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kirschs kontexte: Mittel ohne Zweck oder Für die Götter übersetzen
von Sebastian Kirsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Die Menschenbaustelle – Bühnenexperimente am Bauhaus Dessau (02/2014)
Eine Geste, die zwar mit akribischer Präzision ausgeführt (oder auch nur beschrieben) wird, der aber zugleich ein Bezugssystem fehlt, wirkt gleichermaßen beunruhigend wie komisch – jeder, der schon einmal in Kafkas Romanen und Erzählungen gelesen hat, weiß um diesen Effekt. Dass aber die Verstörungskraft wie die Komik der Geste sich noch einmal erheblich steigern können, wenn der Bezugsrahmen zunächst noch intakt scheint und erst nachträglich weggesprengt wird, das hat bislang wohl kaum jemand so überzeugend demonstriert wie der Südafrikaner Thamsanqa Jantjie. Zur Erinnerung: Es handelt sich um den Gebärdensprachdolmetscher, der die Trauerreden der Begräbnisfeier für Nelson Mandela am 10. Dezember 2013 übertragen sollte und dabei bzw. danach weltweit für Furore sorgte: Denn vier Stunden lang führte Jantjie mit stoischer Gelassenheit vor den Kameraaugen der Welt, direkt neben Barack Obama, UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und dem südafrikanischen Staatschef Jacob Zuma, ein Gestenballett auf, das absolut nichts mit Gehörlosensprache zu tun hatte – ein Umstand, der freilich erst hinterher allgemein bekannt wurde. Und weder die nachträglichen Rahmungsversuche der südafrikanischen Vizeministerin, die in offenbarer Spekulation auf die weltweite Unkenntnis Afrikas behauptete, Jantjie habe in einen „afrikanischen Gehörlosendialekt“ übersetzt, noch Jantjies eigene Erklärung, er habe einen schizophrenen Anfall gehabt, konnten die Verstörung mildern, die von...