Woyzeck-Zeit
Erschienen in: Recherchen 12: Das Politische Schreiben – Essays zu Theatertexten (10/2012)
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Woyzecks Ort ist, wo fernab der Hauptstraßen der Schutt liegenbleibt, der beim Bau der Industrien aufgeworfen wurde. Zu spät, zu früh: Was hier existiert, ist verkümmerte, abgelebte Vergangenheit und dumpf bedrohliche, zugleich bereits halb verpaßte Zukunft. Überalterte Verhältnisse von Metternichs Gnaden, Restauration. Und lichtlose Zukunft der Fabriken. Dazwischen, Hessen in den 1830er Jahren, keine Gegenwart. Nur endlos sich dehnendes Hintropfen leerer Zeit der Reproduktion.
In den schmalen Gassen, ärmlichen Behausungen, auf den zu kleinen Feldern, unter dem kläglichen Lichtschimmer vereinzelter Laternen kommt kaum je ein Augenblick des Glücks, der Befreiung, auch nur des Aufatmens zustande. Körper und Gedanken sind beengt, Tätigkeit ist reduziert aufs mühsam-träge Einerlei der fruchtlosen Plackerei, die nicht mehr als gerade nur das Weitermachen ermöglicht.
In all dem einige, wenige Ausblicke: zum Beispiel die Liebe zu Marie, die Freundschaft mit Andres. Aber die Momente, in denen am Rand der Zeitstraße für kurze Zeit verheißungsvoll der Schein von anderem aufblitzt – ein Jahrmarkt vielleicht, eine Zärtlichkeit –, sind rasch verschluckt. Ja, sie bringen Gefahr mit sich. Denn das träge Beharren, »kein Schmerz, kein Gedanke« (Heiner Müller), ist zugleich Rettung, Sicherung. Routine unterbindet den Gedanken ans Sinnlose, Fühllosigkeit überdeckt die Verzweiflung. Wut und Aggression sind dieser Welt latent...