Theater der Zeit

Den Schein aufdecken, um die Wahrheit zu entschleiern

Zeitgenössische katalanische Dramatik

von Diana González

Erschienen in: Dialog 10: Neue Theaterstücke aus Katalonien (12/2010)

Assoziationen: Europa Dramatik Dossier: Spanien

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Dichtung fordert uns heraus, in fremde, märchenhafte und oft reichlich komplizierte Welten einzutauchen und sie für bare Münze zu nehmen. Je grotesker und dem äußeren Eindruck nach ausgefallener eine ästhetische Form uns entgegentritt, umso weiter, so scheint es, entfernen wir uns von der Realität. Heben wir jedoch die formalen Mittel, deren der Dichter sich bedient, der Reihe nach ans Licht, so überrascht die im Laufe und noch nach der Lektüre enthüllende Erkenntnis. Sie gibt uns unserer Welt zurück, dieser Welt, von der wir gar nicht wussten, wie wunderlich und alltagsfern sie sein kann oder wenigstens, in welch abgelegene Regionen sie sich erstreckt. Letzten Endes macht genau das ästhetische Erfahrung aus: unseren Alltag auf neue Weise, mit uneingestelltem Blick wahrzunehmen. Unserer Epoche ist im Laufe der Geschichte eine Unzahl stilistischer (gelungener und gescheiterter) Versuche vorausgegangen. Der heutige Zuschauer ist nicht mehr leicht in S taunen zu versetzen. Er hat alles gesehen und von allem gehört. Aber noch immer, nicht anders als in der Antike, sehnt er sich nach Geschichten, ist er hungrig nach Mythen und seines Alltags überdrüssig.

Die Herausgeber dieses Bandes, Katalanen und Deutsche, die in Katalonien leben und arbeiten, haben diesem Umstand Rechnung getragen und sorgfältig jeden einzelnen der Texte ausgesucht in dem Bemühen, eine abwechslungsreiche und möglichst vielgestaltige Probe zeitgenössischer katalanischer Dramatik vorzulegen. Keinesfalls war ihr Ziel, irgendeinen literarischen Kanon vorzustellen oder die sechs besten der jüngsten katalanischen Dramen auszuwählen, sondern vielmehr solche, deren Qualität unzweifelhaft ist und von denen anzunehmen ist, dass sie besonders das deutsche Publikum ansprechen. Die Herausgeber kennen die verschiedenen Richtungen des katalanischen Theaters und haben selbst auf die eine oder andere Weise damit zu tun: Toni Casares – Regisseur und künstlerischer Leiter des Theaters Sala Beckett, Mitglied im Beraterstab des Teatre Nacional de Catalunya; Thomas Sauerteig, Regisseur und Übersetzer; Christina Schmutz, ebenfalls Regisseurin und Übersetzerin; Carlota Subirós, Regisseurin und Mitglied der künstlerischen Leitung des Teatre Lliure; und Ursula Wahl, Programmchefin des Goethe-Instituts in Barcelona. Diese Ausgabe ist also eine Gelegenheit, katalanische Dramatik im deutschsprachigen Raum bekannter zu machen und umgekehrt es dem deutschsprachigen Leser zu ermöglichen, die Qualitäten katalanischer Theaterautoren kennenzulernen. Die sechs hier versammelten Theatertexte haben den Ehrgeiz, das Denken und die Imagination des Lesers für eine Wirklichkeit zu öffnen, die ihm zwar nicht fremd ist, aber Untiefen, Brechungen und Schattierungen enthält, die es aufzuhellen gilt. Unsere Gegenwart, nicht anders als vergangene Zeiten, verlangt nach einer Dichtung, die sich ihr gegenüber verantwortlich fühlt. Damit ein Text zeitgenössisch genannt werden kann, genügt es nicht, dass er kürzlich geschrieben wurde. Das ist nicht einmal unbedingt notwendig. Zeitgenossenschaft schließt viele Formen ein, von den ältesten bis zu den innovativsten, und sie alle sollten zuallererst uns angehen, sollten uns heute von „Nutzen“ sein. Jeder in dieser Ausgabe vorgestellte Text hält diesen sicheren Trumpf, weil er Themen behandelt, die unmittelbar mit uns zu tun haben: die moralischen Nachwehen der Nazi Konzentrationslager, das drohende Artensterben, das Verschwinden seltener Sprachen, Krebs (Salamandra – Salamander), Gewalt in der Familie (Temps real – Echtzeit), Kindersterblichkeit durch Unterernährung in den Entwicklungsländern (Après moi, le déluge – Nach mir die Sintflut), Rassismus und Migration (Tractat de blanques – Kontrakt der Weißen), Prostitution und soziale Ausgrenzung (Plou a Barcelona – Regen in Barcelona), die Macht der Videospiele, die Welt zu simulieren (La revolució – Die Revolution). Sie alle versuchen, einer sozialen, politischen und letzten Endes menschlichen Realität Ausdruck zu verleihen. Jeder dieser Texte enthüllt im Zuge der allmählichen Entwicklung seiner Handlung eine Wahrheit. Wenn endlich der letzte Schleier gelüftet ist, offenbart sich das Wesen jener Wunde, in die der Autor seinen Finger legt. Man könnte, die sechs Streiflichter zeitgenössischer katalanischer Dramatik vor Augen, den Vorgang des Erzählens auch als die stufenweise Demaskierung einer Illusion ansehen. „Wer die Wahrheit liebt, lügt!“ – dieses Motto lockte Autoren aus ganz Europa zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2010. Natürlich liebt jeder Autor seine ganz eigene Wahrheit, und um sie der Welt zu präsentieren, muss er sie mit jenem Schein bekleiden, die eine ästhetische Form darstellt.

In diesem Sinne siedelt die katalanische zeitgenössische Dramatik im Spannungsfeld zwischen Tradition und Aktualität, Text und Bühne. Die Experimentalbühne l’Obrador in Barcelona, Probier- und Ausbildungszentrum für Dramatiker, Schauspieler und Regisseure unter dem Dach des Theaters Sala Beckett gilt als Talentschmiede für Theaterautoren, die dramatisches Schreiben und szenische Aufführung nach Möglichkeit miteinander zu verbinden suchen. Das ist nicht immer einfach. Die ökonomische und politische Infrastruktur Kataloniens lässt künstlerischem Experiment und Risiko oft wenig Raum. Die Zahl alternativer Spielstätten geht zurück, hochwertige Theatertexte schaffen es daher häufig nicht auf die Bühne, und falls es ihnen doch gelingt, bleibt ihnen die adäquate szenische Ausführung versagt, die ihrem Anliegen entspräche. Im Falle dieser sechs Texte wurde die Möglichkeit der szenischen Verwirklichung schon beim Schreiben berücksichtigt, und alle sind auf die eine oder andere Art und Weise bereits vor Publikum gezeigt worden. Salamandra (Salamander) erblickte erstmals 2005 die Bühne im Teatre Nacional de Catalunya unter der Regie von Toni Casares (Der Autor Benet i Jornet gilt als einer der wichtigsten katalanischen Autoren, den viele junge Autoren zum Maßstab und Vorbild nehmen). Temps real (Echtzeit) wurde schließlich 2007 von der Regisseurin Magda Puyo im Rahmen der Autorenprojektreihe T6, die seit Jahren die jüngere katalanische Dramatik fördert, ebenfalls im Teatre Nacional de Catalunya zur Uraufführung gebracht. Après moi, le déluge(Nach mir die Sintflut), uraufgeführt 2007 im Teatre Lliure unter der Regie von Carlota Subirós, wurde mit dem Lletra d’Or als bester publizierter katalanischer Theatertext 2008 ausgezeichnet. Die Autorin ist außerdem Hausautorin am Theater Teatre Lliure (derzeit ein außergewöhnlicher Fall – Katalonien kann nicht viele Theater mit Hausautoren und festen Ensembles vor weisen, die einen kohärenten Spielplan und eine definierbare Ästhetik präsentieren). Tractat de Blanques (Kontrakt der Weißen) erlebte seine Uraufführung im Theater Sala Beckett unter der Regie von Magda Puyo und wurde überdies 2002 mit dem Serra d’Or prämiert. Einen überwältigenden Erfolg verbuchte Pau Mirós Plou a Barcelona (Regen in Barcelona), 2004 uraufgeführt unter der Regie von Toni Casares im Festival Sitges Teatre Internacional, ein Text, der seinen Autor auf den ersten Rang der katalanischen Dramatik katapultierte. La Revolució von Jordi Casanovas schließlich, der dreißigjährig in sechs Jahren 15 Stücke geschrieben und uraufgeführt hat, wurde unter dessen Regie im Theater La Villaroel in Barcelona 2007 uraufgeführt.

Die Welt des katalanischen Gegenwartstheaters ist klein, und sechs Uraufführungen reichen hin, um zu demonstrieren, wie sich die Namen der Theater und Regisseure wiederholen. Tatsächlich leben in Katalonien sehr viele Dramatiker (man könnte eine endlose Liste von Namen erstellen – Victoria Spunzberg, Esteve Soler, Marta Buchaca, Carles Mallol, Carles Batlle, Jordi Galceran, Sergi Belbel, Mercè Sarrias, Àngels Aymar, Anaïs Shaff, Gemma Rodríguez, Marc Rosich u. v. a.), denen weit weniger Regisseure und Spielstätten gegenüberstehen. So kommt es, dass das Karussell der Autoren, deren Texte es bis zur Inszenierung gebracht haben, viele Namen außen vor lässt. Obwohl dieses Karussell junge Dramatiker fördern will und es ihnen vergleichsweise leicht macht, einen ersten Text zur Uraufführung zu bringen, kompliziert sich die Situation für nachfolgende Texte: Erfolg bei Publikum und Kritik scheint unentbehrlich, damit die Autoren dann eine zweite Chance bekommen und ihr Talent weiter ausbauen können.

Die in dieser Ausgabe versammelten Autoren können auf einen respektablen Werdegang zurücksehen und stellen eine Musterkollektion der verschiedenen ästhetischen Tendenzen zeitgenössischer katalanischer Dramatik dar. So leicht sie sich durch einen inhaltlichen Leitfaden, eine thematische Ähnlichkeit verbinden lassen (alle Stücke knöpfen sich ein oder mehrere Problemfelder der sozialpolitischen Wirklichkeit vor), so schwierig ist aber diese Verbindung hinsichtlich ihrer Struktur. Insoweit Inhalt und Form, Ethik und Ästhetik voneinander getrennt behandelt werden können – wenigstens theoretisch und zum Zwecke der Textanalyse –, lassen sich die sechs hier vorgestellten Texte grob in zwei Gruppen einteilen. Die erste steht in jener dramatischen Tradition, nach welcher eine Handlung sich linear entwickelt. Salamandra (2005), Aprés moi, le déluge (2007), Tractat de blanques (2002), Plou a Barcelona (2004) und La revolución (2009) sind in diese Tradition einzureihen. Die zweite Gruppe, zu der Temps real (2007) gehört, bricht mit diesem Ziel eines linearen und progressiven Handlungsaufbaus, das von der ersten Gruppe verfochten wird.

Man könnte sich jedes einzelne dieser Stücke vornehmen und dabei die heutige katalanische Dramatik genauer vor Augen führen. Der erste dieser Modi, eine Handlung dramatisch darzustellen, tritt in zahlreichen Variationen auf. Plou a Barcelona ist das strukturell am einfachsten gebaute der fünf unter dieser ästhetischen Rubrik vereinten Stücke. Die Schlichtheit nimmt dem Text nichts von seiner Profundität. Pau Miró hat ihn in zehn Teile unterteilt, so als handelte es sich um die Kapitel eines Romans oder um Kurzgeschichten, die zusammengenommen eine übergeordnete Geschichte ergeben. Und ich spreche nun diese ursprünglichen narrativen Formen an und nicht die szenischen, denn sie scheinen ein gemeinsamer Zug der aktuellen katalanischen Dramatik zu sein, für den auch Mirós Text exemplarisch ist. Je nachdem, wie die Regie den Text auf der Bühne realisiert, wird der Zuschauer der Überschriften über den zehn Kapiteln gewahr werden oder nicht. Desgleichen bedienen sich Après moi, le déluge und Salamandra auf je eigene Weise narrativer Formen, die sich im Falle des letzteren Textes in gewundenen Bahnen miteinander verweben und eine sehr komplexe und fast romanhafte Struktur ergeben, ohne deshalb an szenischer Wirkung einzubüßen. Das zeitgenössische Drama vermischt Gattungen und liebäugelt mit Hybriden. Doch zurück zu Plou a Barcelona: Der Text weist trotz seiner Einteilung in zehn Kapitel oder Szenen eine Struktur auf, die den klassischen drei Akten entspricht und zudem die Regel der drei Einheiten – von Handlung, Raum und Zeit – wahrt: Eine Situation wird etabliert (zwei Figuren leben seit einiger Zeit zusammen), ein externer Faktor bricht in diese Situation ein, was eine Krise auslöst (ein Dritter interagiert mit einer der Figuren und veranlasst
sie, ihr Leben zu rekapitulieren), gefolgt von einer Auflösung, in der die Ausgangssituation sich verändert hat (die drei Figuren finden sich gemeinsam in einer völlig neuen Lage wieder). Pau Miró wählt diesen typisch klassischen Aufbau, um die Trostlosigkeit und Verwahrlosung des Viertels Raval in Barcelona aus der Innenansicht zu formulieren, indem er als Figuren eine Prostituierte, ihren Freier und ihren Lieblingsklienten auftreten lässt. Auf diese Weise betritt der Zuschauer eine Welt, die ihm prinzipiell nicht gänzlich fremd, der er in seinem täglichen Leben aber nicht unbedingt ausgesetzt ist. Eine ihm einerseits unverständliche Welt, die ihm andererseits vermittels des naturalistischen und schlichten Stils des Autors nahe gebracht wird. Salamandra folgt demselben Verfahren, nur umgekehrt. Der Autor versucht, im heutigen katalanischen Zuschauer ein Bewusstsein für unmittelbar drohende Gefahren zu wecken, führt sie aber weit von ihm weg und bringt sie dann schrittweise näher – bis auf den Plaza del Padró in Barcelona –, nach einer langen Reise, die in den Bergen von Santa Rosa in Kalifornien beginnt, über Dachau in Deutschland führt, dann nach Paris, um schließlich in Barcelona zu enden. Dem Text haftet indes nichts Provinzielles an, er beschreibt vielmehr Probleme, die jeden Weltbewohner betreffen können, nicht nur wegen der skizzierten Reiseroute, sondern aufgrund d es Bogens zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in den die Figuren gespannt sind. Ihr zeitliches Zusammentreffen dient dazu, die Idee einer gemeinsamen Vergangenheit zu evozieren. Die Handlung, die Benet i Jornet strickt, verbindet simultan verschiedene Enden zu einer komplexen und überwältigenden, aber formal kontrollierten narrativen Struktur. Die Verschränkung der verschiedenen Orte, welche die Figuren aufsuchen, um sich ihrer Vergangenheit zu stellen (einer Vergangenheit, die auf verzweifelte Art in die Gegenwart bricht), führt dazu, dass die Linearität des Dramas nicht auf den ersten Blick bloß liegt. Man muss schon hineintauchen und an den verschiedenen Fäden ziehen, um sie zu entwirren. Aus szenischer Sicht handelt es sich um einen sehr mächtigen Text, der mit filmischen Mitteln arbeitet (Flashbacks, Schnitte, grundverschiedene Landschaften) und die unablässige Präsenz dieses Salamanders erzählt, Symbol und konkretes Objekt – Tier und Heizvorrichtung zum Warmhalten von Speisen – zugleich, das die Bühne in Flammen setzt.

La revolució von Jordi Casanovas, Regisseur und Autor der Gruppe Flyhard, handelt im Grunde vom Verschwinden der schmalen Grenze zwischen Realität und Fiktion. Das Design eines Videospiels dient als Handlungsauslöser, seine Umsetzung in die Praxis als Motiv. Der gesamte Text dreht sich somit um den Titel Revolution, der auch der Name des Videospiels ist. Die Handlung entwickelt sich ohne große Wendungen und Sprünge und schreitet allmählich und unaufhaltsam fort bis zu einem ergreifenden und heftigen Schluss. Die acht Szenen werden im stetigen Wechsel entwickelt und amalgamieren den Alltag der Figuren mit der simulierten Realität der Revolution. Der Autor bedient sich beim Verfassen und szenischen Ausgestalten dieses Textes einer wirkungsvollen Idee: Der Mechanismus des Videospiels beruht auf der Projektion des Unterbewusstseins all jener, die an ihm teilnehmen. Ihre innerste Welt materialisiert sich, nimmt Leben an und gerät außer Kontrolle. Formal bereichert dieses Mittel die Dramaturgie des Textes, und es gibt Momente, in denen der Leser/Zuschauer nicht mehr weiß, ob die Handlungen der Protagonisten der Realität angehören oder Folge ihrer Interaktion mit dem Videospiel sind. Auf diese Weise vermischen und überlagern sich die Grenzen zwischen Realität und Fiktion, Wahrheit und Lüge. Ein Videospiel, einmal gespielt, verändert radikal das Leben desjenigen, der es testet, und demontiert seinen Alltag, indem es ihn dazu zwingt, die Bestandteile seines Ichs neu zusammenzusetzen. Auf der Sinnebene kulminiert der Text vermittels dieser Fusion von Wirklichkeiten in der schwierigen Frage, wie diese unter einen Hut zu bringen sind. Eine Frage, die direkt und kraftvoll auf ein hochaktuelles Thema unserer Gesellschaft verweist: Wie kann ein und dasselbe Bewusstsein solche Parallelwelten integrieren? Wegen seiner Struktur und Thematik entzückte La revolució das sehr junge Publikum in Barcelona und ist ein Exempel für einen dramatischen Text, der erst in der Inszenierung zu voller Geltung gelangt.

Tractat de blanques von Enric Nolla gründet in einer Metamorphose. Dieser Monolog für eine Schauspielerin zeigt die allmähliche Demaskierung einer Identität, die sich die ganze Zeit über ängstlich versteckt gehalten hat, um in eine Gesellschaft aufgenommen zu werden, in der sie nicht geboren wurde. Nolla behandelt das altbekannte Thema der Immigration hellsichtig vermittels einer Maske, einer Verbergung, die darauf brennt, sich der Künstlichkeit zu entledigen und ihr Wesen zu entbergen. Auch hier tauchen die Fantasmen des Unterbewussten an die Oberfläche und drängen in den Alltag der Protagonistin. Der Zuschauer erblickt eine bis zur Unkenntlichkeit geschminkte Wirklichkeit, und der Text – auf dem Papier wie auf der Bühne – macht es sich zur Aufgabe, all die künstlichen Schichten abzutragen bis zur finalen Enthüllung. Ein emotional aufgeladener und herzzerreißender Text, der dem Leser/Zuschauer unsere Angst vor dem „Anderen“ zu Bewusstsein bringen will. Seine Kraft liegt mehr in den Bildern als in der Form, insofern er strukturell keine nennenswerte Herausforderung enthält. Alles wird am Ende enthüllt. Das schadet jedoch keineswegs seiner Absicht, die Scheinheiligkeit und verlogene Herablassung zwischen Personen unterschiedlicher Herkunft, die in einem gemeinsamen Alltag zusammenleben müssen, zu entlarven.

In der Verfolgung dieser Absicht eines Teils der Autoren, eine offensichtlich alltägliche Realität bloßzustellen, ist Lluïsa Cunillé in Après moi, le déluge ein überraschender und bewegender Effekt gelungen. Der Text formuliert beispielhaft den Akt der Erzählung und Entdeckung, den Weg des Lesers/Rezipienten via ästhetische Erfahrung zur Erkenntnis. Ausgehend von einem Auftragswerk im Autorenprojekt des Teatre Lliure in Barcelona und inspiriert durch einen Bericht der Welternährungsorganisation FAO der Vereinten Nationen zur weltweiten Kindersterblichkeit 2004 aufgrund von Unterernährung hat die Autorin eine hervorragende Dosierungsleistung zwischen Sachinformation und narrativer Ökonomie vollbracht. Der hypnotisierende Diskurs einer abwesenden Figur dient als Aufhänger für den Leser/Zuschauer und die restlichen Figuren, sich von ihm mitnehmen zu lassen – man kann gar nicht anders –, bis sich am Ende des bedächtigen, meisterhaft getragenen Rhythmus die schonungslose und brutale Wahrheit brüsk offenbart. Nach diesem Höhepunkt verlöschen die Worte, die bisher über die ausgebliebene Handlung triumphierten, in Bescheidenheit. Der Rezipient/Leser soll nicht belehrt, aber doch in seiner Haltung mit einer Realität konfrontiert werden, die er gerne aus der Distanz betrachtet. Dies ist ein bei aller linearen Einfachheit tief schürfender Text. Darauf beruht auch seine Wirkung – darauf und auf der Kraft seiner Bilder, wobei jeder Übergang – in der Entwicklung der Figuren, des Rhythmus, bei Beginn und Abbruch der Rede – sich formal zurückhält, aber in der Bedeutung überrascht. Der Leser/Zuschauer wird durch einen unablässigen Redefluss gezogen, ohne zwischendurch Luft holen zu können. Die Kunst ist hier in das scheinbar monotone Rauschen gekleidet, mit dem unterirdische wasserreiche Flüsse dahinströmen. Nach mir die Sintflut: In der Tat – nach den Worten folgen tatsächlich jene Stille und Beklemmung, mit denen sie in der Leere nachleuchten.

Zuletzt stellt Temps real im Unterschied zu den vorherigen Stücken einen weniger narrativen und dafür bildkräftigeren Text dar. Seine Handlung, die von einer einfachen Situation ausgeht, wiederholt sich in sukzessiven Variationen, die die angespannten Beziehungen zwischen den Figuren offenlegen. Diese Figuren sind auf den Status von Marionetten degradiert und nur noch durch ihre Handlungen – im Wesentlichen übertriebenes, bizarres, irrationales Verhalten (es werden kaum die Motive ermittelt, die sie dazu treiben) –, nicht mehr psychologisch definiert. Indem er sich an die strenge Unterteilung in drei Akte (mit zwölf, achtzehn bzw. dreißig Szenen) – genauer „Küchen“ – hält (Räumlichkeit und Zeitlichkeit geben sich die Hand in einem schwindelerregend beschleunigten Rhythmus) und durch die Folie der griechischen Tragödie (dem Orest-Mythos, der auch zitathaft als Prolog jedem Akt vorsteht und in einer Art Epilog endet), bricht Mestres die Transzendenz des Klassikers geschickt auf die Niederungen häuslich-ehelicher Gewalt in der gemeinsamen Küche herunter. Er demontiert die klassische Form, um sich ganz der Groteske hingeben zu können. Der Zuschauer/Leser ist ständig gehalten, Distanz einzunehmen: Eine vierte Wand trennt ihn von den vier Räumen auf der Bühne, durch die eine sich wiederholende Handlung grober, wortkarger Dialoge geistert, mit denen die Zeit stehenbleibt. Kein Mittel – auch keine Notwendigkeit –, die Historie dieser stoßweisen Beschuldigungen linear zu rekonstruieren, diese abrupten und minimalistischen Handlungen, Fragmente, die jedwede Vergeltung zwischen den Figuren in leeres Palaver zu verwandeln scheinen. Doch auf einer tieferen Ebene dringt die Brutalität der Dialoge und Handlungen in den Betrachter ein, und trotz der Distanz und des Spielcharakters, die dieses Stück behauptet, wird er mit der Nase auf jene Gewalt gegen Frauen gestoßen, die bedauerlicherweise Alltag ist. Albert Mestres ist ein Risiko eingegangen, hat dem schlimmen Thema seine formale Wichtigkeit genommen und auf diesem Weg eine radikale experimentelle Anordnung geschaffen.

Es lohnt sich, kopfüber in die fiktiven Welten dieser sechs Texte einzutauchen. Jeder davon macht, wie ich in aller Kürze darzustellen versucht habe, auf besondere Weise
unsere höchst problematische Gegenwart bewusst und lädt uns ein, den Alltag mit neuem, noch nicht abgebrühtem Blick zu sehen – angezogen von einer sich allmählich
entbergenden Wahrheit. Es wäre lohnenswert, diese Stücke im Ausland inszeniert zu
sehen und ihre szenischen Möglichkeiten aus anderem Blickwinkel, der Perspektive
deutscher Regisseure, fruchtbar werden zu lassen. Das deutschsprachige Theater hatte
in den letzten zehn Jahren großen Einfluss auf die katalanische Theaterszene. Viele katalanische Autoren und Regisseure interessieren sich für deutsches Theater. Im
l’Obrador, der Experimentierbühne und dem Ausbildungszentrum des Theater Sala Beckett in Barcelona haben zahlreiche deutsche Autoren Kurse in Szenischem Schreiben angeboten (zum Beispiel Händl Klaus und Roland Schimmelpfennig). Frank Castorf und Thomas Ostermeier werden regelmäßig mit Gastspielen an die renommiertesten Theater Barcelonas eingeladen. Die vorliegende Publikation versteht sich insofern als weiterer Beitrag zum gegenseitigen Austausch zwischen diesen beiden Theaterwirklichkeiten.

 

Übersetzung: Christina Schmutz und Frithwin Wagner-Lippok

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