Bericht
Die Zukunft nebenan
Das Festival Nebenan/Zblízka in Hellerau präsentiert die unabhängige Theaterszene der Slowakei – die Auftakttage sind geprägt von gemeinsamer Reflexion über Vergangenes und Kommendes
von Hannah Helbig
Assoziationen: Sachsen Europa Dossier: Labor Kulturjournalismus Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste
![Kritische Rückschau, Verstrickt-Sein in den Verhältnissen: Wie ein rosafarbener Faden zieht sich das Motiv der Zeitlichkeit durchs Festival. Hier: „IHOPEIWILL“ von threeiscompany in Zusammenarbeit mit Jaro Viňarský.. Foto Vojtěch Brtnický](/_next/image?url=%2Fapi%2Ffiles%2F8eb739df-091f-4b72-a2b3-811d0a71ad36%2FLABORKULTURJOURNALISMUS%20LABORKULTURJOURNALISMUS%20(1600%20x%201080%20px)%20(1).png&w=3840&q=75)
Bereits mit dem Eintreten beginnt die Performance: Zwei beige-weiß gekleidete Personen stehen mit dem Rücken zu den großen Glastüren an der gegenüberliegenden Wand. Ihre Kostüme passen zu dem hellen Theaterfoyer des Festspielhauses Hellerau. Nacheinander gehen sie langsam, fast stolpernd ein paar Schritte rückwärts. Schließlich fallen sie, wie von einer unsichtbaren Kraft gestoßen, zu Boden. Sie rappeln sich wieder auf, gehen erneut auf die Wand zu. Und das Spiel wiederholt sich.
Wie ein rosafarbener Faden spinnt sich das Motiv der Zeitlichkeit durch die Auftakttage des Festivals Nebenan/Zblízka. Die Frage nach der Zukunft und die Rückschau auf die Vergangenheit in den künstlerischen Beiträgen mischt sich mit einer Analyse der Gegenwart im Diskursprogramm. Im Sinne der titelgebenden Nachbarschaftlichkeit widmet sich die Nebenan-Festivalreihe des Dresdner Produktionshauses Hellerau jedes Jahr der freien Kunstszene eines osteuropäischen Landes. Fokus liegt auf Staaten, in denen Künstler:innen aufgrund der politischen Lage unter schwierigen Bedingungen arbeiten. Die diesjährige vierte Ausgabe beschäftigt sich mit der unabhängigen Theaterszene der Slowakei.
Das Festival startet mit einem Auftaktpanel, in dem Akteur:innen der slowakischen Kunstszene über die aktuelle kulturpolitische Lage diskutieren. Seit 2023 wird die Slowakei von einer populistischen Koalition unter Ministerpräsident Robert Fico mit einer ultrarechten Kulturministerin, Martina Šimkovičová, regiert. Seither wurden Leitungspersonen von Kulturinstitutionen entlassen, Ämter neu besetzt und Hetzkampagnen gegen nonkonforme Künstler:innen gestartet. Fördergelder werden eingestellt oder umverteilt und (allen voran queere) Projekte, die nicht der ideologischen Ausrichtung der Regierung entsprechen, werden nicht mehr unterstützt. Düster sieht es aus, aber einen Hoffnungsschimmer beschreibt Panel-Teilnehmerin Lucia Kašiarová in der solidarischen Vernetzung der Akteur:innen vor Ort. Seit dem letzten Jahr gab es zahlreiche Kulturstreiks und Proteste von Kunstschaffenden.
Um das Phänomen des Aufstands geht es auch im Eröffnungsstück „Po víťazstve (It All Started with a Winner)“ von Kašiarovás Tanzstudio. Angesiedelt in einer leeren, weißen Bühne, auf der sich als einziges Element eine kleine Treppe befindet, thematisiert die Inszenierung politische Kämpfe im Laufe der Jahrzehnte. Während die sechs Tänzer:innen sich auf der Bühne in immer neuen Formationen um die Vorherrschaft streiten (wer darf oben auf dem Treppchen stehen? Kann man eine Treppe so drehen, dass sie eine Gerade bildet?), schafft die Projektionsfläche im Hintergrund eine zweite Ebene. Im Stil von Bleistiftanimationen flackern mal Menschenmengen aus unzähligen Gesichtern, mal eine einzige Figur über die Leinwand. Wie vorherige Generationen und unbekannte Geschichten tauchen sie auf, ziehen den Blick der Zuschauer:innen in ihren Bann, bis dieser sich wieder den Live-Geschehnissen auf der Bühne zuwendet. „Time – is – progress“, sagen die Tänzer:innen erst im Chor und dann durcheinander, beginnen in der Wiederholung zu stottern, den Satz zu zerstückeln, zu dekonstruieren. Im Hintergrund dreht sich dabei ein gezeichneter Kreis um die eigene Achse. Der „progress“ geht nicht nur in eine Richtung, Geschichte wiederholt sich.
Das zweite große Tanzstück der ersten beiden Festivaltage heißt „IHOPEIWILL“ und richtet den Blick in die ungewisse Zukunft. Eine Videoinstallation, in der Menschen verschiedenster Hintergründe ihre Ängste, Wünsche und Sehnsüchte teilen, wird der Inszenierung im Nachbarraum vorangestellt. In der Aufführung selbst befindet sich Performerin Soňa Ferienčíková, die am Abend zuvor auch auf dem Podium saß, in einer von Zuschauer:innen umrahmten Arena. An vier Eckpunkten steht je ein mit Wasser gefüllter Tank, der als Gewicht fungiert für eine von der Decke hängende Seilkonstruktion. An den Seilen sind Karabinerhaken befestigt und von einem dieser Haken führt ein rosafarbenes Band zu Ferienčíkovás Oberkörper, der von dem restlichen Band eng umwickelt ist. Eingeschnürt steht sie da und macht sich an die Aufgabe, sich zu entwickeln. Mit entschlossenem Blick visiert sie stets den nächsten Karabinerhaken an und bewegt sich darauf zu. Dabei kämpft sie gegen den Zug des Seils an und spannt durch das Abwickeln desselben ein Netz durch den Raum, das ihr selbst wieder zum Hindernis wird. Der Einfall ist simpel wie wirkungsvoll, konsequent entfaltet sich dieses Bild im Laufe des Abends. Die Widerstände des Raumes verleihen den Bewegungen der Tänzerin eine eigene Qualität: Zuweilen scheint es, als wären ihre Pirouetten reiner Zwang, als müsste sie sich auf diese Weise drehen – um voranzukommen, aber nicht, um ein Publikum zu erfreuen. Die Zuschauer:innen werden zu Zeug:innen ihres Kampfes. Immer wieder nimmt die Performerin Blickkontakt mit Herumsitzenden auf, lächelt vorsichtig, bevor sie sich weiter ihrer Aufgabe zuwendet. Ferienčíková spielt hier keine Figur, bringt sich aber gestisch wie mimisch, mit gerunzelter Stirn und verzweifeltem Blick, in einen Zustand emotionaler Erregtheit. Von der Musik wird dieses Gefühl noch unterstützt. Ferienčíková will berühren und tut es auch, aber dieses Ansinnen ihrer Emotionalität wirkt manchmal erzwungen.
Ganz anders funktioniert die Performance „All you can eat“. Hier steckt die Performerin Eva Vozárová in einer schräg aufgestellten Leinwand-Konstruktion, aus der nur ihr Kopf herausschaut. Dieser spricht vor einer schnell wechselnden Bilderflut in grell-projizierten Farben über die neuronalen Abläufe von (Konsum-)Entscheidungen und die Millionen Eindrücke, die das menschliche Gehirn jeden Tag verarbeitet. Diese Figur hat keine persönlichen Verstrickungen mit der Außenwelt, keine Visionen für die Zukunft. Ein bisschen wünscht man sich Ferienčíkovás Leidenschaft zurück. Erst als am Ende zwischen den vielen Bildern auch Trump, Putin und Zuckerberg auftauchen, erhält der Satz „I have no doubt that my brain is a programmable machine“ eine politische Bedeutung.
Ambivalenter und dadurch interessanter ist die Performance „TANKODRÓM: Site of rifts & tank drifts“ von Marková & Ruther. Anstatt auf die hochtechnisierte Zukunft zu schauen, verfolgt sie Spuren der Vergangenheit: Mithilfe von Videoaufnahmen erkundet das Stück das ehemalige tschechoslowakische Panzer-Trainingsgelände Tankodróm. Dabei geht es weniger um eine Rekonstruktion des historischen Ortes als vielmehr um eine Suche nach dem Abseitigen im Jetzt. Eine Soundscape aus Feldaufnahmen und live produzierten Klängen kreiert eine geisterhafte Atmosphäre, zweimal wird Kunstnebel eingesetzt. Gebrochen wird diese Immersion durch performative Elemente: Marlene Ruther bewegt sich in einem absurden Outfit aus Wintermütze, Sonnenbrille und Lichterkette durch den Raum, spielt Luft-Schlagzeug mit auf der Bühne liegenden Knochen. Wo kommen diese Dinge her? Sind es Fundstücke aus Tankodróm? Der Text, den Katarína Marková spricht, verrät nicht viel, ist aber gewitzt und voller Dialektik: Tankodróm sei ein „inszenierter Platz für Panzer ohne Panzer“, ein „öffentlicher Raum ohne öffentliche Beleuchtung“. Das Stück endet mit der Aufnahme einer Familie, die auf dem verschneiten Trainingsgelände Schlitten fährt. Dabei füllt Volksmusik den Raum und Marková spielt Mundharmonika. Die Musik wird lauter und das Spielen immer angestrengter, dann gehen Licht und Video aus. Das private Glück der Kleinfamilie bei dröhnender Volksmusik erinnert an das, was auf dem Auftaktplenum über die Kulturministerin Šimkovičová gesagt wurde. Ihre Vision für die Kunstszene ist ein gefälliges Programm aus Folklore, Musical und Unterhaltung. Eine so ambigue Arbeit wie „TANKODRÓM“ hätte in dieser Welt keinen Platz. Das Nebenan/Zblízka-Festival verweist auf alternative Zukunftsentwürfe, in den ästhetischen Arbeiten ebenso wie im gemeinsamen Austausch. Und so wurden an diesen Tagen in Hellerau nicht nur Bänder durch den Raum gespannt, sondern auch Banden gebildet – mit Akteur:innen einer Kunstszene, für die das überlebenswichtig sein kann.
Das „Labor Kulturjournalismus“ ist eine Kooperation zwischen der „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“, initiiert vom Bündnis internationaler Produktionshäuser, Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste in Dresden und Theater der Zeit.
Die 2019 gegründete „Akademie für zeitgenössischen Theaterjournalismus“ hat zum Ziel, Theaterjournalismus im deutschsprachigen Raum zu stärken – in der Überzeugung, dass ein öffentlicher Diskurs über Theater, Tanz und Performance wichtig für Kunst und Gesellschaft ist.
Die Akademie versteht sich als Möglichkeitsraum, in dem journalistische Praxen gegenstandsgerecht gedacht, erprobt und zur Diskussion gestellt werden können. Im Rahmen einer neuen Kooperation entwickeln die Teilnehmenden des fünften Akademiejahrgangs Texte und Videos, die das Verständnis von Kulturjournalismus und Theaterkritik herausfordern und erweitern. Das Labor ermöglicht neue Formate, Schreibstile und Textformen.
Weitere Texte und Videos aus dem „Labor Kulturjournalismus“ gibt’s hier auf der Website und auf unserem Instagram-Kanal @theaterderzeit.
Verantwortlich Theater der Zeit: Lina Wölfel und Nathalie Eckstein
Verantwortlich Akademie für zeigenössischen Theaterjournalismus: Esther Boldt und Philipp Schulte
Erschienen am 10.2.2025