Theater der Zeit

Auftritt

Berliner Ensemble: Dazwischen

„Gittersee“ von Charlotte Gneuß in einer Fassung von Leonie Rebentisch – Regie Leonie Rebentisch, Bühne Sabine Mäder, Kostüme Luisa Wandschneider, Musik Fabian Kuss

von Nathalie Eckstein

Assoziationen: Theaterkritiken Berlin Dossier: Post-Ost(deutsch) Leonie Rebentisch Berliner Ensemble

Neue Impulse in der post-ostdeutschen Debatte: „Gittersee“ von Charlotte Gneuß in einer Fassung von Leonie Rebentisch am Berliner Ensemble.
Neue Impulse in der post-ostdeutschen Debatte: „Gittersee“ von Charlotte Gneuß in einer Fassung von Leonie Rebentisch am Berliner Ensemble.Foto: Moritz Haase

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„Und du darfst auch nie vergessen, dass du meine kleine Komma bist und dass ich dich über alles liebe“, das sagt Paul zu Karin, bevor er mit seinem Freund Rühle auf der Schwalbe davonfährt. Karin, die Protagonistin aus „Gittersee“, bleibt 1976 allein zurück, im gleichnamigen Dresdner Vorort – denn Paul wird nicht wiederkommen. Er hat rübergemacht. In Leonie Rebentischs Adaption des 2023 erschienen Debütroman von Charlotte Gneuß – besprochen in allen Feuilletons des Landes, auch verbunden mit der Frage, wer über die DDR erzählen darf – am Berliner Ensemble passiert das hinter einer semitransparenten Folie, chorisch, iterativ.

Karin (Amelie Willberg) ist 16 und lebt mit ihrer Oma, ihren Eltern und ihrer deutlich jüngeren Schwester, auf die sie ständig aufpassen muss, zusammen. Der Vater fehlt in der Bühnenfassung der Regie kurzerhand direkt, ist er doch auch im Roman emotional abwesender Alkoholiker, dafür brilliert Kathleen Morgeneyer als neurotische und depressive Mutter. Die Oma (Rahel Ohm) trauert ihrer Zeit als Blitzmädel hinterher. In der Familie werden auf der Bühne aus weißen Stoffbahnen, die von oben an einer senk- und kippbaren Plexiglasplatte hängen (Bühne Sabine Mäder), als inszenatorisches Zeichen vor allem Kartoffeln und Äpfel geschält. 
Diese DDR 1976, das Jahr von Biermanns Ausreise, ist aus Papierstreifen, sie ist bereits fragil, auch an bürokratische Papiere lässt sich denken. Im Bühnenbild von Sabine Mäder können die Figuren wie Schatten auftauchen, Farben gibt es keine. Bis auf die realistischen Kostüme (Luisa Wandschneider), Karin in Blau, ihre beste Freundin Marie (Irina Sulaver) – die zu Karin gehört „wie ihr Gesicht“ – in Rot.

Amelie Willberg spielt Karin geheimnisvoll, trotzig und energisch. Sie schweigt viel, auch aus Überforderung, wenn ihre Eltern ihr immer wieder sagen, es sei nur wichtig, immer die Wahrheit zu sagen und Karin gleichzeitig doch von so vielen Geheimnissen umgeben ist. Karin wird alleingelassen. Von ihrer ersten großen Liebe, von ihrer emotional instabilen Mutter und auch von Marie, die nach Berlin gehen will, um nicht das gleiche zu machen, wie alle anderen Mädchen aus der Klasse, sondern um etwas zu werden: die erste Frau auf dem Mond.

Bis der Stasimann Wickwalz (Paul Herwig) auftaucht und beginnt, Fragen zu stellen. Er ist charismatisch, glatt, charmant. Weil er Karin zuhört, wenn es sonst niemand tut, knüpft sich ein zartes Band, gefördert durch Zigaretten und Bier zwischen beiden. Und Karin, deren Stasiname auch Komma wird, begibt sich in das Dazwischen, für das auch ihr Name steht. Zwischen Wahrheit und Lüge, zwischen Schweigen und Sprechen und zwischen verschiedenen Loyalitäten. Ihrer Freundin und ihrer Familie gegenüber einerseits und dem Staat und dem Wahrheitsideal auf der anderen Seite. Sie ist die Sollbruchstelle, das Dazwischen: emotional, entwicklungspsychologisch im Dazwischen von Kind und Erwachsensein und auch historisch in einer bereits erodierenden DDR.

Als Karin zunehmend in Bedrängnis gerät, kann die Bühne drückend auf sie herabgesenkt werden. Ihr Handlungsspielraum wird klein, bis Karin aus dieser emotionalen Enge nur eine Lösung weiß und selbst den Stasimann verrät. Man kann Karin als eine Verführbare sehen, Amelie Willberg legt sie richtigerweise als eine überforderte, einsame Person an, die ihre Bedürfnisse nicht kommunizieren, ihre Gefühle nicht einsortieren kann, bis diese sich ungehalten Bahn brechen: Das schafft ein Spektrum zwischen Sätzen wie „Schnurzpiepe ist ne richtig feine Haltung“ und emotionalen Eruptionen. Sowohl zwischen Marie und Karin als auch zwischen Pauls Freund Rühle und Marie, der gemeinsam mit Paul vor dessen Verschwinden bei der Wismut im Schacht gearbeitet hat, obwohl Paul eigentlich Künstler werden wollte, entstehen zarte Verbindungen. Gabriel Schneider spielt diesen Rühle, der nicht mit Paul rübergemacht hat, ebenfalls mit einem Geheimnis, deutlich körperlich. Zeit- und Ortsmarker werden in dieser schwarz-weißen DDR zart und subtil gesetzt, Fakten über die Bodenschätze, kleine Requisiten wie die Sibylle.

Musik (Fabian Kuss) gibt es nur wenig, und wenn, dann ist es ein Dröhnen, Gluckern. Leonie Rebentisch abstrahiert etwas von der Konkretion des Romans, findet inszenatorische Lösungen, die effizient sind und die Spannung erhalten. Beide, Gneuß und Rebentisch, erzählen souverän von einem Land, in dem beide nicht gelebt haben, und setzen in der Debatte um post-ostdeutsche Deutungen neue Impulse. Die Inszenierung bleibt nah am Roman, ist kurzweilig und behält die beeindruckende handwerkliche Genauigkeit von Gneuß’ Sprache bei. 

Erschienen am 7.11.2024

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