Magazin
Biene Müller
Heiner Müller: „Für alle reicht es nicht“. Texte zum Kapitalismus. Hrsg. v. Helen Müller und Clemens Pornschlegel in Zusammenarbeit mit Brigitte Maria Mayer. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 400 S., 16 E
von Erik Zielke
Erschienen in: Theater der Zeit: Götterdämmerung – Polen und der Kampf um die Theater (10/2017)
Assoziationen: Wissenschaft Buchrezensionen
„Heiner Müller ist ein marxistisch denkender Dramatiker und Dichter, kein Theoretiker“, lassen die beiden Münchner Germanisten Helen Müller und Clemens Pornschlegel ihre Leser im Nachwort zu der von ihnen besorgten Zitat- und Gedankensammlung wissen, die Heiner Müllers Werk auf Aussagen zum Kapitalismus abklopft. Tatsächlich steht nicht die Theorie im Mittelpunkt der im Suhrkamp Verlag unter dem Titel „‚Für alle reicht es nicht‘. Texte zum Kapitalismus“ erschienenen Anthologie, doch auch von Dramatik und großer Dichtkunst bleibt nur ein Rest zurück. Hier stehen Gesprächsfetzen neben Stückauszügen, Verse neben biografischen Notizen. Eingeteilt in fünf Kapitel zu den Themen „Kapitalismus und Kapitalismuskritik“, „Ekel“, „Sprache“, „Religion“ und „Krieg“, darin wiederum streng chronologisch geordnet. Jedes Kapitel wird umfassend von den Herausgebern eingeleitet, aber der Leser bleibt letztlich sich selbst überlassen und dem Stückwerk ausgeliefert. Dass im Titel des ersten Kapitels von Kapitalismuskritik, nicht von Antikapitalismus – oder gar Sozialismus – die Rede ist, dass der Komplex Revolution kein eigenes Kapitel zugeschrieben bekommen hat und dass schließlich der Abschnitt zu dem Bereich „Religion“, in Erinnerung an einen längst vergessenen Scheinwiderspruch, die meisten Seiten einnimmt, sagt viel über das Buch aus.
Natürlich werden Müllers unglaubliche Sprachmacht, sein Witz und seine ungewöhnliche Fähigkeit zum analytischen Denken und Querdenken in den Texten mehr als deutlich erkennbar. Die Lektüre ist oft genug ein Vergnügen, auf erkenntnisfördernde Art erschütternd und offenbart Müllers Scharfsinn und seine Weitsicht. Aber die Beschneidung der Texte bis zur Unkenntlichkeit der Gattung und die Lust der Herausgeber am Fragmentarischen bereitet mitunter Kopfzerbrechen. Wer soll auf fünf Zeilen reduzierte Interviews lesen? Wer soll überhaupt als Publikum für das Buch herhalten? Der Kenner des Müller’schen Schaffens wird schnell zu der gut edierten Werkausgabe greifen, denn die Hoffnung auf gänzlich neue Entdeckungen in diesem Band wird bald enttäuscht. Lediglich ein unveröffentlichter Text, ein Fundstück aus dem Archiv, „Hohlkörper Biene Maja“ überschrieben, hat es in das Buch geschafft. Für jemanden, der sich erst mit Müllers Werk vertraut machen will, ist die Zusammenstellung wohl zu voraussetzungsreich. Ob der marxistische Dramatiker und Dichter den Nachgeborenen, einem neuen Publikum, so näher gebracht werden kann, darf also zumindest bezweifelt werden. Vielleicht ist es doch an den Theatern, dafür Sorge zu tragen. //