Theater der Zeit

Anzeige

Auftritt

Schauspiel Leipzig: Cringe of Hinge

„Ich denk schon wieder (nur an dich) “ mit Texten von Liv Strömquist, Ada Berger, Ellen Neuser und Ensemble (UA) – Regie Ellen Neuser, Bühne und Kostüme Ragna Hemmersbach, Dramaturgie Julia Buchberger

von Lina Wölfel

Assoziationen: Theaterkritiken Sachsen Ada Berger Liv Strömquist Ellen Neuser Schauspiel Leipzig

Es beginnt mit der Suche nach etwas ganz Großem und dann? „Ich denk schon wieder (nur an dich)“ am Schauspiel Leipzig beschäftigt sich mit Facetten von Dating und Liebe.
Es beginnt mit der Suche nach etwas ganz Großem und dann? „Ich denk schon wieder (nur an dich)“ am Schauspiel Leipzig beschäftigt sich mit Facetten von Dating und Liebe.Foto: Rolf Arnold

Anzeige

Anzeige

Anzeige

Wer sich in den letzten Jahren auf Dating-Apps wie Hinge, Bumble, Tinder und Co herumgetrieben hat, weiß genau, dass die Plattformen eher Kuriositätenkabinetten auf Jahrmärkten gleichen, denn ernstzunehmenden Orten, um die große Liebe zu finden. Ghosting (der abrupte, vollständige Abbruch des Kontaktes durch eine Seite ohne Warnung oder Erklärung), Love Bombing (Dating-Methode, die häufig mit psychischer Manipulation einhergeht und zu emotionalem Missbrauch führen kann), Stalking, Slutshaming (eine Person – meist Frauen und Mädchen – aufgrund ihres sexuellen Verhaltens/ihrer Verfügbarkeit zu schikanieren oder zu beschämen) und Gaslighting (psychische Manipulation, mit der Opfer gezielt desorientiert, verunsichert und in ihrem Realitäts- und Selbstbewusstsein beeinträchtigt werden) sind zwar keine neuen Phänomene, werden von der unverbindlichen, anonymen und artifiziellen Umgebung von Dating-Apps aber angefeuert. Ungefragte Bilder von Genitalien im Chat, mehrere Tage Antwortzeit, plötzlich aufgelöste Matches, „Like: wenn er größer ist, Pistazien-Croissant, feminismus. Dislike: nazis, boulder-boys, mansplaining“, situationships und „looking for some kind of girlfriend for 24h thing“ (soll heißen: maximaler Comfort, minimales commitment) sind längst der Status quo. Da fragt man sich doch: wonach suchen wir heute eigentlich? Wie stellen wir uns Liebe und Beziehungen vor? Und worauf hoffen wir, wenn wir ganz ehrlich zu uns sind?

Ellen Neuser hat sich für „Ich denk schon wieder (nur an dich)“ gemeinsam mit ihrem Ensemble sowie Texten von Liv Strömquist und Ada Berger auf die Suche nach Antworten auf diese Fragen begeben. Auf und um einen Bauwagen auf dem Gelände der Interimsspielstätte „ag(o)ra“ des Schauspiels Leipzig montiert und demontiert sich ein Tableau-vivant-artiges Mosaik der modernen Liebe. Da gibt es den Tunnel of Delulu (von engl. „delusional“ – Adjektiv für, unrealistische oder übertriebene Vorstellungen von etwas), zwei riesige Eisenketten aus pinkem Kissenstoff, zwei große Pop-Art-Münder, die durch einen Tunnel verbunden sind und generell viel Glitzer, Schleifen, Rosen und Herzen (Bühne und Kostüme Ragna Hemmersbach). Ein Jahrmarkt-Attraktion eben, eine rot-pinke Entsprechung der Geisterbahnen und Fun-Häuser wie es sie zum Beispiel auf dem Wiener Prater noch gibt. Aber endlich: Die Schausteller:innen treten auf, es geht los mit der Shitshow.

Da ist Christoph Müller mit einer opulenten Halskrause, kleinem schief sitzenden Krönchen und bestrasster Clownshose. Er hält ein riesiges Märchenbuch in der Hand. Er liest den Mythos der Kugelmenschen, die von Zeus auseinandergeschnitten wurden und seitdem ständig irrend nach ihrer zweiten, verlorenen Hälfte suchen. Bruch. Ellen Neuser, die zur Premiere für die erkrankte Paula Winteler einspringt, tritt auf, sie hat keinen Bock mehr auf Dating. Kurz glaubt sie in Samuel Sandriesser, der mit One-Night-Stands final abgeschlossen, hat ihr perfektes Match gefunden zu haben, doch sie ist ihm nicht „klebrig“ genug – was stellvertretend für die Absurdität des Begründungsspektrums für „ich geb dir einen Korb“ auf Dating-Apps steht. Schon taucht Paulina Bittner auf, ein Fitnessgirl, die jemanden zum gemeinsamen Schweigen nach dem Sport sucht, auch kein Match. Das gleiche mit dem Core-Material-Girl Emmeline Puntsch, die jemanden für gemeinsame Reisen sucht. Das „Ja-Aber“-Rad dreht sich kontinuierlich. Die Suche nach dem Herzblatt kann nur scheitern. Bruch. Vergleiche zwischen Euripides’ „Medea“ – oder vielmehr ihrem untreuen Gemahl Iason – und Peter Maffay, der dafür bekannt ist, sich stetig jünger werdende Frauen zu suchen. Bruch. Müller schreitet von der nebeldurchzogenen Wiese um den Bauwagen heran und liest einen Liebesbrief. Bruch. Wir springen auf eine Hochzeit, in der nicht nur zwei Liebende vermählt werden, sondern gleichsam die Berechtigung des Konstruktes Ehe hinterfragt wird. Da wird bei der Steinzeit begonnen, über das Eherechtsmonopol gelangen wir zur Liebeshochzeit und schließlich werden die beiden Angetrauten mittels pinker Plüsch-Kerkerkette zu Frau und Mann verklärt – sie dürfen sich nun unterdrücken. Bruch. Wir gelangen zur scheinbar perfekten Familie, in der die Mutter selbstverständlich emotional, der Vater sich selbst genug und die Kinder traditionellen Geschlechterbildern entsprechend sozialisiert sind. Neuser rollt von der Seite auf einem Gartenbaugerät an und referiert darüber, was ein echter Mann sei, dann kommt der obligatorische Monolog zur Care-Arbeit bevor wir wieder weiterspringen. Zu Goethe, Shakespeare, Körpergrößen als Killerkriterium auf Dating-Apps, toxischen Vorbildern und koabhängigen Beziehungen wie jene von Whitney Houston und Bobby Brown, zu Lilith, der ersten Frau, und schließlich ABBA.

Das Ganze macht zweifelsohne Spaß. Sicherlich, weil die einzelnen Szenenfragmente bestätigen, was die älteren Generationen eh schon immer über „dieses moderne Dating“ und die Generation Beziehungsunfähig zu wissen gemeint hat und die jüngeren geradezu danach lechzen, sich darüber lustig machen zu können. Lachen stellt eben auch einen bedeutenden Resilienzfaktor dar. Definitiv, weil sich das gesamte Ensemble mit größter Leidenschaft und Energie in die Figuren wirft. Wie Ellen Neuser Peter Maffay mimt, ist einfach nur fantastisch, Christoph Müller besticht – wie eigentlich immer – durch eine kaum zu spielende, subtile Situationskomik, die den wichtigen Momenten durch ihre Abstinenz die nötige Ernsthaftigkeit einhaucht. Emmeline Putschs, Paulina Bittners und Samuel Sandriessers furienhafte Gestalten bringen einen notwendigen Moment der Ernsthaftigkeit in den Abend.

Sommertheater darf und soll vor allem Spaß machen. Das gelingt dem Abend hervorragend und geht als szenisches Bild vollkommen auf. Mehr aber nicht. Dafür huscht die Inszenierung zu schnell von Szenario zu Szenario. Bleibt zu sehr an der Oberfläche. Gibt starken Bildern und Texten, die zum eigenständigen Nachdenken über die darin enthaltenen Rollenbilder und Liebessujets zu wenig Zeit sich zu entfalten. Auch bleibt der Abend stark bei Thesen, die vor allem auf cis-hetero-normatives Dating zutreffen. Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit alternativen Beziehungsformen sowie intersektionale Verschränkungen sucht man vergebens.

Wobei, ganz am Ende schimmern sie kurz durch. Wir kehren zurück zu den Kugelmenschen, die es aufgegeben haben, sich von Zeus vorschreiben zu lassen, sie müssten die eine perfekte andere Hälfte finden. Sie halten sich an den Händen und bilden eine Kette. Kitschig ja, aber so lässt sich nicht nur der Dating-Wahnsinn überleben, sondern auch toxische Beziehungen, Trennungen, Ghosting und alle anderen Facetten, die an dem Abend durchschienen. „Manchmal spielt es keine Rolle, wie sehr man an jemanden denkt, es geht trotzdem den Bach runter, aber manchmal macht es den größten Unterschied der Welt aus.“ Also: an wen denken wir da? Bei wem wollen wir, dass es einen Unterschied macht?

Erschienen am 27.6.2025

teilen:

Assoziationen

Neuerscheinungen im Verlag

Cover Offen! internationals figurentheater