Auftritt
Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau: Ost-Rock zwischen Lebenslust und Melancholie
„Straße der Besten“ von Amina Gusner und Heiko Senst (UA) – Regie Amina Gusner, Ausstattung Inken Gusner, Musikalische Leitung Martin Hybler, Choreografie Enrico Paglialunga
von Michael Bartsch
Erschienen in: Theater der Zeit: Bühne & Film – Superstar aus Neustrelitz (01/2023)
Assoziationen: Sachsen Theaterkritiken Gerhart-Hauptmann-Theater Zittau
Es dauerte keine Minute nach Vorstellungsbeginn, da klatschte das Publikum im ausverkauften Zittauer Gerhart-Hauptmann-Theater schon mit. „Wenn ein Mensch lange Zeit lebt“ der Puhdys animiert gelernte Ossis nun einmal unwiderstehlich. Und nach zweieinhalb Stunden sprang der Saal sofort auf und entließ Band und singende Schauspieler:innen erst nach der dritten Zugabe. Dabei saßen in den viel zu bequemen Sesseln, wohlunterschieden von den klassischen DDR-Stühlen auf der Bühne, nicht nur heimatlos gewordene Ostalgiker:innen der Generation Ü50, sondern auch jugendliche Liebhaber:innen der zeitlosen S 51-Mopeds aus Suhl.
Wäre dieser Liederabend im „Deutschland, Deutschland!“ übertitelten-Spielzeitplan des GHT Görlitz-Zittau nicht längst vorgesehen gewesen, hätte man meinen können, er werbe um derzeit zögernde Zuschauer:innen. Um solche, die möglicherweise gerade jetzt an eine limitierte, aber stabile Ära ohne Krieg vor 1990 zurückdenken und nicht noch weiter verunsichert werden wollen. Text und Inszenierung von Amina Gusner holen zwar die sozialistischen Verhältnisse des Jahres 1979 zurück auf die Bühne. Die aber wirken nicht antiquiert, sondern sogar sehr authentisch und lebendig, zumal die Konflikte nicht beschönigt werden. Denn das angeblich untergegangene Teilland existiert sehr wohl weiter, und nicht nur in der Erinnerung.
Wie geht man eine späte Lektion Heimatkunde an – in der DDR ein Schulpflichtfach – dessen bildende und verbindende Aspekte heute von den Nationalisten mit verquasten Identitätsdebatten instrumentalisiert werden? Die DDR-sozialisierte Schauspielerin, Autorin und spätere Schauspielleiterin in Gera/Altenburg Amina Gusner und Koautor Heiko Senst finden einen passenden Rahmen und einen Aufhänger. Für die sechs Spieler:innen wirkt die Kneipen- oder Kulturhausbühne in Zittau mit Vierertischen fast ein bisschen zu groß und zu leer. Anders als im prallen und dichten Gemälde „Brigadefeier“ von Sighard Gille, an das dankenswerterweise das Programmheft erinnert.
Als historische Krücke, aber nicht unbedingt authentisch erscheinen das Honecker-Bild, die Losung „Arbeit mit, plane mit, regiere mit“ oder die Wandzeitung der „Straße der Besten“. Denn dort, wo die Sause stattfand, hingen solche Aufmunterungen im Kampf um die Planerfüllung in der Regel nicht mehr. Verschenkte Chance am Rande: Der proletarische Witz drehte damals auch selbstironisch manche Losung um. „So, wie wir heute leben, werden wir morgen arbeiten müssen“, hieß es dann gerade beim Prasdnik. So gesehen wirkte die Aufzählung von Standardwitzen, die spätestens postum noch fast jede:r Bürger:in des Beitrittsgebietes gelernt hat, ein bisschen platt.
Zunehmend mit Flaschen und Gläsern füllen sich aber die Tische. Denn es geht in jeglicher Hinsicht alles andere als trocken zu. Nicht nur darin unterschieden sich Betriebs- und Brigadefeiern von heutigen neudeutsch als „Come together“ oder Incentive-Party bezeichneten Geselligkeitsversuchen. Hier erwies sich auch der Betriebsdirektor als ein manchmal sehr gewöhnlicher Mensch, rutschte auch dem Parteisekretär die Hose, war das Oben und Unten der Diktatur an der Theke aufgehoben. Im Stück ist es die „rote Inge“ als Parteisekretärin, die plötzlich mit dem allzumenschlichen Partner- und Kinderknatsch zu kämpfen hat.
Diese Atmosphäre wird sehr genau widergespiegelt. In die Brigadefeier von 1979 platzt dann wie durch den Time-Tunnel gefallen der damals kaum pubertierende Gordon, Sohn des Brigadiers Gerri. Eigentlich kommt er aus der Gegenwart und hat soeben vom Tod von „Vati“ erfahren, mit dem er schon nicht mehr so eng war. Wie in einem Traum ruft er sich plötzlich jenen Brigadeabend in Erinnerung, als er von Mama geschickt wurde, den Vati abzuholen, „solange er noch laufen kann“. Unverhofft steckt er dann als Teilnehmer des Festes mittendrin, versucht sich zu orientieren, wird zum Gewissen der Arbeiterinnen und Arbeiter. Vor dieser Folie lässt sich dann eine Show des Ostrocks zum Betriebsfest präsentieren, die mit dem handfest-proletarischen Milieu korrespondiert. Diese oft balladenartigen Songs, wird einem beim Wiederhören bewusst, tragen dabei durchaus poetische Züge, ohne in eine Scheinwelt und schon gar nicht in eine Geldscheinwelt zu flüchten.
Gordon, auf dem Zeitstrahl Jahrzehnte voraus, warnt nicht nur vor künftigem Konkurrenzverhalten, das Gemeinschaft kaum noch kennt, während er andererseits mit dem „Westhandy“ ein Foto schießt. Im Rückblick auf seine Kindheit bekommt er natürlich mit, dass in dieser Erwachsenenwelt nicht nur im Produktionsablauf manches nicht stimmt. Den eigenen Vati erlebt er durchaus als Patriarchen, und die drei wunderbaren Frauen zahlen für ihre sozialistische Emanzipation gegenüber dem Problemgeschlecht auch einen Preis. Xenia Wolfgramm als Parteisekretärin Inge, Martha Pohla als die Individualistin Rita und Aleksandra Kienitz als Anja singen und spielen hinreißend und selbstbewusst.
Kein Problemmann ist der ausgleichende Fred, das älteste Brigademitglied, der noch als Soldat in den zweiten Weltkrieg musste. Er heißt nicht nur mit bürgerlichem Namen Jürgen Bierfreund, er ist es auf der Bühne auch. Zu den eigentlichen Helden des Abends avancieren Ko-Autor Heiko Senst und Schauspieldirektor Ingo Putz. Zuvor schon hatte die Zittauer Schauspielsparte den Ausfall von Maria Weber wegen Corona zu verkraften. Dann mussten auch noch krankheitshalber Vater und Sohn, mithin die beiden Hauptrollen kapitulieren. Senst sprang kurzfristig als Vati Gerri ein, Putz zwei Tage vor der Premiere, um sie auf jeden Fall zu retten!
Unfassbar, wie beide nicht nur die Textfülle bewältigten, sondern das Publikum kaum spüren ließen, dass es sich nicht um eine lange geprobte schauspielerische Leistung handelte. Und wenn, dann mit einem so originellen Einfall, wie den Karussell-Text „Fischlein unterm Eis“ von der Verpackung einer Schlager-Süßtafel abzulesen. Musik, Musik, Musik, eine existenziellere und anspruchsvollere als heute gewohnt. Der in Prag tätige promovierte Universalmusikant Martin Hybler hat auch die Hälfte seiner exzellenten Band aus Tschechien mitgebracht. Dazu als Publikumsliebling die Geigerin Jana Kubánková, die nicht nur über eine funkelnde Technik verfügt, sondern vor allem das Feeling für den Rock intus hat. Dem legendären Violinsolo in City´s „Am Fenster“ gewann sie ganz eigene Noten ab.
Diesen Aufenthalt in einer Art biografischer Wärmestube darf man getrost einmal an sich heranlassen, zumal keine penetrante Ostalgie zelebriert wird. Vermutlich kann eine solch authentische, zwischen Lebensfreude und Melancholie pendelnde Atmosphäre auch nur in einer Kleinstadt wie Zittau rekonstruiert werden, in der sich Erinnerungen an ein weniger anonymes Milieu als heute länger halten.