Theater der Zeit

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Grenzenlose politische Theaterkunst

Laudatio zum Martin-Linzer-Theaterpreis 2021 für das Stuttgarter Autor:innentheater Rampe

von Elisabeth Maier

Erschienen in: Theater der Zeit: Der Untergang des russischen Theaters (10/2022)

Assoziationen: Freie Szene Baden-Württemberg Theater Rampe

„Who run the world / Die Apokalypse nach Lilith", Regie Marie Bues, 2018. Foto Alex Wunsch
„Who run the world / Die Apokalypse nach Lilith", Regie Marie Bues, 2018.Foto: Alex Wunsch

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In Zeiten der Krise sind die Stimmen der Autor:innen im Theater wichtiger denn je. Sie bringen nicht allein wichtige Stoffe der Zeit auf die Bühne. Ihre Aufgabe ist es, dem Theater seinen Platz im Herzen der Gesellschaft zu sichern. Längst hat die neue Dramatik an den Theatern nicht nur in Deutschland ihren festen Platz. Ausbildungsgänge und Stipendien fördern künstlerische Karrieren. Dennoch tun sich viele Autor:innen schwer, langfristig am Theater Fuß zu fassen. Für die Entwicklung und Pflege neuer Stücke, aber auch für die Vielstimmigkeit im Theater, gibt das Stuttgarter Autor:innentheater Rampe wichtige Impulse – und das seit Jahrzehnten. Dieses besondere Profil zeichnet die Fachzeitschrift Theater der Zeit mit dem Martin-Linzer-Preis aus.

Der langjährige Kritiker und Chefredakteur von Theater der Zeit drängte sich in der Konkurrenz der Premieren nicht nach den großen Häusern. Er fuhr lieber ins brandenburgische Hinterland nach Senftenberg als nach Hamburg, um dort Theater-Neuland zu entdecken. Gerade die freie Szene und politisches Theater hatte er stets im Blick. In diesem Sinne steht das Theater Rampe, das sein Domizil im Stuttgarter Zahnradbahnhof hat, für ein offenes, multikulturelles Haus. Jeden Abend rollt die „Zacke“ in das Gebäude auf ihren Parkplatz. Dann kommt das Theaterpublikum. Die ästhetischen Konzepte, Stückentwicklungen und Uraufführungen neuer Texte wirken ebenso ins Stuttgarter Marienviertel wie in die deutsche Theaterszene hinein.

Als Studierendenbühne haben Regula Gerber und Alexander Seer das Theater 1984 gegründet. Seit damals steht das Haus für ein neugieriges, junges Theater. 1998 übernahm Eva Hosemann die Intendanz. Die Schauspielerin schärfte das Profil als Autor:innentheater. Neue Dramatik zu entwickeln und dem Publikum zu vermitteln, war ihr Ziel. Als Marie Bues und Martina Grohmann die Leitung des Theaters Rampe im Jahr 2013 übernahmen, traten sie mit einem noch ehrgeizigeren Ziel an.

„Uns geht es darum, den Autor:innenbegriff zu erweitern“, brachten die Intendantinnen damals ihr Konzept auf den Punkt. Dabei dachten die Regisseurin Bues und die Dramaturgin Grohmann auch die Theaterästhetik radikal neu. Auf den Weg vom klassischen Schauspielertheater zur Performance haben sie das Publikum mitgenommen. Dabei war ihr Horizont stets international ausgerichtet. Im Projekt „Kongo Müller“ konfrontierten der Regisseur Jan-Christoph Gockel und der Performer Laurenz Leky die Zuschauer mit der deutschen Kolonialherrschaft und ihren Schergen. Das politische Projekt sprengte die Grenzen der Theaterkunst. Videobilder von der blutigen Realität in der Republik, in der die Theatermacher selbst mit Spieler:innen gearbeitet haben, sorgten für dokumentarische Dichte. Fördermittel, die Martina Grohmann und ihr Team mit unermüdlichem Einsatz eingetrieben haben, machen diese und andere Avantgarde-Kunst immer wieder möglich.

Den Menschen eine Stimme geben, die in der globalisierten Wirklichkeit ungehört bleiben. Das zeichnet das gesellschaftspolitische Konzept des Theaters Rampe aus. Mit den künstlerischen Leiterinnen Tanja Krone und Wanja Saatkamp ließen sie den Stuttgarter Vagabundenkongress aufleben, der 1929 die schwä­bische Großstadt aufgerüttelt hat. Hundert Jahre zuvor kamen Landstreicher und freie Künstler:innen, dachten über neue Lebensformen nach. 2019 diskutierten Wissenschaftler:innen und Künstler:innen aus aller Welt im begrünten Hof der Stuttgarter Bühne miteinander. Das Publikum nutzte die Chance, sich auszutauschen. Mit ihrer kommunikativen, weltoffenen Art begeistern die Theatermacher:innen Akteure aus ganz unterschiedlichen ­Lebenswelten.

In ihrer täglichen Arbeit leben die Intendantinnen Teamgeist. Den Theater- und Tanzensembles, die seit Jahren am Haus arbeiten, öffnen sie Räume. Schön lässt sich diese vorbildliche Leitungskultur an der langjährigen Zusammenarbeit mit dem Theaterkollektiv Bernhard Herbordt und Melanie Mohren zeigen. 2015 haben die beiden mit ihrem Kollektiv in Michelbach an der Lücke ein ganzes Dorf inszeniert. Von der Bläsergruppe des Musikvereins über die lokale Gastwirtschaft wirkten unzählige Menschen mit, die das Leben in der Gemeinde mit knapp 900 Einwohnern prägen. Im Bus reisten die Theaterbesucher:innen aus Stuttgart an, um hinter die Kulissen der Dorfgemeinschaft zu blicken. Die Zusammenarbeit mit Herbordt/Mohren zeigt, dass es dem Theater Rampe um Nachhaltigkeit geht. In einer ruhigen Wohnstraße, wenige Gehminuten vom quirligen Marienplatz entfernt, hat es Die Institution gegründet. Im Untergeschoss dieses Wohnhauses wurde ein „lebendes Theaterarchiv“ eingerichtet. Dort werden ­regelmäßig neue Formate erprobt.

Nach der Corona-Krise, da viele Bühnen über Publikumsschwund klagen, wagt das Theater Rampe immer wieder Neues. Mal haben die Theatermacher:innen ein theatrales Spielcasino mitten in die Stadt gestellt. Das partizipative Glücksspiel-Projekt zog ganz neue Publikumsschichten an. Das gilt auch für das „­Theatre of The Long Now“, das die Landschaftsarchitekten ­Hannes Schwertfeger und Oliver Storz initiiert haben. Bei den ­sanierten Wagenhallen am Stuttgarter Nordbahnhof haben sie ein wildes Wiesenstück als Naturbühne auserkoren. Wie entfaltet sich die unberührte Natur in 100 Jahren? Diese Frage untersuchen sie mit den Gästen, die zu den Performances und Gesprächen kommen. Mit einem QR-Code lässt sich das Kulturprogramm unter freiem Himmel auch jenseits der Spielzeiten entdecken.

Mitten in den Lockdowns hat es das Rampe-Team geschafft, ein Volkstheater zu gründen. Die Jugendlichen, Männer und Frauen kommen aus unterschiedlichen Kulturen. Es sind Menschen aus der Nachbarschaft, die ihr Leben im Marienviertel mit den Mitteln der Theaterkunst neu entdecken. Mit dem eigenen Smartphone führten die Spieler:innen jeweils einen Gast in die Hinterhöfe und an die historischen Schauplätze. Aber auch der Verfall der Kneipenkultur und die Einsamkeit der Menschen in Mietshäusern waren Thema. Als keine öffentlichen Veranstaltungen mehr möglich waren, kommunizierten Performer:innen und Spieler:innen vom heimischen Sofa aus.

Solche Impulse aus der Gesellschaft befruchten die neue Dramatik. Denn das ist nach wie vor Herzstück des Autor:in­nen­theaters Rampe. Marie Bues, die sich inzwischen aus der Intendanz zurückgezogen hat, führt als freie Regisseurin neue Stücke auf. Da setzt das Theater Rampe auf Kooperationen mit dem Staatstheater Saarbrücken, dem Nationaltheater Mannheim, dem Theater Basel, dem Staatstheater Hannover und anderen Häusern. Autor:innen wie Kathrin Röggla, Thomas Köck, Felicia Zeller, Katja Brunner hat die Regisseurin auf die Bühne gebracht. Ihr bilderstarkes Theater übersetzt die Texte in die Wahrnehmungsmuster des 21. Jahrhunderts. Zugleich verliert Bues nie die Tiefenschärfe der Sprache aus dem Blick. Das brachte Einladungen zum Heidelberger Stückemarkt, zu den Mülheimer Dramatikertagen und zu den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in Berlin.

Wenn die Intendanz von Martina Grohmann und Marie Bues nun im Juli 2023 nach zehn Jahren endet, ist das Theater Rampe als Stadtraum-Theater etabliert. In mehrfacher Hinsicht hat die freie Bühne Schauspiel, Tanz und Figurentheater ins Blickfeld jener Menschen gerückt, die sich früher wohl kaum eine Theaterkarte gekauft hätten. Für politisches Theater steht die Bühne ebenso wie für die Lust am künstlerischen Experiment. Mit der finanziellen Ausstattung von Stadt und Land, aber auch mit Drittmitteln, hat das Haus bedeutende Projekte möglich gemacht.

Die Kooperation mit großen Häusern in ganz Deutschland und der Schweiz verwischt Grenzen zwischen der freien Szene und dem Staats- oder Stadttheaterbetrieb. Auch da hat das Rampe-Team Barrieren in den Köpfen abgebaut. Der Martin-Linzer-Preis würdigt ihr wegweisendes Konzept, nicht allein anspruchsvolles Theater in die Stadt zu tragen. In dem Produktionshaus findet die künstlerische Avantgarde eine Heimat, ein Experimentierfeld und ein neugieriges Publikum. Bues und Grohmann setzen ihre ­Arbeit nun am Schauspielhaus Wien fort. In Stuttgart übernehmen Bastian Sistig und Ilona Schaal das Ruder. Sie wollen das Autor:innentheater noch stärker als bisher den Menschen öffnen, die weniger Zugang zur Bildung haben. Auch für ihren Neu­anfang soll der Linzer-Preis für das Theater Rampe Ermutigung und Anreiz sein. // Stuttgart, 30. September 2022

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