Theater der Zeit

Protagonisten

Der panische Blick zum Himmel

Die Bremerhavener Theatergruppe Das Letzte Kleinod erzählt an schroffen Orten entlang der deutschen Nordseeküste Geschichten vom Meer

von Andreas Schnell

Erschienen in: Theater der Zeit: This Girl: Die Schauspielerin Johanna Wokalek (09/2014)

Assoziationen: Bremen Freie Szene Akteure Das letzte Kleinod

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Einmal mussten sie, erzählt Jens-Erwin Siemssen, eine Vorstellung für eine Viertelstunde unterbrechen. Sie befanden sich direkt an der Hafenkante in Bremerhaven, als von Westen her ein imposantes Gewitter aufzog. Ein panischer Blick zum Himmel, dann ging Siemssen auf die, nun ja, Bühne und erzählte seinen verdutzten Schauspielern, die das Gewitter in ihrem Rücken nicht sehen konnten, dass die Vorstellung unterbrochen werden müsse.

Zum Glück stand gleich nebenan der Zug des Letzten Kleinods. Und kaum war der letzte Mensch darin verschwunden, ging ein Unwetter hernieder, als wäre das Ende der Welt gekommen. Ein anderes Mal wurde das Ensemble von einer Sommersturmflut überrascht, erinnert sich Siemssen. Der gebürtige Bremerhavener ist ein echter Norddeutscher, Humor: ultratrocken, so leicht bringt ihn nichts aus der Ruhe. Aber im Grunde habe es in den 23 oder 24 Jahren, die er jetzt Theater macht, sowieso nicht mehr als drei Vorstellungen gegeben, die unter- oder abgebrochen werden mussten. Was schon ein kleines Wunder ist, in Norddeutschland, wo Das Letzte Kleinod am häufigsten spielt – fast immer draußen.

Seit 1991 betreibt Jens-Erwin Siemssen Das Letzte Kleinod, inszeniert mit wechselnden Ensembles hauptsächlich dokumentarische Stücke. Bühnen, ganz normale Bühnen, interessieren ihn dabei nicht. Was ihn interessiert, sind Orte – und Geschichten, die das Leben schreibt, was, zugegeben, trivial klingt, aber es bei Siemssen nie ist. Vielmehr trifft er mitunter dort hin, wo es schmerzt. Manchmal körperlich, wenn das Publikum den ostfriesischen Sommer überschätzt und sich tief in die von Kleinod in weiser Voraussicht bereitgestellten Schlafsäcke eingräbt. Manchmal seelisch, wenn die Schicksale, die Siemssen erzählt, an fast vergessene Qualen erinnern, wie in „Exodus“, einem Stück über die menschenunwürdige Schiffsreise von 4500 aus deutschen Konzentrationslagern befreiten Juden, die 1947 auf einem ehemaligen Vergnügungsdampfer von Marseille nach Palästina fuhren, von dort jedoch unter Waffengewalt und den entsetzten Blicken der Weltpresse auf britischen Gefangenenschiffen wieder nach Deutschland gebracht wurden, wo sie in Kasernen Unterschlupf fanden, bis sie dann doch noch ins Gelobte Land gelangten. Eine Geschichte, die Das Letzte Kleinod in diesem Sommer aufführte, nachdem die Proben im Frühjahr in der Nähe von Haifa in einem zur Gedenkstätte umgewidmeten ehemaligen Lager für illegale Einwanderer stattgefunden hatten.

Im Verschwinden begriffene Orte

„Die ersten fünf Jahre habe ich nur experimentiert“, erzählt Siemssen. Tanz, Bewegung, Bilder, Objekttheater (das er in Amsterdam studierte) – kein Wort kam ihm bzw. seinen Schauspielern über die Lippen. Allerdings waren es schon damals Orte, die ihn interessierten. Im Verschwinden begriffene Orte. Als der heute Fünfzigjährige anfing, Theater zu machen, war der Kalte Krieg gerade vorbei, Kasernen wurden geräumt, Bahnverbindungen rückgebaut, Bahnhöfe verkauft. Schon damals in Amsterdam träumte Siemssen mit seiner Partnerin Juliane Lenssen von einem Theater auf Schienen. Und von einem eigenen Bahnhof. Den fanden die beiden zur Pacht in der Nähe von Siemssens Heimatstadt Bremerhaven. Auf dem Land. Am frühen Abend hoppeln dort Rehe über die Wiesen, die sich auch von den immer noch dort haltenden Regionalzügen nicht stören lassen.

Kurz darauf begannen die beiden, Waggons für den eigenen Zug zu kaufen, zehn sind es mittlerweile, acht davon werden regelmäßig durch den Norden gefahren, voll mit Technik, Kostümen und Schlafgelegenheiten. Mittlerweile gibt es sogar warme Duschen. Auch im Zug wird manchmal gespielt. Letztes Jahr zeigte Siemssen darin zum Beispiel in verschiedenen Hafenstädten ein Stück namens „Heimweh nach Hongkong“ über chinesische Wäscher, die auf deutschen Schiffen über die Ozeane fahren. Eigentlich ganz profan. Arbeitsalltag, Arbeitsmigration.

Und doch schafft es der Regisseur und Autor Siemssen immer wieder, sein Publikum in die Geschichten hineinzuziehen. Oft mit erstaunlich einfachen, geradezu rohen Mitteln. Sein letztes Stück, „um uns herum nur nichts“, das aus dem Leben von Seemännern erzählt, hat vor allem ein Requisit: ein langes Tau. Das mal hohe Wellen schlägt, mal Brüste und Penis repräsentiert, oder ein Kühlhaus sowie den gefrorenen Schinken, mit dem der eingesperrte Koch gegen die Tür hämmert. Kunstvoll in Schleifen und Schlaufen gelegt, in der Luft herumgewirbelt, um die Männer gewunden, ist dieses Tau all das und noch ein bisschen mehr: nicht zuletzt das, was die Mannschaft zugleich zusammenhält und aneinanderkettet, ihr täglich Brot und notfalls auch ihr Rettungsboot, zu einer in ihrer Schlichtheit geradezu verblüffend zarten Choreografie arrangiert.

In „Atalanta“, das von Piraten am Horn von Afrika handelt, sind es Schläuche von Lastwagenreifen, in der „Filchner-Barriere“ Europaletten, in „Exodus“ sind es die ausrangierten Fensterrahmen der alten Kaserne, in der gespielt wird. Aber immer ist es eben auch der Spielort, der unauflöslich mit der jeweiligen Geschichte verwoben ist. Nicht immer ist der so spektakulär wie die künstliche Festungsinsel Langlütjen II in der Wesermündung, nur zu Fuß übers Watt zu erreichen oder per Ruderboot. Manchmal blickt man auch einfach nur aufs Meer oder den Nord-Ostsee-Kanal, sieht die Schiffe vorbeifahren – während Siemssen erzählt, wie es darauf zugeht.

„Das war schon früh das Konzept: die Geschichten an ihren Ursprung zu bringen“, sagt Siemssen. Wobei diese Geschichten – und das ist vielleicht die größte Stärke dieses Theaters – dann meist einen weiten Bogen schlagen, von der norddeutschen Landschaft hinaus in alle Welt und zurück. Und dabei bisweilen so unglaublich klingen, dass sie geradezu wahr sein müssen. Auch wenn Siemssen der Erste wäre, der zugeben würde, dass sich die Dinge keineswegs immer genauso abgespielt haben müssen wie in seinen Stücken. „Exodus“ zum Beispiel. Ein knappes Dutzend Zeitzeugen hat Siemssen interviewt und intensiv recherchiert. Und doch enthält das Stück ein paar kleine Ungereimtheiten, Widersprüche, die sich aus dem Verfahren ergeben und dem Umstand, dass nach über sechzig Jahren die Erinnerung einem manchmal doch etwas vorgaukelt. Siemssen nimmt das zur Kenntnis. Aber er lässt seinen Zeitzeugen bei der Montage ihre Stimme. So ist eben die Erinnerung, und so dokumentiert er sie. Dabei bleibt dem Publikum Luft, sich selbst mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen. Auch das ist Teil dieses Theaters, das sich immer wieder vorübergehend an Orten festsetzt, deren Schönheit kantig und manchmal auch schroff ist.

Keine fein ziselierten Charakterstudien. Keine Schöngeisterei. Nur manchmal entstehen geradezu magische Momente, die dann umso intensiver wirken: traurige jiddische Lieder oder ein Schattenspiel. Und natürlich ist das dann erst recht realistisch. Weil die Welt für die meisten Menschen oft genug ein ungemütlicher Ort ist, in dem sie immer wieder diese kleinen glücklichen Momente suchen und finden.

Weil das vermutlich noch eine Weile so bleiben wird, gehen Jens-Erwin Siemssen die Geschichten wohl so bald nicht aus. „In meinem Kopf arbeite ich an acht Projekten, die ich bis 2017 realisieren möchte“, sagt er. Und meint das auf seine norddeutsche Art ganz und gar ernst. //

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