Auftritt
Stuttgart: Kurzes Glück und langes Scheitern
Schauspiel Suttgart: „Am Ende Licht“ von Simon Stephens. Regie Elmar Goerden, Bühne Silvia Merlo & Ulf Stengl, Kostüme Lydia Kirchleitner
Erschienen in: Theater der Zeit: Oliver Bukowski: „Warten auf’n Bus“ (01/2022)
Assoziationen: Baden-Württemberg Theaterkritiken Sprechtheater Schauspiel Stuttgart

Das alles passiert am 6. Februar 2017, fern der Metropole London in fünf nordenglischen Städten: Die alkoholkranke Christine stirbt in Stockport beim Wodkakauf, ihr Mann geht derweil in Doncaster fremd. Auch die drei erwachsenen Kinder kämpfen mit Problemen: Tochter Jess wacht in Blackpool nach durchzechter Nacht neben einem Fremden auf, ihre Schwester Ashe jagt in Ulverston ihren Junkie-Freund zum Teufel, und ihr Bruder Steven nervt in Durham seinen Lover mit nagenden Zweifeln. So lässt der britische Autor Simon Stephens, geboren 1971 in Stockport, sein neues Stück beginnen – als Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die er als sukzessives Szenenpuzzle auffächert. Sein Text ist eine Hommage an die vielen in prekären Verhältnissen lebenden Menschen im Norden Englands, der manchen als öde Provinz gilt. Eine Liebeserklärung sogar, denn trotz des Elends sendet der Text noch ein tröstliches Leuchten aus. „Light Falls“, so der Originaltitel, wurde 2019 am Royal Exchange Theatre Manchester uraufgeführt – mit einer eigens dafür komponierten Hymne des Pop-Melancholikers Jarvis Cocker. Elmar Goerden inszenierte nun die deutschsprachige Erstaufführung in Stuttgart – unter dem Titel „Am Ende Licht“.
Allerdings ohne Cockers „Hymn of the North“, ohne Zeilen wie „Factories lie empty / Manufacturing Emptiness“. Denn Goerden reduziert Stephensʼ Lokalfolkloristik auf ein Minimum und erzählt eher die universell lesbare Story einer gebeutelten Familie. Düster das erste Bild: ein menschenleerer, seltsam unwirklicher, aschfahl grauer Supermarkt. Christine tritt auf, eine Frau im Wollmantel, und erzählt von sich. Auch über sich in der dritten Person. Schildert ihr alkoholgeprägtes Leben als steten Wechsel von kurzem Glück und langem Scheitern. Und beschreibt auch, wie sie an einer Hirnblutung stirbt – am 6. Februar 2017, nachmittags im Supermarkt.
Sylvana Krappatsch spielt diese Christine, Mitte 40, als Wesen zwischen Leben und Tod, als Geist. Als eine Frau, die hinter unauffälliger Fassade eine schlimme Familiengeschichte verbirgt. Krappatsch orchestriert diesen stockenden, dann wieder aufbrausenden Pseudomonolog in vielen Stimmfarben – zwischen Verletztheit, Trauer und Wut, als Collage aus Krankenbericht, Leidensprotokoll, Lebensbilanz und Geständnis. So entsteht ein Text, der von innen kommt und doch auch wie aus dem All aufs eigene winzige Ich herabschaut. Eher lakonisch, unterspielt, unsentimental. Umso beklemmender. Schauspielerisch sensationell.
Was folgt, ist all das, was die übrige Familie zum Todeszeitpunkt der Mutter so treibt. Der Vater ist bei Klaus Rodewald ein Heulgespenst, das ständig Chips futtert und Nähe bei anderen Frauen sucht. In den Kindern brodelt das erfahrene Elend weiter. Die lebenshungrige Jess (Katharina Hauter) hatte besoffenen Sex auf dem Friedhof, die herb gewordene Ashe (Nina Siewert) demütigt ihren Freund, und der überspannte Jurastudent Steven (Jannik Mühlenweg) ringt mit quälenden Ängsten.
Zugegeben, ein bisschen Family-Soap samt Broadway-Boulevard schwingt mit, auch sozialrealistischer Kitschverdacht. Goerden aber setzt weniger aufs Laute, Exaltierte als vielmehr auf leise, vielsagende Details. Auf Tragikomik und auf einen, typisch für Stephens, subkutanen Trotz-Alledem-Optimismus. Vor allem betont die Regie die surrealen Ebenen des Stücks, wenn Krappatschs Christine wie ein leibhaftiger Geist posthum im Alltag ihrer Lieben auftaucht. Oder wenn sie sich zu Björks Version von „It’s oh so quiet“ freitanzt. Momentweise scheinen gar imaginierte Utopien eines anderen Lebens auf.
Ein Gesellschaftsporträt mit zuversichtlichem Grundton? Vielleicht. Doch durch Stephensʼ Familiendrama zieht sich ein politisch-sozialer Subtext, der auf die ökonomischen Wurzeln des Elends hinweist. Denn die Hauptfigur Christine stirbt im Februar 2017, als sie nach längerer Trockenheit Wodka besorgt und rückfällig zu werden droht – just ein paar Wochen, bevor London den Brexit vollzieht und in Brüssel den Austritt beantragt. Auch eine Art Rückfall? Kurzum: Bei Goerden greifen Schauspielertheater, Sozialporträt und Traumspiel subtil ineinander. Verstörend und tröstlich zugleich. //