Theater der Zeit

Der Stern hat gesprochen, die Erde beißt

Miroslava Svolikova

von Margarete Affenzeller

Erschienen in: Arbeitsbuch 2020: Stück-Werk 6 – Neue deutschsprachige Dramatik im Porträt (07/2020)

Assoziationen: Akteure

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In den Stücken Miroslava Svolikovas geschehen Dinge, die man nie für möglich gehalten hätte. Regenbögen lassen ihrer Wut freien Lauf, steinerne Mauern beginnen zu sprechen, ein Museumswärter führt als Hologramm durch die Ausstellung, und halb tote Soziologen raffen sich doch noch irgendwie zum Sex auf. Wie soll denn das gehen? Die Regie muss es richten, und sie erlebt angesichts solch steiler Vorlagen mitunter ihre blauen Wunder. Obwohl oder gerade weil Miros­lava Svolikova in ihren Dramen genaue Vorstellungen vom Bühnengeschehen mitliefert, haben Regisseurinnen und Regisseure alle Hände voll zu tun, wenn sie sich auf eines ihrer Stücke eingelassen haben. Das war bereits beim Erstling „die hockenden“ der Fall, der 2015 beim Retzhofer Dramapreis als Siegertext hervorging und ein Jahr später am Burgtheater Wien (Vestibül) uraufgeführt wurde. Alia Luque hat das Stück inszeniert und eine der frischesten und eigenständigsten Inszenierungen der damaligen Burgtheatersaison vorgelegt.

„die hockenden“ beschreibt eine Dorfgemeinschaft, die in einem lethargischen Zustand verharrt und doch auf eine bessere Zeit hofft. Auf eine konkretere Zusam­menfassung lässt sich das Stück kaum bringen. Und diese Sperre gegenüber dem griffigen Nacherzählen haben sämtliche Svolikova-Stücke eingebaut. Sie verfügen über keine größeren Handlungsbögen, keine sinnfälligen Kausalzusammenhänge, keine Entwicklungen, aus denen man Schlüsse ziehen könnte. Auch wenn am Ende dann doch irgendwie viel „passiert“ ist. Dinge wurden beobachtet und überlegt, Figuren sind in den absurdesten Konstellationen aufeinandergetroffen. Diese Sprecherinnen und Sprecher sind dabei nicht zwangsläufig aus jenem Material geschnitzt, von dem die klassische Dramenliteratur bevölkert ist, dem Menschen aus Fleisch und Blut. Nein, Svolikova denkt freier und weiter, sie operiert auch mit anderen Wesenseinheiten. Motor in diesen Theatertexten ist ein performatives Sprechen, das sich oft direkt ans Publikum wendet, also ein Sprechen, bei dem die Figuren sich nicht vordringlich gegenseitig involvieren, sondern sich aus vollem Herzen einfach mitteilen. Das Svolikova-Drama bildet Sprechhaltungen ab, die nebeneinander- und/oder gegeneinanderstehen, alle aus ähnlichem Holz wie Elfriede Jelineks Kaskaden, aber im Unterschied dazu in Figurenreden arrangiert.

Der Suhrkamp Theater Verlag, bei dem alle bisherigen sieben Dramen Svolikovas verlegt sind – inklusive ihrer Neuübersetzung von Shakespeares „König Lear“ –, hat trotz der Plot-Armut für jedes von ihnen eine anschauliche Synopsis erstellt. Es sind Beschreibungen von Zuständen und Atmosphären, von der Beschaffenheit der Figuren und Situationen – zusammen ergibt all das stets eine abenteuerliche Gemengelage. Man sieht sich zur Behauptung hingerissen, dass nichts von dem, was sich hier „abspielt“, jemals zuvor schon irgendwo geschehen ist. Wo ist jemals „ein Stück Speichel“ aufgetreten, der aufgeladen ist mit schwerem Leben und Geschichte und ob dieser Last schleimt und sabbert? Oder wann hat die Erdkugel jemals als Ausdruck einer starken Gemütsbewegung einen Gott gebissen? Oder konnte das Böse auf Erden jemals zusammengerollt und weggelegt werden? Solche abstrakten und fallweise auch sciencefictionhaften Ideen sind essenzieller Bestandteil von Svolikovas Stücken. Sie erschließen Gelände jenseits der Realität und fordern so die Regie in überdurchschnittlichem Maß heraus. In den Gehirnen der Regisseurinnen und Regisseure müssen Blitze schießen angesichts der schon im Text angelegten inszenatorischen Spannweite. Man kann aber auch sagen, Svolikova ist eine Theaterkünstlerin, die von der eigenen Lust, Regie zu führen, schon ­einiges in ihre Texte mit hineinpackt. Ihre Stückeinleitungen, Vorworte und Regieangaben haben im Wissen darum, dass Theater jedes Mal neu erschaffen werden muss, allerdings auch eine ironische Note. Oft enden präzise Anmerkungen lapidar mit „oder es ist alles ganz anders“.

Svolikova, 1986 in Wien geboren, leitet einerseits ein profundes Gespür für die Funktionsweisen des Theaters an, sie verfügt zugleich aber über genug Sprödigkeit, um sich diese Gesetzmäßigkeiten auch weit genug vom Leib zu halten. Sie steht nicht im Verdacht, Lieferantin abschnurrender Texte zu sein. Und doch gehen, salopp gesagt, die Stücke runter wie Öl. Auch deshalb, weil die Dramatikerin – ähnlich wie ­Jelinek – es sehr gut hinbekommt, Intellekt mit Entertainmentverfahren kurzzuschließen. Zumindest sind Svolikovas Texte von einer Unbefangenheit getragen, die Theaterteams inspirieren. Sie bringt staubtrockene Stoffe mit schrägen Konstellationen zum Fliegen. Sie scheut keine billige Situationskomik, etwa wenn eine Figur zum Publikum vorwurfsvoll „Was schauen Sie so?“ sagt. Oder sie baut entlang von produktiven Wiederholungen (ein häufiges Muster) witzige Missverständnisse ein, in denen am Ende die ganze Tragik sichtbar wird: Im Stück „Gi3F – Gott ist drei Frauen“ (frei zur UA) beispielsweise denkt die Erde, sie hätte noch 2,5 Milliar­den Jahre vor sich, aber, ups, es sind leider doch nur 2,5 Stunden! Das ist natürlich zum Lachen, aber eben auch sehr bitter. Schon der schwindelerregende Titel von „Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt“ (UA Schauspielhaus Wien 2017) zeigt ­prototypisch, worum es Svolikova geht: Sie setzt abstraktes Denken in konkretes Theater um. Und das wirkt nie schwerfällig, sondern fast immer komödiantisch. Dass der dermaleinst letzte Stern der EU-Flagge im futuristischen EU-Museum im Beisein dreier Praktikanten, also einer „lost next generation“, über die Gesellschaft nachdenkt, das ist als Bauplan für eine politische Komödie ziemlich genial und in seiner Machart einzigartig.

Bereits als Kind von acht, neun Jahren, mit den Sprachen Tschechisch, Slowakisch und Deutsch aufgewachsen, hat Miroslava Svolikova Texte geschrieben, dann aber zunächst Philosophie und später an der Akademie der bildenden Künste in Wien bei Gunter Damisch Zeichnen studiert. Ins Dramenfach ist sie, wie sie immer wieder anmerkt, durch eine Ausschreibung eher nur „reingerutscht“. Ein steiler Einstieg, wenn man die letzten fünf Jahre rekapituliert. Die Liste der Preise ist heute doppelt so lang wie die der Werke selbst. Sie hat aber auch Szenisches Schreiben beim Drama­forum von uniT Graz studiert. Als Autorin zehrt sie vom Wissen um abstraktes Gestalten, wie sie es auch in ihren Zeichnungen umsetzt – und übrigens auch beim elektronische Musik machen. Alle drei Kunstsparten möchte sie weiterhin verfolgen, auch wenn momentan das Schreiben die Überhand gewonnen hat.

Diese Switch-Möglichkeit zwischen den Kunstsparten geht beim Schreiben mit einer Wendigkeit und Sicherheit einher. Im Prinzip sucht Svolikova für jeden Stoff eine eigene Form. So könnte man sagen, dass mit den sechs eigenen Stücken bisher auch sechs Genres entstanden sind: eine Dorfpolyfonie („die hockenden“), eine politische Farce („Diese Mauer …“), ein dramatisches Gedicht („europa flieht nach europa“), eine ­absurde Dialogkomödie („Der Sprecher und die Souffleuse“), ein Zukunftsmythos („Gi3F – Gott ist drei Frauen“) und ein philosophischer Splatterporno („Rand“ 2020). Und tatsächlich nehmen sich die Dramen bei aller Verwandtschaft ziemlich unterschiedlich aus. Zum Lachen gibt es aber immer etwas. Und das ist oft der Fallhöhe zwischen dem Verhandlungsgegenstand (Krise der Europäischen Union, Wegbrechen der bürgerlichen Mitte, Weltuntergang) und dem Palaverton der Akteure zu verdanken.

So erhebt in „Gi3F“ der Planet Erde kurz vor seinem Kollaps zögerlich die Piepsstimme, als in Wahrheit nur mehr ein unendlich lauter Schrei helfen würde: „ich wollte mich noch einmal melden“. Oder wenn im Stück „Der Sprecher und die Souffleuse“, einer kafkaesk-knackigen Theater-im-Theater-Komödie, König Lear den Stromausfall auf der Bühne inbrünstig als seine Sturm-Szene imaginiert. Oder wenn ein blauer Tetrisstein von der Weisheit seiner Ahnen und Urahnen berichtet, nach der er sich in Respekt vor der Tradition auch in seiner Existenz orientieren möchte. So steht es in „Rand“, dem jüngsten Drama Svolikovas, in dem es um eine Betrachtung der sozialen und politischen Metaphern von Mitte und Rand geht, aber auch um den Begriff der Abgrenzung, wenn eine eifrige Gruppe von Soziologen die fremden Sitten und Gebräuche der Tetris­steine erkundet und sich vor ihnen in Acht zu nehmen gedenkt.

Miroslava Svolikovas Stücke legen also immer Strukturen offen – bei aller theatralischen Fülle, die die Texte anbieten und die jede Ausstattung herausfordern können. Gerade weil wir uns die Sprecherinnen und Sprecher nicht zwangsläufig als das soziale Wesen Mensch und seine psychologisch motivierten Pro­blemchen vorzustellen haben, ihre Reden also losgelöst von vielen identifikatorischen Assoziationen sind und oft auf mythologischen Grundmustern beruhen, ­treten im geradezu Brecht’schen Sinn Abläufe, Zusammenhänge, Strategien immer offen zutage. Bei Svolikova moderieren die Figuren ihr Gesagtes gelegentlich mit. Sie kündigen etwa den längst überfälligen Höhepunkt des Stücks selber an oder kommentieren sich ein wenig selbstverliebt: „Das ist ein schönes Schlusswort“.

Dazu kommt ein klarer, leichthändiger Sprachduktus, der reinzieht. Und das ist vielleicht das eigentliche Wunder an diesen Stücken: Svolikovas bei Paul Celan und Ingeborg Bachmann geschulten, unangestrengten, bildhaften Sprache fehlt jeder Dünkel, jedes Zuviel an literarischer Avance, und doch wummert die Poesie in den einfachsten Sätzen. „ich bin das, was sich unter dem teppich noch bewegt, … ich bin all die leichen, über die man drübergestiegen ist, ohne zu stolpern“, sagt der Speichel in seiner großen Gesellschaftsreflexion im Stück „Die Mauer …“. Bekommt diese Bild­sprache im Theater Raum, kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.

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