Thema: Müller in der Welt
Im Dialog mit einem Gespenst
Wie Heiner Müllers Werk bei dem kubanischen Autor Rogelio Orizondo das Bedürfnis nach einer neuen Theatersprache auslöste. Ein Gespräch
von Mehdi Moradpour und Rogelio Orizondo
Erschienen in: Theater der Zeit: Die Menschenbaustelle – Bühnenexperimente am Bauhaus Dessau (02/2014)
Assoziationen: Südamerika Akteure Dramatik
Rogelio Orizondo, beim Lesen Ihres Textes „Gestern habe ich aufgehört, mich zu töten. Dank dir, Heiner Müller“ entsteht der Eindruck, dass Ihr Text zu einem spielerischen Parcours einlädt. Auf mich wirkt er wie eine im Derrida’schen Sinne in Bewegung begriffene Zwietracht zwischen verschiedenen Schreibsystemen, ein Mahlstrom der Referenzen: Heiner Müller, Sarah Kane, Virginia Woolf, Tschechow, Shakespeare, Guillermo Calderón, aber auch einige kubanische Dramatiker, Poesie, Kino, Musik etc. Es ist ein Spiel mit dem Wort und der Form und besteht aus Dialogen, die oft dysfunktional wirken. Ist das eine Kampfansage an den dramatischen Text, an jegliches System?
Die Idee zu einem solchen Text kam, als ich zum ersten Mal verliebt war. Nachdem mein Freund und ich uns getrennt hatten, fing ich an zu schreiben, um diese harte Zeit zu überwinden. Ich wusste noch nicht, dass daraus ein Bühnenstück entstehen wird. Ich fragte mich aber, warum wir nach der Pfeife von Aristoteles tanzen sollen, den alle an der Universität verehren. Einige Workshops mit Sergio Blanco, Lucrecia Martel und Oscar Cornago überfluteten mein Verständnis vom Schreibakt und von der Kunst mit neuen Blicken.
Während dieser Zeit streikten die Studenten des Instituto Superior de Arte, da das Mensaessen sehr schlecht war. Der Rektor schlug daraufhin allen Ernstes vor, in der Hochschule ein Schwein zu züchten und einen Gemüsegarten anzulegen. Ich hatte Lust, zugleich eine landesweite Revolution herbeizuführen, meine Pulsadern für die Liebe aufzuschneiden, die Konzerte meiner Lieblingssänger zu besuchen, meine Freunde noch mehr zu lieben und all die Theaterleute zu fragen: Wie lange wollen wir mit dem Gleichen weitermachen und uns den immer gleichen Gegebenheiten fügen? Ich wollte die Regierenden danach fragen und mit dieser Haltung an die Kunst und an das Leben herangehen. Heute sehe ich den Text als eine Erkundung. Als ein Spiel, das nie endet.
Der Protagonist Ihres Stückes, die Republik, ruft ihre vier Charaktere zur Inszenierung auf: Amlet, ihr Dramatiker, lehnt sich gegen den Theaterkanon in der Republik auf; Ophelia, ihre Lunge, möchte ihr eigenes, ungeborenes Kind mit einem Kongolesen nach der Geburt im Fluss versenken; Laertes, ihrer Tat, fehlt jegliche Vision; und Braz, die Hoffnung der Republik und zugleich Amlets Facebook-Freundin, kommt aus Europa. Alle vier entledigen sich ihrer Verpflichtungen gegenüber der Macht/der Republik/ dem Theater. Sind die Figuren entfremdet und nicht in der Lage, sich die Welt anzueignen? Oder sehnen sie sich nach einer Utopie?
Ophelia und Laertes sind von den Spuren des Vaters geprägt. Ophelia als Opfer, Laertes als Instrument. Laertes bleibt in Kuba, er ist ein Läufer, läuft aber nicht mehr. Dann fängt er wieder an. Ihm geht es nicht ums Gewinnen, nur ums Laufen. Ophelia verlässt Kuba, um als ein Seeungeheuer zurückzukehren. Sie ist anpassungsfähig und möchte sich in ein Tier verwandeln, das nicht ertrinkt. Vorher will sie ihrem Vater eine Opfergabe bereiten. Zentrale Fragen sind dabei: Was nimmt der Auswanderer mit und was behalten die Gebliebenen? Auswandern impliziert für viele Menschen in Kuba immer noch Verlassenheit und Verzicht auf Heimat, trotz vieler Veränderungen. Das, was schmerzt, ist der bleibende Konflikt, der Groll.
Amlet und Braz hingegen haben das Vaterproblem aus dem Weg geräumt, sie interessieren sich für ihre Großväter, die für meine Generation Revolutionäre sind, Pioniere. Unsere Väter dagegen sind die Opfer dieser gescheiterten Taten. Eine Generation, die an vieles glaubte und dabei zusehen musste, wie alles zerbröckelt, wofür sie gekämpft und gehungert haben. Sie trugen die Kleider der Toten, die ihnen aus dem Ausland geschickt wurden. Das alles war eine Utopie. Es war nichts als utopisch.
Die beiden interessieren sich nicht dafür. Amlet geht es nur um Theater, und Braz sucht nach einem kubanischen Ehemann, um Geschäfte machen zu können. Die einzige Möglichkeit für Amlet ist, sich mit Braz einzulassen. Ich frage mich, was unser Land ohne solidarische Hilfe aus dem Ausland gemacht hätte. Wie hätte das Stück 2010 ohne finanzielle Unterstützung des Verbindungsbüros des Goethe-Instituts während der deutsch-kubanischen Theaterwoche inszeniert werden können?
Führen Sie einen Dialog mit Heiner Müller? Einen Dialog mit den Toten?
Es wäre unmöglich gewesen, ein Hamlet-Stück zu schreiben, ohne einen Dialog mit Heiner Müller zu führen. Es ist sehr bezeichnend, dass ein solcher Text in der DDR entstanden ist. Es gibt Parallelen zwischen meinen und Müllers Lebensumständen. Die Intertextualität in seinen Texten faszinierte mich. Da bot es sich an, unser Erbe von Referenzen zu hinterfragen, die Verbindung zwischen Politik und Lenin, zwischen Theater und Stanislawski – seine Schauspieltheorien sind in Kuba beinahe die einzigen. Unsere Verfassung und unsere Partei verstehen sich als marxistisch-leninistisch. Müllers potente Haltung in dem Dialog mit diesem repressiven System ist beeindruckend.
Deshalb die Danksagung an Heiner Müller im Titel des Stückes?
Es ist so, als ob alles, was ich vorher geschrieben habe, von Momenten des poetischen Selbstmordes, der Selbstzensur geprägt ist. Sein Werk löste in mir das Bedürfnis nach einer neuen Theatersprache aus.
Inwieweit ist sein Werk in Kuba präsent?
In der Theaterlandschaft herrscht Bewunderung und Angst vor Heiner Müller. Alle kennen ihn. Die meisten Autoren haben ihn gelesen, einige haben ihn in ihr Werk eingebunden. Aber die Mehrheit der Theatermacher weiß nicht, wie sie an seine Texte herangehen sollen, daher gibt es kaum Inszenierungen. Trotzdem wurde er von den Autoren ausführlich erkundet. 2003 erschien eine Anthologie seiner Texte. Sein Gespenst ist sehr präsent.
Und auch das Gespenst des deutschen Theaters.
Das ist sehr sichtbar. René Pollesch, Fritz Kater, Rainer Werner Fassbinder, Dea Loher, Marius von Mayenburg und Roland Schimmelpfennig wurden bereits inszeniert. Für die jungen Autoren ist das sehr ermutigend. Unser Land ist in einem Zeitloch gefangen. Die Möglichkeiten der virtuellen Kommunikation sind sehr eingeschränkt. Daher ist der Austausch entscheidend.
Und wie steht’s um eine eigene Dynamik in der kubanischen Theaterszene?
In Kuba mangelt es an einer Evolution der Theaterpoetik. Sowohl die Kommunikation in der Theaterwelt als auch der Mechanismus der Produktion sind noch dieselben wie im letzten Jahrhundert. Sehr wenige Menschen fragen sich, wie wir beim Publikum landen können, ohne uns der Metapher, der Doppelbödigkeit oder politischer Scherze zu bedienen. Es fehlt der Raum, in dem die Realität und die Politik frei diskutiert werden können. Wir kennen noch keine Aufführungen von Texten Harold Pinters, Caryl Churchills, Elfriede Jelineks oder Sarah Kanes. Theaterästhetisch gesehen ist unser Land krank. Die Herausforderung liegt in der Genesung, das heißt in der Erkenntnis, die Mannigfaltigkeit der Theatersprachen und der Kommunikationswege anzuerkennen.
Zurück zu Ihrem Text. Manche Autoren verlieren sich in dem schon eingangs erwähnten Mahlstrom der Referenzen und wirken beliebig. Ihre Sprache scheint einen gewissen Anteil zu einer Problemlösung beitragen zu wollen, sowohl das Leben als auch die Theaterästhetik betreffend.
Alles, was einer schreibt, ist von Referenzen überschwemmt. Auch Shakespeares und Müllers „Hamlet“. Theater kann für nichts eine Lösung sein. Im Gegenteil. Beim Schreiben reflektiert der Autor seine Fragen an die Welt und er denkt auch über den Akt des Schreibens nach. In mir steigt ein Widerwille auf, wenn Zuschauer mit klaren Ideen das Theater verlassen. Das ist nicht Kunst. Niemand kann den Menschen vorschreiben, was sie denken sollen. Ein Autor verhandelt sein Scheitern, seine Ängste durch die Sprache. Und er kann dadurch etwas Besonderes und Einzigartiges erreichen. Die größte Krise, die man haben kann, ist die der Sprache.
Sie sehen Ihren Text als Arbeitsmaterial, als ein Konzert. Was wäre Ihnen für eine Inszenierung relevant?
Das soll der Regisseur entdecken. Manchmal besteht ein Drang, etwas zu tun, ohne zu wissen, weshalb. Am besten wäre es, wenn dieser Grund unentdeckt bliebe. Ich würde ihm nur sagen, er soll bei der Inszenierung Spaß haben. //
Aus dem Spanischen von Mehdi Moradpour.