Theater der Zeit

Auftritt

Staatstheater Dresden: Leg mich nicht fest

„Toto oder vielen Dank für das Leben“ von Sibylle Berg – Regie Sophie Y. Albrecht, Bühne Pauline Malack, Kostüme Chiara Schmidt, Musik Michael Mühlhaus

von Lara Wenzel

Assoziationen: Sachsen Theaterkritiken Sibylle Berg Staatsschauspiel Dresden

Alexander Diosegi, Josephine Tancke, Raiko Küster und Betty Freudenberg in „Toto oder vielen Dank für das Leben“ am Staatstheater Dresden. Foto Sebastian Hoppe
Alexander Diosegi, Josephine Tancke, Raiko Küster und Betty Freudenberg in „Toto oder vielen Dank für das Leben“ am Staatstheater DresdenFoto: Sebastian Hoppe

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Toto ist ein Nichts. Dieses pathologisierende Urteil wird zu Geburt über das Kind gefällt, weil es keine klar zuordenbaren Geschlechtsmerkmale hat. Nur per Sprechakt und einem hellblauen T-Shirt wird die intergeschlechtliche Person zum Mann gemacht. Gegen eine vereindeutigende Operation wehrt sich die Mutter. Warum auch? Dem Kind fehlt ja nichts. An einem Gerüst hangelt sich Schauspielerin Josephine Tancke ins Leben und wird von außen zum Problemkind gemacht. Dabei ist Toto mit seiner lebensbejahenden Art der einzige Lichtblick in dieser beige-grauen DDR-Interpretation. Mit Leo-Leggings und Socken in trans-Farben unterscheidet sich das Kind von den überzeichneten Typen in Reifröcken und Beamten-Chic, die von Chiara Schmidt entworfen wurden. Sie bilden die Kulisse vom sozialistischen LPG-Kuhstall bis zur kapitalistischen Reeperbahn-Kneipe für ein ungewöhnliches Leben voller Lust am Uneindeutigen.

Sibylle Bergs Stück „Toto oder vielen Dank für das Leben“ nach ihrem gleichnamigen Roman strotzt vor grausig überzeichneten Begebenheiten und zynischen Kommentaren. Toto bildet durch Tanckes unaufgeregtes, einfühlsames Spiel den nötigen Gegenpol dazu. Egal, welch groteske Gewalt Toto wegen seiner Intergeschlechtlichkeit erfährt, es bleibt Hoffnung, die der Sänger in Lieder verwandelt. Mit schiefem Lächeln singt Toto erst vor Kühen, dann vor dem Rotlicht-Publikum über die Schönheit des Lebens und das immer ganz laut, um die eigene Unsicherheit zu übertönen.

Um die Purheit Tanckes scheinen zu lassen, braucht es das überzeichnete Spiel von Alexander Diosegi, Betty Freudenberg und Raiko Küster, die sich als Hebamme, Mutter oder Heimkind zu Menschengrimassen formen. Auf der kleinsten Bühne des Staatsschauspiel Dresdens gelingt es Regisseurin Sophie Y. Albrecht, einen eigenen Kosmos zu kreieren, der vage an unsere Realität erinnert. Während die Figur in Konfrontation mit ihrer Umwelt, dem bröckelnden sozialistischen Kollektiv und der kapitalistischen Wachstumslogik mit ihren je eigenen Ansprüchen an Selbstidentität, ein spannendes politisches Feld eröffnet, stören die politischen Metakommentare.

Im lakonischen Stil von Berg wird der Untergang der DDR und wachsende kapitalistische Gier in provokanten Sätzen abgefrühstückt. Die Zuspitzungen verstellen die tatsächlichen Zusammenhänge vielmehr, als dass sie auf sie zielen. So heißt es an einer Stelle, der Kapitalismus füttere den Menschen Zucker, „denn dicke Menschen sind schlechte Revolutionäre“. Nicht nur schwingt darin mit, dass das System bewusste Zwecke verfolge, sondern auch Klassismus und Fettfeindlichkeit. Für solche Kurzschlüsse hat Amadeo Bordiga, der Gründer der italienischen kommunistischen Partei und Lasagne-Liebhaber, nicht gekämpft.

Ohne diese plumpen Sprüche hätte die Geschichte Totos, die als Erwachsene doch Östrogen bekommt und ohne klare Zustimmung zur Frau ‚vereindeutigt‘ wird, größere politische Schlagkraft entfaltet. Intergeschlechtliche Personen und die medizinischen Übergriffe, die sie häufig erleben, bleiben eine unsichtbare Realität, die die vermeintlich binäre natürliche Ordnung der Geschlechter infrage stellt. Häufig werden ihre Erfahrungen mit non-binären oder trans Personen in einen Topf geworfen – diesem Trugschluss sitzt auch die Inszenierung stellenweise auf, wenn sie die Hauptfigur mit der trans Sängerin Anohni assoziiert. Dabei bezieht sich Inter- oder Zwischengeschlechtlichkeit nicht auf die sozial produzierte Geschlechtsidentität, sondern auf das biologische Geschlecht, das sich eben nicht so binär aufteilen lässt, wie es die medizinische Norm verlangt. Trotz dieser Schieflagen liefert die Produktion eine berührende Geschichte gegen die Angst vor dem Nicht-Identischen, die allerorts um sich schlägt.

Erschienen am 19.12.2025

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