Theaterpraxis zwischen Tradition und Zeitgenossenschaft
Theater ist wie täglich Brot
Über Widerstände, Missbräuche und Erfolge des Theaters in afrikanischen Ländern
von Johannes Nix
Kann Kunst und Kultur wirklich in einem repressiven System Utopie und Hoffnung vermitteln? Ich bin auf traurige Weise davon überzeugt, denn der ugandische Diktator Idi Amin war es, der als eine seiner ersten politischen Handlungen das Nationaltheater von Uganda schließen ließ, um Kunst und Utopie zu verhindern.1 Kunst und Kultur können Brücken schlagen, Theater schafft Räume, wo Politik und Ökonomie schon immer versagt haben.
Aller Anfang ist schwer
Als das Theater Konstanz im Jahr 2010 seine erste Kooperation mit der togoischen Theatergruppe Compagnie Louxor de Lomé bekannt gab, wurden kritische Stimmen laut, man mache mit dem Theater scheinbar nur einen Ausflug zum Vergnügen, nach dem Motto: „Eine Reise, die ist lustig, eine Reise, die ist schön“, und das alles im imperialistischen Stil, wie es auch vor 600 Jahren schon der Fall war.2 Wie kam es in Konstanz zu diesen kritische Stimmen? Zeigt sich darin eine Skepsis gegenüber der Auseinandersetzung mit dem scheinbar Fremden? Vielleicht auch die Überraschung, dass eine kleine, reiche Stadt mit einem kleinen, armen Land eine Freundschaft aufbauen kann?
Togo, ehemalige deutsche Kolonie, wird im öffentlichen Diskurs und in der Lokalpresse einer deutschen Kleinstadt zu Beginn einer erfolgreichen Kooperation zum Spielball von Vorurteilen und Ignoranz. Trotz Widerständen in Politik und Presse stellte sich der damalige Konstanzer Kulturbürgermeister Claus Boldt hinter das Theater und stärkte dem Projekt den Rücken, gab den Weg frei für eine internationale Theaterpolitik.
Zu Beginn der gemeinsamen Arbeit wurde uns in Lomé die Frage gestellt: „Was denkt man in Deutschland über Togo?“ Es wurden runde Tische einberufen, es wurde debattiert; Künstler*innen, Schriftsteller*innen, Schauspieler*innen, Deutschlehrer*innen kamen zusammen, suchten nach Möglichkeiten für die Publikation togoischer und deutscher Theaterstücke. Diese kulturelle Alltagsarbeit fand in Konstanz keine Aufmerksamkeit. Stattdessen entbrannten Debatten, in Afrika würden Steuergelder verschwendet, verschwiegen wurde die erfolgreiche Projektfinanzierung durch Drittmittel. Die Theaterkooperation hat das Land und die Menschen aus Togo letztlich dann wieder ein wenig in das Alltagsbewusstsein der Konstanzer Bevölkerung gebracht. Und umgekehrt? Was wissen deutsche Botschafter in Afrika über afrikanische und deutsche Kunst und Kultur?
Kultur – Die dritte Säule der Außenpolitik?
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit dem Deutschen Botschafter in Tansania im Sommer 2019. Wir fragten nach der dortigen Theaterkultur, er wusste nichts zu erwidern. Stattdessen sprach er vom mangelnden Engagement der Tansanier*innen, Deutsch zu lernen. Nur zwei Schulen würden sich in Daressalam darum bemühen, eine Frechheit sei das. Als wir weiter fragten, wurde uns eine Trommelgruppe genannt. Das führte mir den Kulturbegriff einer deutschen Vertretung in Afrika vor Augen. Die deutsche Sprache als einzigen Parameter der Kulturbildung wahrzunehmen, trägt doch postkoloniale Züge und zeigt Unbedarftheit im Umgang mit deutscher Geschichte. Von Frank-Walter Steinmeiers dritter Säule der Außenpolitik, der Säule der Kultur, war nicht mehr viel übriggeblieben.
Deutsch-Ostafrika, welches das spätere Tansania einschloss, war von Deutschen überfallen und ausgebeutet worden, wohl auch ein Hohn. Erst der tansanische Präsident Julius Nyerere (1922 – 1999) hatte 1962 nicht nur das Land vereint und in die Unabhängigkeit geführt, sondern auch Kultureinrichtungen geschaffen. Seiner Initiative ist die Hochschule TaSUBa in Bagamoyo zu verdanken. Hier werden Studierende in Schauspiel, Tanz und Gesang ausgebildet, die quer durch das ganze Land reisen, jeweils für drei Jahre in den Dörfern bleiben, und Malerei, Tanz und Theater unterrichten sollen.3 Ziel war, das Land nicht nur an Rohstoffen, sondern auch an Kultur reich werden zu lassen. Der Präsident in Nachfolge von Nyerere stampfte dieses Vorhaben allerdings kurzerhand wieder ein und erstickte, was gerade angefangen hatte zu atmen.
Geschlossene Theaterbauten
Zum Glück aber sind wir nach Lomé geflogen, um das Stück En attendant Godot von Samuel Beckett in der Regie von Ramsès Alfa zu erarbeiten und zu zeigen.4 Das Nationaltheater Togo war faktisch tot, geschlossen. Theater gehört in diesem Staat nicht zur Etikette, gefördert wird es kaum. Dennoch gewährte man uns Zutritt zu der einstigen Spielstätte, ihr wieder Leben einzuhauchen, war unser Ziel.
Auch in Bujumbura, der Hauptstadt von Burundi, gibt es ein Gebäude, das Theater genannt wird. Gespielt wird darin auch nicht, verboten von dem ebenfalls diktatorischen Präsidenten Pierre Nkurunziza. Von einer Demokratie in die Diktatur, von einem Land mit vielen Theatern in ein Land ohne ein einziges. Aber es gibt Menschen, die Theater spielen wollen, Künstler*innen, die Theatergruppen aufbauen und voller Ideen sind für unterschiedlichste Dramen, Komödien und Projekte.
Afrikanisches Theater als postkoloniales Experiment?
Ein Aufbruch für freie Theatermacher*innen aus Europa? Vielleicht sogar die Möglichkeit, etwas Neues zu schaffen? Weg von dem Anspruch eines bürgerlichen Theaters. Freies Theater in Afrika? Keine Kritiker. Keine Kontrolle. Freies Feld?
Ich habe beobachten können, wie Theaterleute aus Deutschland mit afrikanischen Künstler*innen experimentieren. Ich sehe das kritisch. Es gibt zu wenig Qualitätskontrolle durch Kolleg*innen, Institutionen und Kritiker*innen. Es besteht die Gefahr, dass gescheiterte Künstler*innen meinen, sich in Afrika austoben zu können. Das finde ich kolonialistisch. Daneben gibt es etwas, das ich Betroffenheitstheater nenne: Ich bin in Uganda auf eine Gruppe gestoßen, die einen Namen auf Kiswahili trägt. Sie wurde von einem deutschen Theatermacher gegründet, der laut Referenzen über keine Regieerfahrung und über entsprechend künstlerisches Handwerk verfügt. Inszeniert werden Gefühle, Mitleid und vermeintlich soziale Themen. Theater zum „Nachdenken“ wird durch traurige Musik unterlegt und das Spiel durch noch traurigere Gesichter der Spieler*innen verdeutlicht. Am Ende sind alle sehr traurig, schütteln den Kopf und sind davon überzeugt, etwas für Kultur getan zu haben. Gekauft werden solche Produktionen von europäischen Hilfsorganisationen. Anlässe gibt es genug, Kongresse, Konferenzen von NGOs. Dort werden dann die nächsten fünf Jahre geplant und unterschiedlich lange Reden gehalten. Zu einem straffen Programm gehört ein straffer Zeitplan, und sollte die Rede des Landesdirektors zu lange dauern, wird die Performance der Künstler*innen gerne von einer Stunde auf 20 Minuten gekürzt. Es ist bezeichnend dafür, wie diese Einrichtungen Kunst bewerten, aber auch wie sich Künstler*innen behandeln lassen müssen, weil sie entweder arm sind oder zu wenig Selbstbewusstsein haben. Die Schauspieler*innen können nichts dafür, aber die Gründer und vor allem die europäischen Theatermacher*innen solcher Gruppen tragen dafür die Verantwortung.
Ziel muss es sein, Standards zu formulieren, die auf hohem künstlerischen Niveau basieren, Ausbildungsstätten aufzubauen, eigene Theater in Afrika zu gründen und einen künstlerischen Transfer untereinander zu schaffen.
Die Kraft des Theaters für die Befreiung – Bespiel für ein eigenständig afrikanisches Theater in Burundi
Im Sommer 2017 ist mir auf einer Theaterreise nach Burundi deutlich geworden, welche Kraft Theater aufbringen kann, um Menschen auf ihrem Weg der Befreiung zu begleiten. Das Land hat bis heute noch mit den Folgen des Bürgerkriegs von 1990 zu kämpfen. Die gewaltvollen Auseinandersetzungen im Jahr 2015 sind noch immer zu spüren. Mehr als 3.000 Menschen wurden getötet, 150.000 flohen in die benachbarten Länder wie Tansania und Ruanda. Die Situation im Land ist nach wie vor aufgrund der innenpolitischen und wirtschaftlichen Situation und der kritischen Menschenrechtslage angespannt. Burundi zählt laut dem Human Development Index zu den fünf am wenigsten entwickelten Ländern. Trotzdem findet hier Theater statt. Theater schafft Schutzräume und gibt Raum für regimekritische Themen, Themen, die in der Öffentlichkeit besser nicht angesprochen werden, die Folge ist oft die lebensbedrohliche politische Verfolgung. Eine Situation während der Proteste im Jahre 2015 bleibt den burundischen Spieler*innen in Erinnerung, sie hatten selbst gegen den Diktator demonstriert: Die Menschen in der Hauptstadt warfen dem amtierenden Präsidenten Verfassungsbruch vor. Sie verabredeten sich auf der Musaga Avenue, der Präsident Pierre Nkurunziza hatte mit heftigen Reaktionen gedroht. Es dauerte nicht lange, da standen sich Demonstranten mit Transparenten und Trillerpfeife und Polizisten mit Helm, Schild und Kalaschnikow gegenüber. Im Mai geht die Regenzeit in Burundi zu Ende. Die Stimmung heizt sich auf, es wird skandiert, es wird geknüppelt und geschossen. Doch als es anfängt noch einmal heftig zu regnen, sucht man Schutz unter Vordächern, Planen und Eingangstüren. Hat man Zuflucht gefunden, bemerkt man, wer neben einem steht: Der Demonstrant unter demselben Vordach wie der Polizist und der Polizist im selben Hauseingang mit der Demonstrantin. Zunächst Skepsis, dann ein Lächeln, Zigaretten werden ausgetauscht. Polizist*innen und Demonstrant*innen sprechen miteinander. Die Aggression und die aufgeheizte Stimmung kühlen sich ab. Vielleicht erkennt man sich, weil man aus dem gleichen Stadtviertel kommt. Doch als der Regenschauer aufhört, stürzen beide Parteien wieder auf die Straße und aufeinander los.
Die Spieler*innen beschäftigte dieses Erlebnis sehr; wie man im Theater in Rollen schlüpft, schlüpfte man hier im echten Leben in Rollen – Der Polizist war für einen Moment wieder der Nachbar, wie der Demonstrant zu einem Bekannten geworden. Beide hatten Schutz gesucht, den Schutz vor Regen. Diese Straßenszene wurde von der Theatergruppe in eine Inszenierung integriert, die Aufführung fand in Bujumbura im Institut Français statt. Es kamen viele Kinder und Jugendliche, sicherlich auch damalige Demonstrant*innen. Polizist*innen waren allenfalls getarnt im Publikum. Erst in der Publikumsperspektive wurde die Absurdität zwischen Polizei und Demonstrant*innen deutlich. Während der Vorstellung wirkte das Lachen im Publikum befreiend und verdeutlichte die gemeinsame Sehnsucht von Darsteller*innen und Publikum: Das Ende der Diktatur. Der deutsche Botschafter von Burundi wurde zum Teilnehmer der Inszenierung, spielte den europäischen Beobachter, der seinen Regenschirm aufspannt und durch die durcheinander irrenden Menschen spaziert. Als einer von außen greift er nicht ein und entzieht sich seiner Verantwortung, sein Verhalten symbolisiert zugleich die Rolle Europas in den Menschenrechtsfragen in Burundi.
Nach der Aufführung wurde heftig diskutiert, das künstlerische Setting bot Schutz für eine politische Diskussion, die sonst nicht stattgefunden hätte. Die Zuschauer*innen diskutierten eine Gewaltszene im Spiel, die sie aus ihrem Alltag kennen – Theater wirkte hier subversiv. Regierungsvertreter schlichen um die Diskussionsrunde, ließen sie aber gewähren. Auch wenn das Theater in Burundi geschlossen wurde, findet in diesem Rahmen Theater unter dem Schutz der Kunstfreiheit statt. Der nigerianische Schriftsteller und Nobelpreisträger Wole Soyinka beschrieb Diktaturen auf seinem Kontinent als offene Wunden und wenn man die Diktatoren selber nicht im realen Leben beseitigen könne, dann täte man dies zumindest auf der Bühne.5
Kein Theater in Deutschland hat sich den Projekten des Theater Konstanz angeschlossen. Was sich aber vielleicht geändert hat, ist die Perspektive der Bevölkerung der Stadt Konstanz in Bezug auf die Kooperationen mit afrikanischen Ländern. Aus der anfänglichen Entrüstung entwickelte sich in den vergangenen zehn Jahren eine unterstützende Haltung.
1Nix, Christoph: „Theater und Demokratie“, in: Nix, Christoph/Bruder, David/Fischer, Veronika/Grünauer, Daniel (Hg.): Theater_Stadt_Politik. Berlin 2019, S. 14.
2Lünstroth, Michael: „Zweimal Afrika und zurück“, in: Südkurier, 06.07.2010, S. 21.
3vgl. Nkwabi Elias Ng’hangasamala in diesem Band
4vgl. Christoph Nix in diesem Band
5von Wietersheim, Erika: „Im Theater erhänge ich ihn!“ in: Neue Zürcher Zeitung, 11.11.2002.