Thema
Critical Puppetry
Der persönliche Standpunkt von Puppenspieler*innen und die Konstruktion von „Race“ in „Chang and Eng and Me (and Me)“
Der britische Wissenschaftler, Theatermacher und Puppenspieler Tobi Poster-Su arbeitet gerade an seiner Dissertation über „Rassifizierung und Material-Performances im 21. Jahrhundert“. Für double erarbeitete er eine Kurzform eines bereits bestehenden Artikels1.
von Mascha Erbelding und Tobi Poster-Su
Erschienen in: double 47: Puppets of Color – Postkoloniale und antirassistische Ansätze im Figurentheater (04/2023)
Als ein britisch-chinesisches Kind, das in den 1980er- und 1990er-Jahren in Großbritannien aufwuchs, sah ich auf der Bühne nie ost-asiatische Charaktere, die von Menschen gespielt wurden, die wie ich aussahen. Oft wurden sie von Puppen dargestellt, die von weißen Puppenspieler*innen animiert wurden, oder seltener durch weiße geschminkte Schauspieler*innen. Solange ich mich erinnern kann, war ich von den verzerrten Konstruktionen meiner Identität umgeben, denen rassifizierte Menschen so häufig von den Produktionen der Mainstream-Kultur ausgesetzt sind.
Dorinne Kondo (2018)2 stellt die These auf, dass Theater ein zentraler Ort für die Konstruktion, Reproduktion und Entschlüsselung von rassistischen Ideologien ist, weil es die Möglichkeit bietet, „Rasse“ sowohl zu erschaffen als auch aufzuheben. Ich behaupte, dass insbesondere das Puppenspiel dank seiner notwendigen Prozesse der Konstruktion und der Manipulation von Material, besondere, einzigartige Möglichkeiten bietet, soziale Konstruktionen von Identität infrage zu stellen und zu durchbrechen. Gerade weil sein ästhetisches Vokabular auf Übertreibungen fußt und weil es Objekte verwendet um Menschen darzustellen, argumentiere ich, dass Puppenspiel gleichzeitig spezielle Möglichkeiten für die Reproduktion und Wiedereinschreibung von Rassen-Stereotypen und hegemonialen Rasse-Ideologien bietet.
Wenn das der Fall ist, dann gibt es eine klare Notwendigkeit sich intensiver mit der „Rassenpolitik“ des Puppenspiels auseinanderzusetzen, etwas, das bis vor kurzem nur wenig wissenschaftliche Aufmerksamkeit fand. Mit dieser Forderung verbinde ich das Bedürfnis nach dem, was ich „Critical puppetry“ nenne. „Critical puppetry“ ist ein theoretischer Rahmen und verkörperte Praxis, in der Puppenspiel genutzt wird, um politisch konstruierte Identitäten zu kritisieren und ihnen zu widerstehen.
In diesem Artikel werde ich die Idee der „Critical puppetry“ erklären, indem ich meine kurze Online-Performance „Chang and Eng and Me (and Me)“3 diskutiere, die sich mit den Leben der Chinesisch-Siamesischen Zwillinge Chang and Eng Bunker beschäftigt, die den Begriff der „Siamesischen Zwillinge“ prägten, und die auf Tournee in die USA verschickt wurden und sich dort niederließen. Yunte Huang (2018)4 weist darauf hin, dass Chang und Eng, die kurz vor größeren Einwanderungsbewegungen aus China in die USA kamen, bei der Ausformung einer Asiatisch-Amerikanischen Identität sehr präsent waren.
An dieser Stelle werde ich einen Zugang zum Puppenspiel vorstellen, der die Machtdynamik zwischen Puppenspieler*innen und den Charakteren, die sie darstellen, anerkennt und erforscht.
Sichtbarer Standpunkt der Puppenspieler*innen
Weil es die Machtdynamiken, die im Akt der theatralen Darstellung stecken, verkörpert, kann Puppenspiel das Potenzial bieten, den kreativen Akt produktiv zu problematisieren. Ich denke, dass Puppenspieler*innen sich dafür selbst in diesem Rahmen offenbaren müssen, nicht nur körperlich, sondern auch, was ihren eigenen Standpunkt betrifft – das bedeutet, ihre eigene spezifische Beziehung zu den Menschen und dem Material, mit dem sie arbeiten, zu reflektieren, indem sie die bestehenden Strukturen von Macht und Privilegien miteinbeziehen.
Um diese Idee des sichtbaren Standpunktes der Puppenspieler*innen zu erforschen, präsentiere ich zwei alternative Deutungen des ersten Auftritts der Puppen, die Chang und Eng darstellen. Diese zweifache Deutung ist eine Schlüsselkomponente von „Critical puppetry“. Wenn die Aufmerksamkeit auf die Mechanismen der Repräsentation gelenkt wird, erlaubt uns das zu sehen, wie Puppenspiel Machtbeziehungen innerhalb dieser Darstellungen lesbar machen kann.
Auf dem Tisch ist ein großer Lehmblock. Hinter dem Tisch sind meine Arme, von den Schultern bis zu den Händen sichtbar. Ich ziehe Lehmbrocken heraus und fange an, daraus eine kleine liegende menschliche Gestalt zu formen. Ich stelle die Glieder fertig und hebe die Figur sanft auf, bevor ich sie am weiter entfernten Tischende ablege. Ich wiederhole den Vorgang mit einer zweiten Figur, ziehe sie in eine sitzende Position hoch und positioniere sanft den Kopf neu, bevor ich die Figur wieder hinlege. Ich positioniere die beiden Gestalten nebeneinander, lege einen Arm von jeder um die andere. Es ist ein intimes Arrangement von Körpern.
Diese Lesart lässt jede Überlegung zu den Charakteren und Handlungen, die die Puppen selbst andeuten, weg. Eine Deutung, die sich den dramatischen und narrative Rollen der Figuren zuwendet, läse sich vielleicht so:
Chang und Eng beginnen ihre Existenz und treten aus einem Lehmblock hervor. Eng nimmt zuerst Form an, zunächst der Kopf und die Schultern, am Ende seine Füße. Noch leblos wird er sanft auf die andere Seite der Bühne gelegt, um der Erschaffung seines Bruders Chang Platz zu machen, der ebenfalls von oben nach unten geformt wird. Als er fertiggestellt ist, setzt sich Chang auf und schaut um sich herum, probiert die Bewegung seines Arms aus. Chang legt sich wieder hin und Eng setzt sich nun auf und probiert die Bewegungen seiner Glieder aus, bevor er sich hinlegt. Die Zwillinge werden zueinander bewegt; Eng schlingt den Arm um Changs Taille und Chang legt seinen Arm um Engs Schultern. Die Geste sieht zärtlich und vertraut aus.
Ich habe mit einer Deutung begonnen, die sich auf die ästhetischen Mechanismen der Szene und die Rolle des Puppenspielers fokussiert und danach eine Lesart gezeigt, die Charaktere und Narrative hervorhebt. Normalerweise herrscht im Puppentheater die Charakter-orientierte Deutung vor, aber eine Annäherung im Sinne der „Critical puppetry“ erfordert mehr Aufmerksamkeit für die Bedeutungsschichten, die durch die Form und Mechanik des Puppenspiels erzeugt werden. Wenn die Szene mit einem Lehmblock eröffnet wird, stellt das die Materialität und die Konstruiertheit der Puppen in den Vordergrund, und wir werden mehr Zeugen einer Konstruktion als einer Animation. Es spricht also wenig dafür, die Puppen ausschließlich als die Figuren von Chang und Eng zu sehen. Im Umkehrschluss kann die Sequenz aber auch nicht ausschließlich als Akt der Konstruktion gesehen werden. Die anthropomorphen Formen, die Verletzlichkeit des Materials und die Sorgfalt des Puppenspielers machen die Vorstellung, dass es sich hier nur um die Erschaffung einer Skulptur handelt, schwierig. In der Tat ist es möglich, ein doppeltes Potenzial in den Figuren von Chang und Eng zu lesen: Sie sind offensichtlich konstruiert und gleichzeitig mit einer Art von Subjektivität ausgestattet.
Strategien für den Widerstand
Wenn man diese Szene durch die Linse der „Critical puppetry“ betrachtet, versteht man, dass die Form des Puppenspiels benutzt wird, um die Autorenschaft sichtbar zu machen. Anstatt dem Publikum Chang und Eng als authentische historische Figuren zu zeigen, macht der Einsatz von Puppenspiel deutlich, dass das Publikum konstruierte Bilder von Chang und Eng sieht, die mit spezifischen künstlerischen und thematischen Zielen eingesetzt werden. In Kombination mit den Überlegungen des Textes über die Beschaffenheit und Erfahrung von diasporischer Identität kann das auf die Vorstellung hinweisen, dass Identitäten konstruiert und permanent neugestaltet werden und nicht fest und angeboren sind. Die Art, in der die Puppen gebaut und umgestaltet werden, könnte darauf verweisen, dass diejenigen, die als Teil der rassifizierten Diaspora existieren, Identitäten unterworfen sind, die mit Gewalt und mit dem Ziel des Zwangs und der Kontrolle konstruiert werden. Es ist meine Hoffnung, dass Puppenspiel, indem es das Potenzial von kultureller Produktion zu zwangsweise konstruierten Identitäten sichtbar macht, auch Strategien für einen Widerstand dagegen bieten kann. – tobipostersu.com –
1 Reprinted with permission from the author. Some text originally published in Critical Stages/ Scènes critiques (www.critical-stages.org) Poster-Su, T. “Sculpting China: Critical Puppetry and the Formation of Diasporic Identity in Chang and Eng and Me (and Me)”, no. 24. 2021.
2 Kondo, Dorinne K. Worldmaking: Race, Performance, and the Work of Creativity. Duke University Press, 2018.
3 Poster-Su, Tobi. Chang and Eng and Me (and Me). 2021. Online abrufbar auf Vimeo: http://vimeo.com/wattleanddaub/cemm.
4 Huang, Yunte. Inseparable: The Original Siamese Twins and Their Rendezvous with American History. Liveright, 2018.
Aus dem Englischen von Mascha Erbelding