Theater der Zeit

Thema: Postdramatisches Theater

Debatte und Kritik

Zwanzig Jahre „Postdramatisches Theater“ von Hans-Thies Lehmann

von Jakob Hayner

Erschienen in: Theater der Zeit: Subversive Affirmation – Performances von Julian Hetzel (01/2020)

Assoziationen: Wissenschaft Akteure

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Erfolgreiche Bücher haben es an sich, dass sich ihre zentralen Thesen oder Erkenntnisse als Schlagworte verselbstständigen. So ist es zweifelsohne auch Hans-Thies Lehmanns Studie mit dem Titel „Postdramatisches Theater“ ergangen, die 1999 im Verlag der Autoren erschienen ist. Nun, zwanzig Jahre später, macht es jedoch den Eindruck, als würde das Postdramatische nur noch als Schlagwort verwendet. Jeder benutzt es, kaum jemand weiß, ­wofür eigentlich. Zeit für einen Rückblick – und einen Ausblick.

Lehmanns „Postdramatisches Theater“ war seinerzeit selbst ein Rückblick – auf eine Entwicklung der Inszenierungsmittel seit den sechziger Jahren. Er stellte anhand von Beispielen wie Robert Wilson, Jan Fabre und Heiner Müller fest, dass es zu einer Verselbständigung der Kunstmittel im Theater gekommen sei, eine These, die sich durchaus in der Folge von Adornos Formulierung von der „Verfransung der Künste“ verstehen lässt. Diese „geschichtliche Bewegung des europäischen Theaters“ wollte Lehmann keineswegs so verstanden wissen, dass dies eine Norm sei, wie Theater zu machen sei. Im Gegenteil: Sein Buch ist voll von expliziten Hinweisen, dass ein postdramatisches Theater jenseits des dramatischen überhaupt nicht zu denken sei – und eine solche Perspektive auch nicht erstrebenswert wäre. Lehmanns Selbstbeschreibung war die einer „analytischen Deskription“. Er sah das Drama aus seiner inneren Logik heraus zerfallen. Er war freilich nicht der Erste, der eine solche Krise des Dramas beschrieb. Peter Szondi hatte in seiner „Theorie des modernen Dramas“ aufgezeigt, wie das bürgerliche Drama an seine historischen und damit auch ästhetischen Grenzen kommt. Womit die Notwendigkeit einer Neufundierung des Dramatischen ge­geben war. Der wirkmächtigste und weitreichendste Vorschlag in dieser Hinsicht ist jene Dramaturgie, die mit dem Namen Brecht verbunden ist. Dem Theater Brechts ist Lehmann immer verbunden gewesen. Und dass er sein Buch „Das Politische Schreiben“ (Theater der Zeit, 2002) als gleichberechtigt neben „Postdramatisches Theater“ ansah, zeigt sein Anliegen, den Begriff des politischen Theaters zu erweitern. Er setzte sich ab von einem auch in den Theaterwissenschaften weit verbreiteten Verständnis, das nur auf den Inhalt, nicht aber auf die Form und die Wirkungen blicken wollte.

Doch wie konnte es geschehen, dass das postdramatische Theater heute als Synonym für „fortschrittliches Theater“ oder „Performance“ gilt? Als ein Schlagwort, das Diskussionen eher beendet als eröffnet? Das hat vor allem mit der Wirkungsgeschichte von Erika Fischer-Lichtes 2004 erschienener „Ästhetik des Performativen“ zu tun, auf die Lehmann in dem 2005 verfassten Vorwort zur dritten Auflage von „Postdramatisches Theater“ schon Bezug nimmt. Bei Fischer-Lichte geht es weitaus weniger um ­Beschreibung als vielmehr um die Formulierung einer neuen Dramaturgie, die der Brecht’schen entgegengesetzt ist. „Die Wiederverzauberung der Welt“, so auch der Titel des abschließenden Kapitels, ist das Ziel ihrer Ästhetik. Sie propagiert die Verschmelzung von Kunst und Leben, den „Verzicht auf Verstehensleistungen“ und das „Geheimnis der Unverfügbarkeit“. In ihrem kruden Kunstmystizismus erweitert sie den Inszenierungsbegriff weit über das Theater hinaus – als ästhetische Verwandlung der Welt. Diese Verkehrung der Gesellschaft zum Spektakel ist das Zentrum der „Ästhetik des Performativen“. Die postmoderne Behauptung, dass es nur Zeichen von Zeichen gibt, kippt dann in eine neue Unmittelbarkeit. Eine Selbstverletzungsperformance von Marina Abramović wird Fischer-Lichte zum Paradigma der Ästhetik des Performativen, die beschworene Einheit von Kunst und Leben lässt sich nur mit Gewalt herstellen. Fischer-Lichtes neuromantische Programmatik hat bis heute verdeckt, dass Lehmanns Befund vom postdramatischen Theater durchaus andere Interpretationen nicht nur zulässt, sondern geradezu erfordert. Wenn man zwanzig Jahre nach dem Erscheinen von „Postdramatisches Theater“ diesen Befund erörtert, sollte man nicht vorschnell zur Kanonisierung schreiten, sondern gerade die Kritik nicht unterschlagen – von ­Birgit Haas’ „Plädoyer für ein dramatisches Drama“ bis zu Bernd Stegemanns „Kritik des Theaters“. Eine der ersten Fragen zum postdramatischen Theater heute ist, ob es die bestehenden Verhältnisse nur widerspiegelt oder auch über sie hinausgeht. Ob also das postdramatische Theater das letzte Wort der Geschichte ist oder nicht eher der Befund einer Krise, die ein neues Denken verlangt.

Zwanzig Jahre „Postdramatisches Theater“ bedeutet nicht, mit dem Gegenstand abzuschließen. Er muss überhaupt erst wieder aufgeschlossen werden. So wurde kürzlich die Debatte geführt, ob die Gattungsfrage für Theatertexte eigentlich unerheblich sei. Text ist Text. Doch so einfach ist es nicht. Verschiedene Anlässe erfordern eine je für diesen Anlass geeignete Sprache, die verschiedene Wirkungen hat. Das sind die Maßgaben der Kunst. Wer alles nur zu einem erklärt, gerät in Gefahr, es mit den Menschen und ihrer Individualität oder mit politischen Fragen ähnlich zu halten – die spezifische Differenz, um die es geht, verschwindet. Lehmanns „Postdramatisches Theater“ war und ist ein unabgeschlossener Befund. Der eine anhaltende kritische Diskussion nicht nur verdient hat, sondern auch erfordert. //

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