Gedanken zur Porosität
von Azadeh Sharifi
Erschienen in: Zeitgenoss*in Gorki – Zwischenrufe (03/2023)
Porosität bezeichnet in der Geowissenschaft das Verhältnis des Volumens aller Hohlräume eines porösen Bodens oder Gesteins zu dessen äußerem Volumen. Walter Benjamin hat das Denkbild der Porosität geprägt, die er in einer Reflexion der neapolitanischen Architektur und ihrer sozialen Umgebung entwickelte. Das poröse Gestein sei gefüllt mit dem Leben der Menschen, die selbst den speziellen Charakter des Gesteins prägen: „In allen wahrt man den Spielraum, der es befähigt, Schauplatz neuer unvorhergesehener Konstellationen zu werden. Man meidet das Definitive, Geprägte. Keine Situation erscheint so, wie sie ist, für immer gedacht, keine Gestalt behauptet ihr ‚so und nicht anders‘.“
In dieser urbanen Denkfigur entfaltet sich für mich die ästhetische und politische Wirkmächtigkeit des postmigrantischen Theaters. Mit dem Begriff Porosität verstehe ich nicht nur, wie das postmigrantische Theaters den Hohlraum (das Fehlen anderer Stimmen und Perspektiven) des Theaters in seiner bis dahin deutschen Tradierung sichtbar (und messbar) gemacht hat. Mit der Porosität im Benjamin’schen Sinn verstehe ich das Zusammenspiel des künstlerischen Materials, der Form (des Formats) und des gesellschaftlich-künstlerischen Raums des postmigrantischen Theaters. Darin manifestiert sich die Suchbewegung, die das Definitive meidet und keine endgültige Gestalt annimmt. Das postmigrantische Theater ist mehr als nur die Summe seiner Theaterstücke, seiner Künstler*innen und theatralen Diskurse....