht zufällig mit Sophokles’ König Ödipus kontaminiert.6 Die Tragödie des Ödipus endet wie Hölderlins Hyperion und Empedokles in der Auflösung des Ichs, um sich mit der ganzen Natur (mit dem All) wieder zu vereinen. Ödipus, der als Neugeborener in einem Wald ausgesetzt wurde, um dort zu sterben, und der dennoch gerettet und als alter Mann von allen verbannt wurde, wird von der Erde verschlungen und kehrt zu seinen Ursprüngen zurück. Die Orakel der Wissenschaft sind klar: Die Tragödie des Anthropozäns, in der die Covid-19-Pandemie bloß ein Akt ist, wird in mehr oder weniger ferner Zukunft vollbracht sein.
360°-Ödipus, oder: Wie das Publikum eine neue Sichtweise bekam7
Unter den verschiedenen aktuellen Inszenierungen, die auf Sophokles’ Werk anspielen, ist Alexander Eisenachs Anthropos, Tyrann (Ödipus) sicherlich eine der originellsten und der komplexesten. In einer Phase des harten Lockdowns, als die Theater zugesperrt waren und die Theaterwelt bemüht war, sich einen Ersatzraum zu erkämpfen, auf Balkonen, Terrassen, Dächern oder im Internet auf ›kanonischeren‹ Plattformen wie YouTube und auf unwahrscheinlichen Wegen wie TikTok, geschah in Berlin ein kleines Wunder. Am 19. Februar 2021 fand an der Volksbühne die Uraufführung eines Theaterexperiments statt, das das Publikum von zu Hause aus als Streaming-Event anschauen konnte. Mit Anthropos, Tyrann (Ödipus) brachte der Berliner Dramaturg Alexander Eisenach ein mutiges Stück auf die Bühne, eine klare Denunziation des rücksichtslosen menschlichen Handelns gegenüber der Umwelt.
Sich an Sophokles anlehnend, aktualisiert Eisenach den Mythos von Ödipus angesichts der Problematiken des Anthropozäns, der jetzigen Epoche, in der das Agieren des Menschen gerade die Beschaffenheit der Erde zutiefst modifiziert und verunstaltet. Um das zu tun, wie er in seiner theoretischen Schrift Die Neubestimmung der Bühne behauptet, geht er von einer sehr klaren Annahme aus: »Am Ende unserer kurzen Epoche auf diesem Planeten, am Ende des Anthropozäns, das den Menschen zur größten gestalterischen Macht auf diesem Planeten werden sah, müssen wir erkennen, dass wir uns in der Größe unserer Herrschaft getäuscht haben«.8Laut Eisenach ist es unmöglich, die Erde weiter zu verunstalten, jeden Aspekt der Realität weiter kommerziell verwerten zu wollen, indem man materialistische und ausbeuterische Ansätze favorisiert. Das Verhältnis Mensch-Natur soll hingegen dank eines synergetischen Spannungsfelds zwischen Wissenschaft und Kunst neu entdeckt und gepflegt werden, mit einer Art humanistischem Zugang, in dem u. a. auch John Ruskins Gedanken widerzuhallen scheinen: »Above all, a nation cannot last as a money-making mob: it cannot with impunity, – it cannot with existence, – go on despising literature, despising science, despising art, despising nature, despising compassion, and concentrating its soul on Pence«.9 Nach 150 Jahren – diese Worte sind einer Rede entnommen, die zum ersten Mal 1864 gehalten und 1865 im Band Sesame and Lilies gedruckt wurde – hat sich nicht viel verändert und die Lage scheint nur noch schlimmer geworden zu sein.
In diesem Kontext der Krise verdeutlicht Ödipus mit seiner Unfähigkeit, eine unbequeme Wahrheit zu akzeptieren, das Dilemma, vor dem der Mensch des dritten Jahrtausends steht: »Verleugnet Ödipus zunächst die Wahrheit, als sie ihm vom blinden Seher Teiresias offenbart wird, so muss er sie schließlich doch anerkennen und sich selbst die Augen ausstechen, um zu sehen, was er bisher nicht sehen konnte: Die Fehltritte der Vergangenheit«.10 Laut Frank M. Raddatz, der mit der Meeresbiologin Antje Boetius das künstlerisch-wissenschaftliche Projekt Theater des Anthropozän11 gegründet hat, ist gerade Ödipus die ›tragische Matrix‹ des Anthropozäns. Vor einer bevorstehenden Katastrophe befindet sich auch der moderne Mensch – gerade wie der mythische König von Theben – an einer Gabelung und muss sich entscheiden: Entweder will er bewusst weiter nicht sehen und daher ignoriert er weiterhin die Gefahr, oder – was die fürchterlichste Option darstellt – er öffnet die Augen, sieht dem Horror ins Gesicht, dessen Urheber er auch in vielerlei Hinsicht selbst ist, und agiert sich dessen bewusst, um das begangene Übel wiedergutzumachen.12
Eisenachs Stück entstand, um das Publikum über die Ernsthaftigkeit des Klimawandels zu sensibilisieren, und zeigt sehr klar, wie das Theater eine Brücke zwischen Wissenschaftsgemeinde und Gesellschaft schlagen kann und soll, vor allem indem es Umweltinstanzen zu Wort kommen lässt: »Es ist von essentieller Wichtigkeit, dass die Kunst um ihre gesellschaftliche Rolle streitet und ihren Einfluss auf Politik und Lebensentwürfe geltend macht, dass sie gesellschaftliche Sehnsüchte und Ansprüche formuliert«.13 Allerdings gewinnt Eisenachs Werk in einer Periode, die von einer globalen Pandemie charakterisiert ist, eine weitere Bedeutung. Von der Umweltkrise bis zu Covid-19 – das teilweise dieser selben Krise und dem Lebensstil des modernen Menschen geschuldet ist – ist es nur ein Katzensprung, und so wurde Anthropos, Tyrann (Ödipus) gezwungenermaßen auch mit Auflagen konfrontiert, die die Produktionsphase und die technische Umsetzung beeinflusst haben.14 Um das Problem der physischen Abwesenheit der Zuschauer*innen während des Lockdowns zu umgehen, übertrug Eisenach die Uraufführung anhand einer 360°-Kamera.15 Mit diesem Instrument wurde den Zuschauenden anhand der Tastenkombination WASD bzw. mit der Maus ermöglicht, den Blick in alle Richtungen zu bewegen, sich umzusehen, den Schnürboden mit den Scheinwerfern zu inspizieren, den Schauspieler*innen zu folgen, die unterschiedlichen Teile der Szenografie wie die Ruinen eines Tempels oder die zum Symbol des Anthropozäns avancierte Ölförderpumpe näher zu betrachten – kurzum: mit dieser Kamera (quasi wie mit einem dritten Auge) die Bühne in allen ihren Einzelheiten neu zu entdecken. Wie Ödipus, erblindet, mit neuer Sicht sehen kann, so wird auch dem Publikum hier ein weiteres Auge, ein weiterer Sichtpunkt gegeben.
Diese Strategie zielt darauf ab, die Zuschauenden als Akteur*innen dieser Tragödie involviert fühlen zu lassen, und im übertragenen Sinne auch der Umwelttragödie, die der Menschheit droht und mit der sie täglich konfrontiert ist. Dieses Verfahren, das sich an der Schnittstelle zwischen Theater und Film befindet, impliziert Neues sowohl für die Spielenden als auch für die Zusehenden: Die 360°-Kamera kann potentiell alles sehen – was die Schauspieler*innen beim Spielen unweigerlich beeinflusst – und zugleich »bindet [sie] den Blick der Zusehenden ins Spiel ein, lenkt ihn – oder lässt ihm die totale Freiheit«.16 Während des Livestreams der Premiere konnten sich die Zuschauenden anhand des Kameraobjektivs frei bewegen und zugleich, quasi als würden sie mit den Sitznachbarn im Theatersaal reden, in einem eigens eingerichteten Chat Fragen stellen, die von Frank M. Raddatz beantwortet wurden. Bereits im Prolog, der teils eine desillusionierte Sicht der Realität, teils eine oft im Futur II formulierte Prophezeiung ist, werden die Zuschauenden direkt angesprochen: »Die Tragödie, diese Tragödie wird sich nicht von außen betrachtet haben lassen«.17 Die Beteiligung wird einige Minuten später noch direkter: Nachdem die Schauspieler*innen des Chors während des Prologs still und unbeweglich vor den Säulen der Tempelruine standen, kommen sie nun allmählich zum Leben, sie rücken der Kamera näher und wenden sich flehend an den*die Zuschauer*in, der*die zugleich Ödipus verkörpert und wie der Chor der Pest selbst beiwohnt: Er*Sie solle sie endlich erlösen und von der Seuche befreien, d. h. von der aktuellen, globalen Klimakatastrophe – und natürlich auch von der Covid-19-Pandemie. Von den mythischen Problemen der Tragödie wird auf diese Weise eine Brücke zu den aktuellen Problemen geschlagen, für die die Schauspieler*innen hoffen, dass sich der König/Zuschauende kräftig einsetzen kann, um eine Lösung zu finden.
Im Mai 2021, im Rahmen des Webinars Edipo 360o18, sprach Eisenach über die Verwendung dieser Strategie. Für ihn, der mit Entschlossenheit die Linie des Theaters des Anthropozän vertritt, sollen die Zuschauenden aktive und teilnahmewillige Ansprechpartner*innen sein: Sie dürfen nicht außerhalb der dargestellten Handlung bleiben, sondern sie sollen involviert werden, gerade weil ihr Denken und ihr Agieren auf das Schicksal der Erde fundamentale Auswirkungen haben. Das Streaming-Theater soll daher effizient diesem notwendigen, wesentlichen Ziel nachgehen, ohne eine vierte Wand hinzuzufügen, die im digitalen Theater de facto dicker wirken kann als in Wirklichkeit. Die Verwendung einer 360°-Kamera zielt gerade darauf ab, diese vierte Wand abzureißen, zumal sich die Zuschauenden nicht mehr außerhalb befinden, sondern mitten auf die Bühne und somit mitten in das theatrale Handeln katapultiert werden. Und das geschieht auch dank der Tatsache, dass die Schauspieler*innen die Zuschauenden im eigenen Wohnzimmer ansprechen, was die Rezeptionsmöglichkeiten und die Interaktion zwischen den beiden Parteien auf besondere Weise verstärkt.
Die 360°-Kamera führt außerdem »zur immersiven Erfahrung in Raum und Zeit« und ermöglicht »ein intensives, körperliches Erlebnis«,19 das die Materialität des Theaters noch mehr amplifiziert. Das wird an den vielfältigen Collagen und visuellen Überlagerungen zwischen Szenenkörpern und projizierten Bildern besonders ersichtlich, die Eisenach im Stück wiederholt einsetzt, weil sie zur Korrelation mehrerer semantischer Ebenen führen und Assoziationsprozesse im Kopf der Zuschauenden auslösen. Während Teiresias die Eingeweide eines toten Tiers seziert, sehen die Zuschauenden, indem sie die Kamera über den Kopf des blinden Sehers richten, Bilder von toten Meeresvögeln, deren Bäuche voller Plastik sind: Teiresias zeigt daher eine Realität, die nicht mehr ignoriert und nicht mehr versteckt werden darf – ein klarer Berührungspunkt zwischen Kunst und Wissenschaft, eine Synergie, die eine ergiebige Ideenzirkulation ermöglicht. Das wird auch im Dialog zwischen Ödipus und Iokaste ersichtlich – mehr oder minder die einzige Szene, die fast komplett originalgetreu dem König Ödipus entnommen wurde: Während die Mutter den Sohn anfleht, dem Volk die Wahrheit nicht zu verraten und somit die Macht zu erhalten, indem er und die ganze Bevölkerung unwissend bleiben, werden am anderen Ende der Bühne Szenen von Eisverschmelzung projiziert, d. h. genau das, was das Volk nicht erfahren darf. Diese Passage, in der die Gegenüberstellung von mythischer Dimension und Realität besonders deutlich wird, erweist sich auch als eine mehrfache Collage: Während beide Schauspieler*innen mit Masken (die zugleich auf einer Leinwand gigantisch gezeigt werden) eine groteske Pantomime inszenieren, wird der im Vorfeld aufgenommene Dialog gespielt.
Das Eis, emblematisches Naturelement für unsere große Klimakrise, kommt in Eisenachs Stück mehrmals vor, insbesondere wenn Bilder einer Bohrung der Polkappe gezeigt werden, die laut dem Regisseur mit dem Untersuchungsprozess der Geschichte, des Gewissens und der Psyche in Verbindung gebracht werden kann. Die Eisbohrung repräsentiert daher den Versuch, die Realität in all ihren Formen und vor allem über ihre horizontale Dimension hinaus auszuloten. Zugleich verweist das Bohren aber auch auf das Erblinden Ödipus’, der sich selbst die Augen aussticht. Von ihrem außergewöhnlichen Sichtpunkt aus – außerhalb und zugleich innerhalb der Szene dank der vom digitalen Theater angebotenen Möglichkeiten – können die Zuschauenden auf einer Leinwand die Maske des blinden Ödipus sehen, die fast wie in einer Todesfeier durch den Saal transportiert wird. Somit gewinnt das trostlos menschenleere Parterre der Volksbühne eine weitere Bedeutung und wird zum Symbol aller Theater, die zur Zeit der Pandemie gesperrt bleiben mussten.
Wenn Eisenachs Werk einerseits auf tiefgründige Themen und eine sehr plastische Inszenierung zählen kann, so zeigt die gewählte Aufführungsmethode andererseits auch gewisse kritische Punkte, die bei einer gesamten Beobachtung dieses Experiments unseres Erachtens nicht übersehen werden dürfen.
- Trotz des innovativen Charakters des digitalen 360°-Theaters ist die Bewegungsfreiheit der Zuschauenden eher symbolischer Natur und bleibt ziemlich begrenzt: Man kann sich zwar umschauen, ein- und auszoomen, aber man darf den Standpunkt der Kamera nicht verlassen, was eine gewisse visuelle Starrheit mit sich bringt. Beim Livestreaming ist es außerdem absolut wichtig, über eine gute Internetverbindung zu verfügen, damit es zu keinen unangenehmen Störungen kommt.
- Der Strom, der für die Theatermaschinen und die elektronischen Geräte zum Anschauen notwendig ist, ist nicht voraussetzungslos bzw. gratis da und kann nicht produziert werden, ohne dass dabei auch Umweltverschmutzung verursacht wird.20 Zumindest teilweise konfligiert das mit den Grundideen dieser ambitionierten Arbeit.
- Berücksichtigt man die Kosten und den Produktionsaufwand, die mit der Realisierung dieses Theatererlebnisses im Zusammenhang stehen, so wäre die Frage durchaus berechtigt, ob auch kleinere, unabhängige und deswegen finanziell weniger starke Bühnen imstande sein werden zu überleben und Ähnliches zu bieten, sollte es wieder zu längeren Phasen des Lockdowns und somit zur Notwendigkeit weiterer Streaming-Vorstellungen kommen.
- Im bereits erwähnten Mai-Webinar meinte Eisenach, dass ein digitales Stück sich sehr gut in den Lebensrhythmus des modernen Menschen einbetten lässt, der somit beim Zuschauen auch die eigenen Mails checken, einen Blick aufs Handy werfen oder schnell zur Wohnungstür gehen kann. Dies ist natürlich nicht negativ oder positiv gemeint, sondern es handelt sich einfach um die Feststellung, dass das digitale Theater auch unterschiedliche Rezeptionsmodi voraussetzen soll. Wenn aber das Streaming-Theater perfekt zum modernen Leben passt, so scheint es doch mit dem sogenannten traditionellen Theater in Konflikt zu geraten, das vom Publikum absolute Konzentration erfordert sowie z. B. das Ausschalten von Handys verlangt. Das Theater des Anthropozän, an das sich Eisenachs Stück anschließt, charakterisiert sich durch engagierte Werke, die zugleich auch anspruchsvoll in der Rezeption sind – Eisenachs Werk setzt z. B. gute Kenntnisse der griechischen Mythologie, der Tragödien Sophokles’, der Ideen von Donna Haraway und der Fachsprache der Meeresbiologie voraus –, so dass der hier angebotene Zuschaumodus in mancher Hinsicht mit den postulierten Prinzipien nicht ganz übereinstimmt.
- Die Pandemie hat zu einem Florieren von digitalen Produktionen geführt, die nur zu oft als Gegenpol zum ›konventionellen‹ Theater betrachtet werden. Obwohl sie oft eine wertvolle Ergänzung für theateraffine Menschen sind, so dass es sich doch lohnen würde, von einem ergiebigen Nebeneinander zu reden, ist es jedoch ziemlich unwahrscheinlich, dass sich das digitale Theater je durchsetzen und die ›traditionelle‹ Version ersetzen wird. Dabei handelt es sich um eine in Pandemie-Zeiten zwar verdienstvolle, aber zugleich einsame und aseptische Erfahrung, in der sowohl für die Zuschauer*innen als auch für die Schauspieler*innen sehr viele Emotionen fehlen: die Vorbereitungen vor dem Theater, der Weg dahin durch die Stadt, das Warten, die Spannung, der sensorielle Aspekt, der Ausgang, die Begegnung mit anderen Zuschauer*innen – und warum nicht: auch mit den Schauspieler*innen selbst – und die lebhafte, physische Diskussion über das, was gerade gesehen wurde.21 Das sind alles Lücken, die im digitalen Theater nolens volens entstehen, die dessen Form geschuldet sind, und die einem Dramaturgen wie Eisenach zweifellos nur zu bewusst sind.
Trotz dieser kritischen Punkte hat Eisenachs überzeugende Arbeit das Verdienst, nicht nur eine fundamentale und universelle Thematik auf die Bühne gebracht zu haben, indem eine innovative sowie reflektierte ästhetische Perspektive verwendet wurde, sondern auch dank dieser neuen Perspektive eine ortsunabhängige, inklusive und barrierefreie Vorstellung realisiert zu haben, die von einem beliebigen Standort aus angeschaut werden kann und somit das Lokale mit dem Internationalen verbindet.
Im Epilog von Anthropos, Tyrann (Ödipus), der dem Werk eine kreisförmige Struktur verleiht, rückt der Mensch (der*die Zuschauer*-in) wieder ins Zentrum, die Schauspieler*innen des Chors umzingeln die Kamera und kommen immer näher, indem sie die Trostlosigkeit bloßstellen, die die Menschheit erwartet, wenn diese ihren Lebensstil nicht radikal ändern wird, und indem sie ihren Aufruf bzw. ihre Mahnung wiederholen: Das Anthropozän sei nicht mehr einfach das Zeitalter der Herrschaft von Anthropos über Gaia, sondern auch das Zeitalter, in dem Anthropos im Rahmen eines Trauerprozesses um das unwiederbringlich Verlorengegangene seine Verantwortungen einsehe, sie erkenne und mit weisen Entscheidungen für das allgemeine Wohl konsequent handle.22
1 Vgl. Billings, Joshua: The Philosophical Stage. Drama and Dialectic in Classical Athens, Princeton/Oxford 2021.
2 Vgl. Dreyer, Matthias: Theater der Zäsur. Antike Tragödie im Theater seit den 1960er Jahren, Paderborn 2014.
3 Vgl. Felber, Silke/Hippesroither, Wera (Hg.): Spuren des Tragischen im Theater der Gegenwart, Tübingen 2020; Fischer-Lichte, Erika: Dionysus Resurrected. Performances of Euripides’ The Bacchae in a Globalizing World, Malden/Oxford 2014; Lehmann, Hans-Thies: Tragödie und dramatisches Theater, Berlin 2013; Wallace, Jennifer: Tragedy since 9/11, London 2019.
4 Vgl. Ugolini, Gherardo: »Edipo e la peste – Edipo è la peste«, in: Visioni del tragico 2 (2021), S. 13 – 20.
5 Laut Bruno Latour ist das Anthropozän »ein wahrhaft ödipaler Mythos«. Dieses Zitat (vgl. Latour, Bruno: Kampf um Gaia, Berlin 2017) kommt auch in Frank M. Raddatz’ Artikel vor, dem wir die Definition der ›tragischen Matrix‹ entnommen haben: »Bühne und Anthropozän. Dramatische Poesie der Zukunft – eine theaterästhetische Spekulation«, Lettre international 122 (Herbst 2018), S. 66 – 73.
6 Vgl. Fornaro, Sotera: »Edipo (a Colono), Hölderlin e Anthropos, Tyrann di Alexander Eisenach«, in: Visioni del tragico 2 (2021), S. 21 – 40.
7 Dieses Kapitel ist z. T. eine Erweiterung von Apostolo, Stefano: »Risorse e limiti del teatro digitale in Anthropos, Tyrann (Ödipus) di Alexander Eisenach«, in Visioni del tragico 2 (2021), S. 41 – 48.
8 Alexander Eisenach: »Die Neubestimmung der Bühne. Über die Kunst als notwendiger Möglichkeitsraum des Politischen«. Dieser Text, nur in Ansätzen im Programmheft der Uraufführung von Anthropos, Tyrann (Ödipus) enthalten (»Flöhe im Pelz«, https://issuu.com/volksbuhneberlin/docs/oedipus_programmheft (Abruf: 09. Januar 2022)), ist derzeit auf Deutsch unveröffentlicht. In italienischer Fassung erschien er unter dem Titel »Per una nuova funzione del teatro. Lo spazio dell’arte come spazio indispensabile per definire le possibilità della politica«, übers. von Stefano Apostolo, Sotera Fornaro, in Visioni del tragico 2 (2021), S. 127 – 139, hier S. 128.
9 Ruskin, John: Sesame and Lilies, Deborah Nord (ed.), New Haven/London 2002, S. 49. Zur Rolle des Buchs innerhalb der Gesellschaft und zu seinem Preis siehe auch Roland Reuß’ Studie, die von Ruskins Buch inspiriert wurde (Reuß, Roland: Fors. Der Preis des Buches und sein Wert, Frankfurt a. M./Basel 2013).
10 Vgl. Eisenach: »Per una nuova funzione del teatro« (= »Die Neubestimmung der Bühne«), S. 131 – 132.
11 Zum genaueren Programm des Theaters des Anthropozän siehe die Webseite dieses Projekts: https://theater-des-anthropozän.de/das-theater/ (Abruf: 09. Januar 2022).
12 Vgl. Raddatz, Frank M.: Das Drama des Anthropozäns, Berlin 2021; Raddatz: »Bühne und Anthropozän«.
13 Vgl. Eisenach: »Per una nuova funzione del teatro« (= »Die Neubestimmung der Bühne«), S. 132. Diesbezüglich siehe auch Behrendt, Eva: »Von falschen Hoffnungen befreit«, in Theater heute 6 (2021), S. 12 – 13, hier S. 12.
14 Da die Schauspieler*innen noch nicht geimpft waren, wurde auf der Bühne mit Masken und Abstand geprobt. Jeden Morgen wurde getestet, zweimal die Woche mit PCR-Tests. Eine Schauspielerin war wenige Tage vor der Premiere positiv und konnte nicht weiterproben. Zur Sicherheit hat ein weiterer Schauspieler nur aus der Ferne teilgenommen und den Prolog im Freien aufgenommen, der am Anfang des Stücks gezeigt wird. Mailinformationen von Alexander Eisenach von 14. Januar 2022.
15 Genauer handelt es sich um eine Insta 360, Modell Pro 2; diese Kamera wurde in die Übertragungssoftware vMix integriert, die die Live-Übertragung via YouTube ermöglicht hat. Für diese Informationen bin ich Dirk Heinrich und Oliver Rossol sehr dankbar.
16 Laufenberg, Iris: »Die 360°-Kamera sieht alles«, in Theater heute (Wetterwechsel, Jahrbuch 2021), S. 84 – 86, hier S. 86.
17 Eisenach, Alexander: Anthropos, Tyrann (Ödipus), Beilage von Theater heute 6 (2021), S. 3.
18 Siehe: https://www.uniss.it/uniss-comunica/eventi/edipo-360deg (Abruf: 09. Januar 2022); die Aufnahme des Webinars ist hier verfügbar: https://www.facebook.com/visionideltragico/videos/478256783429239 (Abruf: 09. Januar 2022).
19 Laufenberg: »Die 360°-Kamera sieht alles«, S. 86.
20 Vgl. auch Laufenberg: »Die 360°-Kamera sieht alles«, S. 86.
21 Vgl. dazu auch Wächter, Michael: »Anfassen, hören, riechen«, in Theater heute (Wetterwechsel, Jahrbuch 2021), S. 102 – 103.
22 Vgl. Eisenach: »Per una nuova funzione del teatro« (= »Die Neubestimmung der Bühne«), S. 130: »Ein Ausweg aus dieser Situation ist nicht durch die Maßnahmen der Politik zu erwarten, die es nicht schafft sich vom Paradigma des Ökonomischen zu lösen. In dieser Situation verlangt es nach einem Bewusstseinswandel, der das Verhältnis des Menschen zum Planeten neu definiert«.